Die Linie

Vorher: Altsteinzeitliche Globalisierung


Die Friedhöfe folgen mit ihren klar gezogenen Linien einer anderen Ordnung, sofern Ordnung allumfassend verstanden wird; also als etwas, das wie beim Dolmen quasi als Archiv interpretiert wird, das abschliessend alles versorgt und entsorgt, was ausgedient hat; wie ein Aktenberg, der niemandem mehr dient; oder als etwas, das in eine Ordnung gebracht wird; wie die Leichen auf den Totenfeldern, die in klar gehaltenen Geraden die Gräber übersichtlich anordnen. Was bezweckt diese Linien-Ordnung?

Rudimentärste Struktur: der Punkt @ Georges Scherrer

Die Ordnung des Runden und die Ordnung der Linie können auf dem Niveau der Denkebenen nicht gleichgestellt werden. Das Rund ist ein Punkt, ein Stein. Die Linie wird bereits etwas weiter gedacht als der Punkt. Die Linie, welche die Ordnung des Friedhofs ausrichtet und gestaltet, kann durchaus dahin gedeutet werden, dass sie dem Bemühen entspricht, dem Tod eine Ordnung zu geben, ab zu ringen. Ihn in einer gewissen Art und Weise zu bändigen sucht und, wie ein wildes, eingefangenes Tier, greifbar macht, um ihm seinen Schrecken zu nehmen, auch wenn der Mensch nicht über den Tod verfügen kann.

Erweitertes Grabrund @ Georges Scherrer

Die Linien des Friedhofs vermitteln dennoch das Gefühl, dass man den Tod unter Kontrolle hat. Das verschafft etwas Beruhigendes. Der geordnete Tod wirkt fast, als sei er etwas, das dem Menschen, diesem Ordnungsliebhaber, nahe beheimatet ist. Klare Linien schaffen Bezüge und Beziehungen. Dem Tod eine Ordnung zu geben, heisst nichts anderes, als seiner habhaft zu sein, auch wenn dieses Vorhaben der Verwirklichung einer völligen Illusion entspricht. Der Mensch frönt jedoch gern seiner Wunschbilder. Sie machen das Leben lebbarer als die Schrecken, die zum Tod führen. In seinen Vorstellungen ist der Mensch seiner Selbst Herr und auch des Todes.

Deckel drauf: das Urnengrab ist gebannt @ Georges Scherrer

Die Linien des Friedhofs, die Reihen der Gräber geben dem Tod ein klar definiertes Gesicht; was nichts Anderes besagt, als dass auch der Mensch in der Sache seine Hand im Spiel hat. Er wirkt auf den Tod ein. Der Mensch formt, bestimmt, gibt vor, gestaltet, auch was den Tod betrifft.

Der Mensch ist eine Kraft, die sich immer wieder aufzehrt.

Ein Irrtum! Der Mensch, eine Kraft, die sich dem Tod in den Weg stellt? Der Mensch ist vielmehr eine Kraft, die sich immer wieder aufzehrt, nachdem sie neuen Schwung aufgenommen hat, um weiter zu leben, wenn sie wieder einmal einen Kampf gegen den Tod verloren hat, der sich nimmt, was er will, gnadenlos seinen hohen Blutzoll einfordert. Möglicherweise gibt Carnac eine Antwort.

Der Kreis des Lebens schliesst sich @ Georges Scherrer

Bilden die weltbekannten Alignements von Carnac, die endlosen Reihen von parallellaufenden, senkrecht aufgerichteten Steinscheiben als Zeichen friedhöflicher Ordnung einen Schutz vor dem Tod? Stellen sie den Versuch dar, dem Tod in seiner Allmacht durch klare Ordnung die Stirn zu bieten? Ihm eine Linie zu geben?

Wollen diese Steinreihen zeichenhaft die Endlichkeit, welche den Tod mit grober Faust auf die Erde bringt, aus ihren festen Fugen heben und das Tor aufmachen zu einer Barmherzigkeit versprechenden Unendlichkeit mit all den Möglichkeiten, die sie verspricht?

Diese überheblichen Deutungen wurden gemacht, ohne die Zeichen von Carnac gelesen zu haben.

Geben diese Alignements dem Tod, der unsichtbar daherkommt, aber überdeutlich Spuren hinterlässt, ein Gesicht, um ihn menschlich zu machen?

Diese voreiligen, überheblichen Deutungen wurden gemacht, ohne die Zeichen von Carnac gelesen zu haben.

Die Menschen des damaligen Carnacs haben Horizontalen und Vertikalen geschaffen. Wer von Süden her über das Meer an das Gestade heran fuhr, welches heute zu den Alignements führt, der sah am Ufer auf einer Erhebung beim heutigen Ort Locmariaquer einen mächtigen Menhir und vielleicht auch weitere, von denen man heute jedoch keine Kenntnis mehr hat.

Der Menhir von Locmariaquer gewinnt heute noch dem Betrachter bewunderndes Schweigen ab. Der gestürzte Stein stellt einen mächtigen Brocken dar.

