Vorher: Die Ästhetik
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Die Kurve
In jener archaischen Zeit muss dem umtriebigen Urvolk, das sich in der rauen Gegend um Kerloquet niedergelassen hatte, deutlich geworden sein, dass das geometrische Spiel der horizontalen und vertikalen Linien geistig eine attraktive Dynamik auslöste, welche sich durchaus auf die eigene Gedankenentfaltung übertragen liess und auf diese Weise, durch die bewirkte, mentale Anstrengung, unbewusst die Hirnzellen zu neuen Aktivitäten angeregte. Genauso, als der Homo Sapiens in einer weit früheren Geschichtsepoche begann, statt rohes Gemüse und ungegarenes Fleisch Abgekochtes und Gebratenes zu verzehren, sodass körperinnere Kräfte umgepolt und zur Entwicklung des Gehirns freigesetzt wurden – sagt eine wissenschaftliche Theorie.

Unser Vorfahre dachte unmerklich nicht mehr nur in Kurven, Geraden und Diagonalen, sondern auch in Linien, die sich umlenken lassen. Der Dynamik der ins Feld gelegten Streifen und Muster folgte die Erweckung des Denkens. Das Denken, das bis anhin seinen in Bauten umgesetzten bildhaften Ausdruck in der geschlossenen Formation fand, brach geradlinig und zugleich veränderbar und flexibel auf.

Wenn sich die Bewohner der Bucht von Quibéron vor sechstausend Jahren zu einem Spaziergang durch die Menhirenfelder aufmachten, dann stiegen sie in eine eigenartige Welt ein. Kein Wald, in welcher vor lauter Stämme der einzelne Baum nicht mehr ausgemacht werden konnte, nahm sie auf.
Der Besucher schritt voran wie durch einen Wald aus Steinen.
Sie betraten vielmehr, vom Westen, vom Meer herkommend, also von dort, wo sich, wie heute anzunehmen ist, das Siedlungsgebiet befand, einen Bezirk, in dem jeder Menhir wie ein gezähmter Riese oder gebändigter Zwerg auf einem klar definierten Platz stand.

Der Besucher schritt voran wie durch einen Wald aus Steinen, in welchem im Gegensatz zum naturbelassenen Wald jeder Stamm klar für sich und einzeln in die Höhen ragte. Der Besucher schritt voran, begleitet von jenen, die den Ort bereits kannten. Sprach man miteinander oder schwieg man ehrfürchtig, tief beeindruckt, gar eingeschüchtert durch die gigantische Konstruktion? Auch diese Frage wird ewig offenbleiben.
Welche Worte waren vor sechstausend Jahren am Gestade des Atlantiks bekannt?
Mit welchen Worten und Sätzen hätte man miteinander reden können? Welche Rhetorik war dem damaligen Carnac eigen? Wir, heute, verfügen über einen beträchtlichen Wortschatz, um zu beschreiben und mitzuteilen, was wir sehen und empfinden. Diese Vielfalt der Worte entwickelte sich mit der Zeit. Wir kennen das Wort Diagonale. Welche Worte waren vor sechstausend Jahren am Gestade des Atlantiks bekannt?
Wenn eine neugierige Gruppe von Gästen oder Durchreisende zur Zeit des Baus von Carnac erstmals durch die imposanten Reihen der gewaltigen Steinkolosse schritten, dann trafen sie vor sich und zu ihren Seiten auf äussert grossformatige und somit beeindruckende Gebilde, welche die dahinter liegenden Steingefüge zum Teil verdeckten.

Manch ein aufmerksamer Beobachter wird entdeckt haben, dass, sobald er sich bewegte, einen Schritt zurücktrat oder einen solchen vorwärts tat, im Schreiten stockte oder etwas zurück ging, ein neues Artefakt hinter anderen auftauchte.
Wie eine gemächlich wiederkäuende Kuhherde…
Kurz: Indem der interessierte Geistesarbeiter physisch in den würdevoll ruhenden Alignements, faul da liegend wie eine gemächlich wiederkäuende Kuhherde, herum manövrierte, kam Bewegung in den quasi dreidimensional auflebenden Anblick der an und für sich leblosen Steine.

Die anfänglich vorwärts und seitwärts gezogenen Linien lösten sich in ihrer steifen Klarheit auf, wenn der solcherart in seiner Wissbegier angereizte Erdenbürger quer durch die Steinzeilen blickte, obwohl jeder Stein nach wie vor am gleichen Ort stand. Heute weiss man, dass man diesen Perspektivenwechsel mit dem Begriff diagonal beschreiben, mit Worten einfassen kann.

Ach! Sind das hehre Begriffe: Diagonale, Perspektivenwechsel! Sehr viele aktuelle, halbgebildete Weltkomparsen kapitulieren bereits, wenn sie sich mit derartigen Wörtern herumschlagen müssen. Man muss fast an einer Universität studiert haben, um diese Ausdrücke physikalisch und rhetorisch richtig zu interpretieren, meinen diese.
Haben solche Überlegungen den Steinzeitmenschen beschäftigt? Wussten sie mit solchen Begriffen umzugehen?

Der Gang durch Carnac und die dabei gemachten Beobachtungen offenbaren noch weitere Einsichten. Einige Steine bilden Gruppen. Andere beeindrucken besonders durch ihre Gestalt.
Ein paar Schritte weiter – und schon korrigiert sich dieses Bild von selbst.
Der Betrachter wie auch die Betrachterin haben schier das Gefühl, einer der Steine stehe aufgrund seiner Postur übermächtig zwischen den anderen, als stehe er gar für sich alleine in den Alignements. Ein paar Schritte weiter – und schon korrigiert sich dieses Bild von selbst.

Sechstausend Jahre blieb die Diagonale ein festes Element im Denken des Menschen. Keine hundert Jahre ist es her, dass ein Physiker diese Struktur klug hinterfragte und über die Relativitätstheorie diese geometrische Form ihrer Stabilität beraubte. Er setzt sie in Bezug zu Raum und Zeit.
Mit massiv zunehmender Tempo laufen Raum und Zeit nicht mehr parallel zueinander.
Der Denker und Mathematiker ging das Problem als Philosoph an. Er stellte Bezüge her zum Standort, von welchem aus dem Betrachter ein Phänomen, beispielsweise jenes von Carnac, betrachtet. Sobald der interessiert Schauende seine Position verschiebt, entstehen andere Bezüge zur Realität, die vor Auge liegt.
Noch einen Schritt weiter ging jener Mann, indem er diese Diagonale in Bezug zur Zeit setzte.

Zeit ist Bewegung, Geschwindigkeit. Die Diagonale konfrontierte jener Denker mit der Lichtgeschwindigkeit. Er stellte fest, dass die Diagonale zur Gefahr wird, sobald der Mensch sich jener Geschwindigkeit nähert, mit welcher sich das Licht fortbewegt. Mit massiv zunehmendem Tempo laufen Raum und Zeit nicht mehr parallel zueinander. Sie kommen sich in die Quere. Raum und Zeit vertragen sich ohne Schwierigkeit und kollidieren nicht, solange sie im gemächlichen Trott des Menschen verharren.

Der Physiker hat vor rund hundert Jahren aufgrund erweiterter Überlegungen und Erkenntnisse das Verhältnis der geometrischen Formen zur hochbeschleunigten Geschwindigkeit überprüft und seine Schlüsse gezogen. Er hat festgestellt: Die Dimensionen Raum und Zeit touchieren sich, sobald eine Geschwindigkeit erreicht wird, die sich im Bereich des Lichts befindet.
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