Der Weg

Vorher: Die Idee

Eine handfeste Planung erwies sich als unabdingbar, um den richtigen Stein zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu haben, so dass er im richtigen Abstand zu den nächsten herbeigeschleppten Riesenbrocken bereitgelegt werden konnte. Anschliessend galt es, den steifen Brocken ordnungsgemäss so auf zu richten, dass er sich im Einklang mit den anderen Menhiren befand und mit diesen die uns auch heute noch bekannte Harmonie bildete – und zwar ein anderes Ebenmass als jenem, das der Kreis vorgibt.

Unklarer Ausgang @ Georges Scherrer

Die Einheit der Alignements von Carnac ist durch ihr immenses Ausmass geprägt, durch die Weite des Geistes.

Blick in die Weite @ Georges Scherrer

Die Schutz und Geborgenheit versprechende Geschlossenheit des eingerundeten, eingekreisten, grabgedungenen Steinmolochs „Dolmen“ und der Schwung der freimachenden, weittragenden, elegant gezogenen, gediegenen Steinbahn „Alignements“ schliessen sich im Grunde aus, denn sie stehen im Gegensatz zueinander.

Wie unabsehbar lang diese wachsende Fläche, die sich vom Kreis frei macht, sein kann, wurde den Menschen von damals überdeutlich, als sie die endlose Folge von Steinen aufzustellen begannen; später, als sie, aus dem Kromlech hinaustretend, in die gewaltigen Steinbahnen hinein schritten.

Dieses Nicht floss ganz einfach als Nass zwischen den Fingern davon, wenn man es zu packen versuchte.

Wie unermesslich gross Distanzen auswachsen können, wurde der Volksgemeinschaft am Golf von Morbihan überdeutlich, wenn sie auf das Meer hinausblickte. Dieses wasserbestimmte, nicht ermessliche Reich liess sich nicht fassen. Dieses Nicht floss ganz einfach als Nass zwischen den Fingern davon, wenn man es zu packen und zu erfassen versuchte.

Verwirrende Lichter @ Georges Scherrer

Eine neue Form der Ordnung musste her – und in dieser Angelegenheit öffnete Carnac den Weg in eine neue Dimension: in jene des selbstbestimmten Denkens, das abstrakt ist und nicht aus dem Bauch heraus geboren wird, eines, das durch keine gefühlsmässige Herzensangelegenheit geleitet wird, wie etwa das Bedürfnis, die Toten durch massive Steingebilde vor den wilden Tieren zu schützen.

Die Alignements von Carnac stellen das Bemühen denkender Kreaturen dar, geben ihr Sehnen wieder, mit einer klar strukturierten Konstruktion eine Ordnung zu schaffen, die so in der Natur nicht zu finden ist und sich darum klar von den Höhlenmalereien unterscheidet, die, deutlich erkennbar, Tiere, Menschen, Jagdszenen, Szenen aus dem Alltag im Bild wiedergaben.

Die damalige Sippschaft startete ein Experiment, das für den Gartenbau nicht von Nutzen war.

In Carnac tat der Mensch geistig einen grossen Schritt vorwärts, indem er ohne irgendein Anzeichen für einen für das praktische Alltagsleben zweckdienlich triftigen Grund einen Stein vor den anderen setzte. Die damalige Sippschaft startete ein Experiment, das tief in die Ebene hineingriff, ohne dass es für den Gartenbau, die Viehzucht, die Jagd, den Bau von Hütten oder Häusern von Nutzen war.

Der Mensch gestaltet sein Umfeld @ Georges Scherrer

Die Menhire zeugen jedoch noch heute von einem durchdachten System, das  praktisch veranlagte Menschen als völlig überflüssig erachten müssen. Die Menhirereihen wirken alles andere als funktional wie etwa ein Grab, ein Pflug oder eine Wäscheleine.

Völlig auf den pragmatischen Nutzen fokussierte Dialektiker werden es als eine müssige Spielerei ansehen, dass den grossen Menhiren auf einmal kleinere folgen und dann wieder grössere; als einen Zeitvertreib, der unnötigerweise unmässig viel Zeit beanspruchte, um all die Steinplatten aufzustellen.

An uns liegt es, uns ein Beispiel zu nehmen an diesen Dichtern und Denkern, Dichterinnen und Denkerinnen.

