Die Ästhetik

Vorher: Der Weg

Abgrenzender Waldrand @ Georges Scherrer

Gestern wie heute gewähren die Wälder keinen Durchblick. Sie stehen vielmehr als ein Wall aus Holz und Blättern, jetzt wie möglicherweise auch damals, um das Gelände, auf welchem die Felskolosse und Steinzwerge ihr Geheimnis wahren. Der dicht mit Stämmen und Gestrüpp bestellte Waldrand bildet deutliche und unübersehbare Grenzen.

Die eben angeführte Beobachtung könnte dahin führen, zu erklären, dass den in der späten Frühgeschichte anzusiedelnden Erbauern der berühmten Steinfliessen nichts daran lag, mit Wald ihr Werk zu umgeben. Denn solch einzäunendes Weidwerk aus endlosen, ungeordneten Baumreihen und wildwachsendem Buschgewirk hätte den Ort zu sehr an die Geschlossenheit, an das Eingeschlossen-Sein von Gräbern gemahnt, die für den Tod und dessen vollkommene Undurchsichtigkeit stehen.

Dolmen – die Macht der Masse @ Georges Scherrer

Wenn schon gleichen die Steinfluchten über die Ebene von Carnac, welche für einen Moment in das schmächtige Tal von Kerloquet abtauchen, Baumalleen, die im Frankreich von heute traditionsgemäss viele Strassen säumen, sei es als ästhetische Anordnungen, die der Gartenarchitektur von prunkvollen, verspielten, königlichen Parkanlagen abgeguckt wurden, oder sei es als Windbrecher.

Richtungsgebende Allee @ Georges Scherrer

Die Spötter können bereits wieder von ihren Stühlen aufjucken, im Moment, wo sie diese Zeilen lesen und klugfrech anmerken: Carnac war Beispielgeber für die Gärten von Versailles. Oder umgekehrt: Der Garten von Versailles bot mit seinen dahineilenden Baumreihen und Wasserspielen die Vorlage für den Herrscher von Carnac, der sechstausend Jahre vor den französischen Königen über die Geschicke der Sippschaften in der Bretagne waltete – so viel wieder einmal in diesem Traktat über die Spötter. Über ihre Bemerkung sei klugstumm hinweggesehen.

An einer Wegkreuzung stösst der Suchende auf jemanden ganz anderes.

Die Gartenanlage von Versailles sei dennoch klug und unbefangen für die Zwecke dieses Traktats herangezogen. Das weitläufige Lustgelände des Sonnenkönigs enthält ein in vollendeter Form gestaltetes Gartenlabyrinth. Zwischen den Bäumen und hohen Büschen lässt sich wundervoll das verwirrende und gleichzeitig belustigende Spiel des Versteckens betreiben.

Die am zwanglosen Geschehen Beteiligten eilen durch die verschiedenen Baumreihen und an Brunnen vorbei. An einer Wegkreuzung stösst der Suchende auf die Gesuchte oder dann ganz überraschend auf jemanden ganz anderes, der in den haushohen Hecken mit wildfremden Genossen und Genossinnen ebenfalls das Spiel „Husch und Hasch mich“ pflegt.

Pärke sind vielfältig gestaltet … @ Georges Scherrer

Das fremde Gesicht löst sofort grosse seelische Sorge und kurzzeitig Verstörung aus, Angst um verlorenes Liebesglück, das an anderer Stelle durch die Alleen irrt und eilt, Baumfluchten, die keine Übersicht gewähren. Solch gestandene Baumlabyrinthe verunsichern.

… und laden zum Versteckspiel ein @ Georges Scherrer

Ganz anders Carnac. Die Stätte, so wie sie sich heute präsentiert und vermutlich noch immer in grossen Zügen genau jenem Bild entspricht, das sie seit jeher, seit sechstausend Jahr bietet, gewährt aussergewöhnliche Durchblicke. Carnacs Linien dienen nicht dazu, Verwirrung zu stiften, sondern Klarheit. Und trotzdem lässt sich zwischen den vielen Steinblöcken ausgezeichnet Verstecken spielen.