Locmariaquer heute @ Georges Scherrer

Die Horizontale stand gemäss der bisher aufgeführten Interpretationen für den Tod. Die Vertikale für das Leben.

Intuitiv?

In der historischen Zeit des instinktiven Handelns, vor der Zeit der Metalle, vor der Zeit des Organisierens, als der Mensch begann, seine Toten mit Steinen zu decken, um sie vor den Tieren zu schützen, damals, dachte der Mensch damals, und zwar Denken in unserem heutigen Sinne?

Vor Blitz und Donner hatte er Angst und machte daraus keinen Gott.

Inwieweit der Mensch in jener Zeit gemäss unseren Vorstellungen bereits dachte, dürfte eine offene Frage bleiben, für immer. Vor Blitz und Donner hatte er wie alle Tiere Angst und machte daraus keinen Gott. Um zu jagen, organisierte er sich wie Wölfe und Löwen als Meute. Das geschichtliche Carnac liegt historisch in einer Zeit, als der Mensch mit Reusen, Speeren mit Steinspitzen und Keulen als Schlagwerkzeug jagte und sein Überleben sicherte.

Steinzeitliches Habitat @ Georges Scherrer

Der Stein bot ihm Schutz wie auch die Höhle den Schutz, den er mit dem Bau der Dolmen für sich selber realisierte. Es ist für uns Menschen von heute sehr schwer nachvollziehbar, unter welchen Bedingungen die Menschen damals lebten. Geldwirtschaft dürfte ihnen fremd gewesen sein; ganz zu schweigen von Supermärkten, Shoppingalleen, Medical-Center und Altersrente.

Eine ganz besondere Leistung bestand bereits darin, damals, die Steinkreise, welche die Platten über den Toten trugen, und die Cairns mit ihren zum Teil hoch aufgeschichteten Steinmauern zu schaffen. Doch der Stein, der sich nicht wie ein Fisch über die Toten legte, sondern für sich selber stehend in die Höhe reckte, das war ein ganz anderes Ding als das, was die Höhle bot.

Wie hingeworfen: Menhire in Carnac @ Georges Scherrer

Zurück nach aller Theorie nach Carnac! Dort bestechen den Betrachter die nach wie vor Kilometer langen und etliche Linien breiten Alignements, welche weithin über lange Strecken sichtbar bleiben.

Auf die entsprechende Frage wird eine Führerin, welche die Touristengruppe durch die Felder begleitet, antworten, man könne davon ausgehen, dass die Alignements nicht zwischen Bäumen standen. Das Schleppen, der Transport und das Aufrichten der Steine brauchte Raum und wird dem Erdreich derart zugesetzt haben, dass dort für einige Zeit keine grössere Vegetation wuchs. Die Steinreihen waren, man könne davon ausgehen, weithin sichtbar.

Warum?

Das Aufstellen eines Steines, damit aus ihm ein Menhir wird, die Idee dazu, bedeutete eine erhebliche Denkleistung für die Menschen von damals, die weder das Einmaleins noch das Alphabet kannten.

Die Menschen von damals mussten sich das Wissen erst einmal erarbeiten.

Dieses Nichtwissen hat nichts mit Dummheit zu tun, damals. Heute straft es jenen Menschen ab, der freiwillig oder unfreiwillig über dieses verfügt. Die Menschen von damals mussten sich das Wissen über Alphabet und Einmaleins erst einmal erarbeiten. Beides erst erschaffen.

Das Einmaleins in seinen Anfängen @ Georges Scherrer

Buchstaben. Zahlen, die über die zehn Finger hinaus gingen. Der Mensch musste höllisch über das hinausdenken, was ihn dem Tier gleich macht. Was wird im Kopf des Urmenschen vorgegangen sein, als er zum ersten Mal neben einem bestehenden Menhir einen zweiten aufstellte?

Über die Menhire machte der Mensch den Schritt vom Sandkasten zur Kopfgeburt.

Er hat im Grunde erstmals einen mathematischen Zusammenhang erstellt. Also etwas Abstraktes verwirklicht, abstrakt gedacht. Abstraktes Denken, das sich von jenem unterscheidet, wenn er entscheidet, Steine zu einem Haufen zusammen zu stellen, in welchen er seine Toten verstecken kann, um sie vor den aasfressenden Tieren zu schützen. Über die Menhire hat der Menschen den Schritt vom Sandkasten zum Denken bewältigt, vom Bauch zum Kopf, vom Termitenbau zur Kopfgeburt.

Startschuss für die Steinreihen @ Georges Scherrer

Wann er den zweiten Stein in die Vertikale hob, um ihn neben den ersten zu stellen, wird ewig unbekannt bleiben. Das kann das Produkt eines Zufalls gewesen sein, wie dies Beobachter im Fall des Monolithen von Bhimpul mutmassen: Der mächtige Block in jenem nordindischen Gebiet wurde nicht von Menschen an diesen Ort transportiert, sondern fiel aufgrund einer glücklichen Fügung genau auf diese Stelle und bildete so eine willkommene Brücke über die doch recht ansehnliche Schlucht.