Die Steine folgen aber aus irgendeinem Grund aufeinander und bilden eindrückliche Alleen. Darum lohnt es sich auf jeden Fall, über diesen Fakt nachzudenken, auch wenn der ursächlich utilitaristische Wert der naturbehauenen Steinskulpturen für uns nicht ersichtlich bleibt, die sich in Reih und Glied präsentieren.

Der Mensch gestaltet sein Umfeld denkerisch @ Georges Scherrer

An uns jedoch liegt es, uns ein Beispiel zu nehmen an den Dichtern und Denkern, Dichterinnen und Denkerinnen, welche in den Startlöchern der europäischen Kultur bei ihrer Suche nach intellektueller Orientierung mit Hilfe der klaren Linie der Hinkelsteine nach griffigen Argumenten für ihre geistige Weiterentwicklung forschten; an uns also quasi, die materiellen Alignements als substanzvolle Gedankenspielgänge weiter zu entwickeln. 

Das Denken folgt Einflüssen @ Georges Scherrer

Eines fährt dem Betrachter durch den Sinn, wenn er vor den, wie der Augenschein glauben macht, davoneilenden Steinformationen steht: Sie geben den mitziehenden Gedanken eine feste Struktur.

Auf den ersten Blick geht heute diese Betrachtung möglicherweise nicht auf. Wälder und vor allem leider auch Strassen säumen die historische Stätte. Das kann sich störend auf eine eingehende Auseinandersetzung mit diesem denkwürdigen Kulturgut und drückend auf die Wahrnehmung der aus Urzeiten mitschwingenden Atmosphäre auswirken. Hier liegt keine künstlich erhaltene Folklore vor. Es ist ein authentischer Ort.

Althergebrachter Orientierungspunkt @ Georges Scherrer

Im Gegensatz zu manchem Festort, wo eine vermeintliche Tradition hochgehalten und in klingende Münze umgesetzt wird, umgeben den berühmten Flecken auf der prähistorischen Weltkarte an der Atlantikküste keine festen Abschrankungen, welche die Lärmemissionen und sonst welche Störquellen fernhalten.

Die Autos fahren sehr nahe am Gelände vorbei. Eine Strasse durchbricht sogar die Steinanordnungen und schneidet sie mitten durch. Der Mensch von heute entwickelt weniger Ordnungsgefühl als die Leute von damals, geschweige vom Respekt, den man einer solchen Stätte zollen sollte.

Abseits der Vernunft @ Georges Scherrer

Uns diene als Trost, dass unsere nahen Vorfahren, dies nur einige Generationen zurück gerechnet, mit den rätselhaften Steinreihen nicht besser umgingen als wir, die wir die Autos auf das einzigartige Bauwerk loslassen, indem wir überall hin schnelle Bahnen für ungeduldige Autofahrer durch die Gegend legen. Die Geschlechter, die uns voraus gingen, machten sich auf eigene Art und Weise die Alignements zu Nutze, indem sie aus diesen kurzerhand Steine entfernten und für die Errichtung von Häusern und weiteren landwirtschaftlich notwendigen Bauten verwendeten und dabei ein Weltkulturerbe der Zerstörung preisgaben.

Wo sind die Steine geblieben? @ Georges Scherrer

Wir durchbrechen mit Strassen die Welt, die wir uns Untertan gemacht haben, wie jene damals mit Steinreihen die zu ihrer Zeit vermutlich noch unberührte Natur. Wir schlagen wilde Breschen in alles, was uns an Natur im Wege steht.

Wie mächtig die Furcht vor den weiten Wäldern war, lässt sich nicht abschätzen.

Immer wieder erheben sich warnende Stimmen, die uns vor einem unbesorgten Raubbau an der Erde warnen, die uns nährt. Wurden damals auch Stimmen laut, die vor dem Schlag von Bäumen warnten? Davor, dass Geister im Holz aufgescheucht und dem Unternehmen „Steine aufstellen“ an den Kragen fahren könnten? Wie viele Arbeiter wurden von umstürzenden Monumentalblöcken erschlagen, verletzt, zu Krüppeln gemacht?

Beunruhigte Geister aus dem Holz @ Georges Scherrer

Wie mächtig die Furcht vor den weiten Wäldern zur Zeit der Errichtung der grossen Fülle an linear dahinlaufenden Steinkolonnen bei den damals noch kurz gewachsenen Erdbewohnern war, lässt sich nicht abschätzen.


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3 Kommentare zu „Der Weg

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