Verwirrendes Farbenspiel im Park @ Georges Scherrer

Kinder können sowohl der Anlage in Versailles wie jener in Carnac ihren Scharm abgewinnen. Die vielen grossen und kleinen Steine bieten ausgezeichnete Versteck- und Klettermöglichkeiten. Kinder kennen in der Sache keine Berührungsängste. Die Alignements entfalten auf Buben und Mädchen ihre eigene Wirkung.

Spielplatz ohne Grenzen @ Georges Scherrer

Worin bestand diese Wirkung? Mit staunenden Kinderaugen werden die Dreikäsehochs und die etwas älteren Naseweise angeschaut haben, was sich da aufrichtete. Sie werden die neue Stätte weniger als eine denkwürdige Angelegenheit empfunden haben, sondern vielmehr als einen neuen, willkommenen, wunderschönen Spielplatz.

Bei jungen Paaren dürften die mäandernden Wege ähnliche Verwirrungen und Gefühle auslösen.

Kinder gehen mit einer ganz anderen Sichtweise als Erwachsene an das Wunder von Carnac heran; wie auch jene Halbwüchsigen, die, eine neue, zuerst eigenartige, wie fremd wirkende Wärme im eigenen Körper verspürend, welche ungewohnte Kräfte entfacht, sich pubertierend zwischen den Steingruppen herumtrieben.

Auf jene Jugendlichen, die sich auf einmal brennend und in erster Hingabe für das Geschlecht der Anderen interessierten, wird das Feld der Hinkelsteine ganz verschiedene Möglichkeiten des Zeitvertreibs eröffnet haben. Bei den jungen Paaren dürften die mäandernden Wege zwischen den Hinkelsteinen hindurch ähnliche Verwirrungen und Gefühle, Abbild des eigenen unsicher schwebenden, drängenden Zustands, ausgelöst haben wie die verschlungenen Pfade in den Gärten von Versailles bei jenen, die dort herumtollten.

Begegnungsort Carnac @ Georges Scherrer

Jeder, der in die Alignements hineintritt, auch heute, ist für einen Moment irritiert; nicht, weil ihn das Gefühl befällt, er befinde sich in einem Labyrinth. Er ist für den Augenblick desorientiert, weil die Linien, die er sieht, sich zwar schier unendlich und geradewegs geradeaus in die Länge ziehen und gleichzeitig in einem scharfen rechten Winkel nach den Seiten ausscheren. Diese arglose Dynamik wird aber durch eine weitere durchbrochen. Der Betrachter entdeckt ein Muster, das aus Diagonalen besteht.

Schon allein die variierenden Grössen der alten Gebilde regen zum genauen Hinschauen an.

Manövriert sich der staunend Stehende, das sind wir, sachte an den hoch aufragenden Steinen vorbei, ohne sich an ihnen die Haut aufzuschürfen, so dass er abgelenkt wird, eröffnen sich ihm mit jedem Schritt neue Einsichten in wechselnde Linien, die durch die verschiedenartigen Felsenstrukturen vorgegeben sind. Schon allein die variierenden Grössen der alten Gebilde, welche die geraden Streben der riesenhaften Anlage bilden, regen zum genauen Hinschauen an.

Blickt man nicht ausschliesslich geradeaus in die vorgezeichneten Bahnen hinein, sondern nimmt man auch die zahlreichen Querverbindungen ins Auge und stösst dabei auf diese überraschenden Diagonalen, dann keimen im Kopf mit der Zeit eigene, neue Überlegungen auf. Man staunt und fragt sich: In welchem Zusammenhang stehen die Verbindungen, die sichtbar werden? Was stellen diese Verbindungen dar?

