Vorher: Die Fabel
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Dieser geschichtsträchtige, aber doch eher verschwiegene historische Ort enthüllt ein seltsames Wechselspiel aus Bedrohung und Befreiung, Licht und Schatten, das von sensiblen Geistesästheten durchaus mit Befremden wahrgenommen wird. Kunstkenner ziehen Parallelen zu Meistern, die in den letzten Jahrhunderten, von unserer Zeit aus gesehen, solche Lichteffekte in ihre Gemälde einbauten. Erstaunliche Perspektiven und bezaubernde Lichtspiele erweisen sich nicht als eine Entdeckung, die erst in den vergangenen Jahrhunderten gemacht wurde.

Schon rein die einfache Betrachtung der Steinreihen, die behutsame geistige Annäherung an die gigantischen Felder, das bedachtsame Entschlüsseln von verborgenen Zusammenhängen führen zu einer Vielzahl von verblüffenden Erkenntnissen, die in Worte zu fassen schon damals eine anspruchsvolle Herausforderung bedeutete.
Dieser flüchtige Gedankenprozess nennt sich kurz und bündig Inspiration.
Neue Worte mussten her, welche klarer als die bisher verwendeten Ausdrücke benannten, was aufmerksame Betrachter empfanden, entdeckten, erschauten und für sich an frischen, vielleicht verrückten Ideen ersannen; Worte, die besser als bis anhin der ersten, verwunderten Schaulustigen überraschende Eingebungen festhielten, die wie Geistesblitze aufkeimten und als weit hinauf steigende Gedankenflüge im letzten Moment noch erhascht wurden, bevor die brandneuen Erkenntnisse sich in den unbekannten Zonen des Bewusstseins verflüchtigten, um dort im alles auslöschenden Vergessen unterzugehen. Dieser flüchtige Gedankenprozess nennt sich kurz und bündig Inspiration. Ist er verpasst, ist er weg. Es wird vermutlich nach dem ersten Anblick der enormen, gut geordneten Steinansammlung nicht bei den Ahs und Ohs der spontanen Bewunderung geblieben sein.

Es kann durchaus davon ausgegangen werden, dass die Erbauer des steinernen Monuments im Post-Holozän, als sie ihr ehrgeiziges Werk in Angriff nahmen, nicht über jenen filigranen Wortschatz verfügten, den sie sich erarbeiten mussten, um, nachdem das aussergewöhnliche Unternehmen zu Ende geführt war, zu beschreiben, was sie erblickten, sahen, wahrnahmen, empfanden, fühlten und an neuen geistigen Beziehungspunkten entdeckten oder erahnten.

Die ersten damals kreierten Worte werden wohl dazu gedient haben, die verschiedenen Organisationsformen zu beschreiben, welche durch das aufmerksame Beobachten aus dem komplexen Gesamtbild der unterschiedlichen Steinreihen herausdestilliert wurden. Das steinzeitliche Meisterwerk erzeugt neben geradlinigen Anordnungen auch etliche Querverbindungen. Komplizierte Formen, weniger kompliziertere Formen mussten benannt werden.

Die aus Felsblöcken gestalteten Arrangements stehen ein Stück weit vom Meer entfernt. Möglicherweise befanden sie sich in jener Zeit, als sie errichtet wurden, näher am Atlantik. Dennoch sei hier der Hinweis gestattet, dass die Menhire als durchstrukturierte Elemente in einer gewissen Weise die beeindruckende Weite des Meeres auf die immense Ebene einer garstigen Landfläche übertragen. Die Menhirereihen brechen die unendlich gross wirkende Ausdehnung des Meeres auf.
… das ganz einfach als unschickliches Nass zwischen den machtlosen Fingern davon floss.
Die riesenhaften Gesteinsanordnungen wirken, als ob die tollkühnen Landbewohner versucht hätten, in einer fahrigen Absicht dem gigantischen Meer auf der nackten Erde ein gleichwertiges, machtvolles Ebenbild gegenüber zu stellen, um so dem grossen Wasser habhaft zu werden, das ganz einfach als unschickliches Nass zwischen den machtlosen Fingern davon floss, wenn man es zu packen versuchte.
Viele konfuse Interpretationen darüber, was diese mysteriösen Reihen bedeutet haben mögen, können als müssige Erklärungsversuche herangezogen werde, um den wild spriessenden Gerüchten über den fesselnden Ort immer wieder auf die Sprünge zu helfen, der in der zeitspendenden Ferienzeit so viele interessierte Müssiggänger, sanft Suchende und auch akribisch Forschende in seinen Bann zieht. Die Deutungshoheit liegt bei allen phantasiebegabten Liebhabern schöner Geschichten, die keine abgesicherten Antworten wünschen. Ungedeutet geniessen viele andere Durchreisende um einiges lieber die stille Präsenz vor Ort.

Zu Verteidigungszwecken taugten die Alleen nicht.
Ob in Carnac ein bestimmtes Längenmass, ein goldener Schnitt, eingesetzt wurde, um die Steine in einen richtigen, augengefälligen Abstand zueinander zu setzen, nicht zu weit auseinander, nicht zu nahe beieinander? Diese Frage ist mit Gewissheit Gegenstand der Forschung.

Nachdem die beeindruckenden Reihen fertig standen, werden die Anwohner, Mitglieder möglicherweise verschiedener Sippschaften, das mit monumentalen Standbildern repräsentativ ausgestattete Areal gewiss in irgendeiner Form genutzt haben. Eine derartige, vielspurige, prähistorische Prachtstrasse galt es zunächst einmal, sozialpolitisch und karitativ gedacht, den Schwächsten in der Gemeinschaft nahe zu bringen. Blinde mussten durch die aus der prätentiösen Warte kritisch Sehender und auch aus unserer Sicht, aufgrund der reinigenden Kraft der historischen Aufklärung von allen heidnischen Vorurteilen geläuterten, sachlichen Sichtweise frei denkende Zeitgenossen, die wir darstellen, doch wunderliche Szenerie geführt werden, damit die visuell bedingt Nicht-Sehenden das entstandene Wunderwerk in all seinen feinsten Details ertasten konnten, sofern diese Blinden das eigentliche, konkrete Konstrukt nicht selber erdacht hatten und somit die ausgeklügelten Nuancen der verwendeten Bauweise nicht bereits schon bestens kannten und somit keiner Erklärungen bedurften. In unseren Augen, für uns mit klarer Sehstärke ausgestattete Zeitgenossen gestaltet sich die Lebenswelt eines blinden Mitbürgers oft ähnlich kompliziert wie der eben gesetzte Satz. In Carnac musste auch die Sprache als brauchbare und zuverlässige Wegbegleiterin erst etabliert werden.
Einsatz ohne Ende
Zudem: Was für einen Kontrast bilden die Alignements zum eben dargestellten, verwirrenden Blickwinkel Blinder in die Welt! Dort ein Lebensraum, der aus einem unsichtbaren Gefüge verschiedener sinnlicher Wahrnehmungen zusammengesetzt wird; hier die Entität eines klar definierten Profils. Carnac strahlt weit über seine steinernen Aussagen hinaus. Die Stätte greift ohne Mangel an Geschmeidigkeit in die Vorstellungskraft der Betrachtende hinein.

Die Überlegungen zur Situation blinder Menschen formen eine zusätzliche Steigbügelhilfe zu allem bisher Gesagten in das Reich der Interpretationen, Deutungen und Aufgaben der Steinkolosse und Zwergstaturen, welche die Ebene im Norden des späteren Frankenreiches bevölkern.
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