Linien durchziehen das Land @ Georges Scherrer

Sichtbar wird, geometrisch und metaphysisch gesprochen, eine kuriose Mehrdimensionalität. Die Alignements stellen nicht nur geradeaus und querlaufende Linien dar, sondern, aufgrund der wechselnden Höhe der Scheitelpunkte der zahlreichen Steine, auch ein Schrumpfen und Wachsen der kantigen Silhouetten, die verschiedenen Reihen angehören. Es finden sich somit in diesem eigenartigen Steinmonument, das so viele Menschen an den Rand des kantenlosen Ozeans lockt, die lange Horizontale und die, wenn auch kurz gehaltene, aber doch deutlich durch die Menhire in die weite Landschaft gezeichnete Vertikale wieder.

Linien weisen die Richtung @ Georges Scherrer

Betrachtet man die riesige Ansammlung von Hinkelsteinen unter diesem frischen Ansatzpunkt, dann wird dem sinnenden Beobachter offenbar, dass sich hier ein vielschichtiges Gedankenspiel, besser: ein komplexes Spiel von aufspriessenden Gedanken formt.

Die fellbewehrten Steinzeitmenschen wussten nichts von Schleifsteinen.

Wie schon mehrfach in diesem Traktat betont: Wir sehen in Carnac heute das fertige Produkt und stehen in stillem Erstaunen vor diesem gigantischen Werk. Gleichzeitig vermessen wir uns, es anderen gewaltigen Bauwerken wie den ägyptischen Pyramiden gegenüber zu stellen, es an diesen historisch bedeutsamen Stätten zu messen, die nicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte, aber Jahrtausende später entstanden. Die Entwicklung der Baukunst war im Pharaonen-regierten Ägypten darum zeitbedingt um ein Mehrfaches ausgereifter als im Norden Europas.

Die fellbewehrten Steinzeitmenschen, welche das heutige Gelände von Carnac bevölkerten, wussten noch nichts von den Schleifsteinen, welche die Steinblöcke der Tempel am Nil polierten.

Spitze ägyptischer Baukunst @ Georges Scherrer

Die Steinzeitmenschen von Carnac haben ihr monumentales Werk mit Hilfe der geringen bautechnischen Kenntnisse errichtet, über die sie verfügten, und vermutlich auch mit solchen, die sie sich erst aufgrund von missratenen Versuchen und gescheiterten Ausführungen mühevoll erarbeiten mussten. Was wissen wir heute von dem, wie Carnac erbaut wurde?

Carnac war ein Meilenstein im gesellschaftlichen und technischen Entwicklungsverlauf der Menschheit.

Wir Menschen von heute, die mit dem Smartphone kommunizieren und die ihren Wagen, wenn sie ihn in einen Graben gefahren haben, durch eine Schleppvorrichtung wieder heraus holen lassen, ein Unfallfahrzeug, das in eine Wand fuhr, durch einen Abschleppfahrzeug wegbringen lassen, müssen uns ganz klar vor Augen halten: Jene Menschen standen am Beginn einer revolutionären Entwicklung, in der sich das gelenkte Denken aus dem visuell Bildhaften in Richtung einer intellektuellen Betrachtung der zu erforschenden Welt befand.

Der Mensch platzierte damals mit seinem Bau von Carnac nichts Geringeres als den Grundstein für eine bewusst reflektierte Entwicklung, welche den heutigen Standard der Technik überhaupt ermöglichte. Carnac war ein Meilenstein im gesellschaftlichen und technischen Entwicklungsverlauf der Menschheit.

Verkehrsknotenpunkt @ Georges Scherrer

Die Planer von Carnac konnten bei ihrer Arbeit auf keine Algebra oder Geometrie zurückgreifen. Solche Wissenschaften mussten erst aufgebaut und strukturiert werden. Die ingeniösen Entwickler der erfolgreichen Strategie zur Fertigstellung des dimensionenreichen Steindenkmals konnten nicht auf eine bestehende Tradition gigantischer Bauten zurückblicken. Die Erbauer der steinernen, zentnerschweren Handläufe mussten ihren Weg über die Ebene von Carnac selber finden.

Am Beeindruckendsten war für die holzlanzenbewehrten Eingeborenen, dass sie das Ende nicht sahen.

Das Aufrichten der ersten Steine wirkte wohl sehr beeindruckend auf die Ureinwohner, die dort hausten. Und noch beeindruckender wird es für diese gewesen sein, als den ersten Menhiren eine Unzahl weiterer folgte; ihre mit der Zeit unüberschaubare Anzahl schliesslich ein solch gigantisches Ausmass annahm, dass alles, was bisher bekannt war, in den Schatten gestellt wurde. Und am Beeindruckendsten, als die holzlanzenbewehrten Eingeborenen mit ihren linnengewandeten Frauen und den schreienden Kindern vor dem fertigen Wunderwerk standen, wird auf sie gewirkt haben, dass sie dessen Ende sie gar nicht sehen konnten.

Arbeiter, Führer und Vermesser sahen das Feld der Steine wachsen. Zu welchem Zeitpunkt wurden die Männer und Frauen selber von der unvorstellbaren Ausdehnung überrascht, die ihr Bauwerk angenommen hatte; von der beziehungsreichen Gesteinsanlage, die sie selber errichteten?

Das Aufstemmen, Transportieren und Aufrichten forderte einem gut koordinierten Muskelpotential vieles ab.

In jenem Moment stieg den Geschöpfen vom Meeresufer irgendetwas in den Kopf. Ein Funke, der das Intellekt entzündete. Was die Bewohner des Atlantikgestades auf der Höhe von Locmariaquer errichtet haben, stellte weit mehr als einen Dolmen, einen Tumulus oder einen Cairn dar.

Diese aufzutürmen kam vor allem einer Fleissarbeit und einem auf roher Muskelarbeit gestützten Kraftakt gleich. Viele kleinere Steine mussten gesammelt und aufgeschichtet werden. Das Aufstemmen, Transportieren und Aufrichten der grösseren Brocken forderte jedoch einem starken, gut koordinierten Muskelpotential vieles ab.

Harte Arbeit – Cairn in Carnac @ Georges Scherrer

War es der im Anblick der ersten fertig gestellten Steinreihen wachsende Stolz, den das Volk damals empfand, einnahm und dazu bewegte, die Anlage weiter voran zu treiben? War es der Wunsch, der Wille über die anfänglichen Steinphalanxen hinaus durch das Anfügen weiterer Linien den eigenen Horizont zu erweitern, die Erfahrung zu mehren? Mehr zu sehen, als es die ursprünglichen Steinreihen ermöglichten?

Als wunderbar erweist es sich auch für die Nachwelt, dass die Schaffenskraft nicht erlahmte und an der gestellten, ungeheuren Aufgabe nicht scheiterte. Mit dem Aufstellen von über zweitausend Menhiren werden die Urheber des eigentümlichen Denkmals am Meeresufer ihr Ziel, das sie sich erdacht und gesteckt hatten, irgendeinmal erreicht haben.

Streifen am Himmel: Moderne über Carnac @ Georges Scherrer

Die Begründer der Reihen von Carnac werden vom eindrücklichen Resultat ihres vertrauensseligen Wagemuts vermutlich selber erstaunt gewesen sein; wie ein Kind, das sich im Sandkasten selber ein Ziel setzt, eine Sandbank aufbaut und dann, die Hände voller Sand, perplex vor dem Resultat kniet, unbewusst sich eingedenk, dass es selber diesem Bauwerk die Form gegeben hat.

Bauwerkzeuge eines Kindes @ Georges Scherrer

So oder ähnlich dürfte es der Population von Fischern, Jägern, Korbflechtern, Hirten und Sammlern ergangen sein, als sie durch die fertigen Steinfluchten schritten. Sie dürften oftmals stehen geblieben sein, als sie in die Steinstreifen hineinblickten.

Wann wird ihnen die Idee erwachsen sein, dass sie die Diagonalen, welche sie im Menhirenfeld ausmachten, auf den Bau der Anlage selber übertragen konnten und diese darum an einem passenden Ort oder zu einem geeigneten Zeitpunkt leicht nach Norden abdrehten, sodass die bis dahin geradelaufenden Linien deutlich umgelenkt wurden? Haben die Planer von damals bereits in Diagonalen gedacht?


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