Jeder Analyse kann widersprochen werden, auch wenn das Resultat stimmt.

Auch die beiden ersten nebeneinanderstehenden Menhire mögen das Ergebnis eines unbeabsichtigten Handelns gewesen sein, das durch eine instinktive Reaktion ausgelöst wurde. Es folgte aber, was in Carnac an dieser prähistorischen Stätte geschah. In der Angelegenheit hatte der Zufall nicht mehr seine Hände im Spiel. Vielmehr ist das, was sich entwickelte, eine Analyse wert. Jeder Analyse kann widersprochen werden, auch wenn das Resultat stimmt.

Weniger rudimentäre Struktur: die Linie @ Georges Scherrer

Der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten ist bekanntlich die gerade Linie. Das lernt heute jeder Primarschüler. Die Linie weist eine andere Bildhaftigkeit auf als der Kreis, der in sich geschlossen ist.

Schulkreis für Kinder in einem Wald @ Georges Scherrer

Wer im Kreis steht, blickt die Anderen an, die mit ihm den Kreis bilden. Der Kreis formt einen geschlossenen Versammlungsraum, in welchem alle mitreden können. Wer im Kreis steht, gehört dazu, gehört zur versammelten Gemeinschaft. Der Ring steht für diese Form der geschlossenen Gemeinschaft; so der Ring, der im Ebenbild an den Fingern von zwei Menschen steckt, die zusammengehören wollen, die zusammengehören. Gehen sie auseinander, bricht der Ring weg.

Für die grössere Gemeinschaft erfand die nordeuropäische, vorgeschichtliche Gesellschaft das Thing und den Cromlech, wo im Kreis Recht gesprochen und Probleme besprochen wurden.

Cromlech aus der Steinzeit @ Georges Scherrer

Von diesem urtümlichen aber nach wie vor gültigen Denkmodell, heute vielfach in Gruppenzusammenkünften durchgespielt, sei es am Lagerfeuer, sei es während Meditationen, unterscheidet sich die Linie deutlich. Die Linie schliesst sich nicht selber wie ein Hund, der sich in den Schwanz beisst, sondern kann fortgesetzt werden.

Die Erfindung des Rades gehört in die gleiche Kategorie ganz grosser Entdeckungen.

So abwegig es auch tönt: Diesen logischen Schluss muss der Mensch von damals herausgefunden haben, ohne dass er dabei Tiefgründiges dachte. Eine banale Erkenntnis, die sich aber als äusserst nachhaltig erwies. Auf diese Idee musste der Mensch erst mal kommen. Die Erfindung des Rades gehört in die gleiche Kategorie ganz grosser Entdeckungen.

Ursprünglich wirkend und bedeutend für die Menschheit: ein Rad aus Holz @ Georges Scherrer

Irgendeinmal wird der Mensch den beiden vertikal stehenden Steinen einen dritten beigesellt haben und zwar nicht, um einen Kreis zu bilden, sondern um eine Linie zu eröffnen, die in die Weite führte. In welcher Absicht tat er dies? Das ist die interessante Frage.

In Carnac wurde quasi dreidimensional umgesetzt, was Menschen bereits vor vermuteten 75000 Jahren als erste Ansätze gestaltender Kunst hinterlassen haben und zwar als in einen Stein geritzte Punkte und Striche. Das Gebilde wurde in der Blomboshöhle in Südafrika gefunden. Dieser Stein, der heute prominent in einem der wichtigen Museen der Welt ausgestellt ist, gilt als erster Beweis für ein strukturelles Denken der Menschen.

Aus dem Dunkel der Vorzeit: Botschaft auf Steinen @ Georges Scherrer

Nur 70000 Jahre später hauten Menschen mit steinernen Werkzeugen Vertiefungen in einen gröberen Felsbrocken, der als Findling bezeichnet werden kann. Der Fels steht heute am Fuss des Hügelzugs mit dem Namen Jura und erfüllt die Betrachtenden mit Verwunderung. Was an dem Ort in Stein gemeisselt ist, hat Bestand, auch wenn heutzutage niemand die Botschaft versteht.

Wir stehen vor dem Stein wie der Esel am Berg.

Die Ansammlung von Punkten befremdet. Sie enthält eine Aussage. Uns fehlen aber die Worte, die Buchstaben, die Zeichen, um uns des Gesagten nähern zu können. Ihr Wissen hatten die Menschen von damals uns vor. Das ganze angestaute sprachliche und wissenschaftliche Rüstzeug von mehreren tausenden Jahren hilft uns nicht weiter. Wir stehen vor dem Stein wie der Esel am Berg.

Der Mensch von damals, welcher zu einer Zeit in Blombos lebte, als sich eine erste, besondere Art zu denken langsam manifestierte, wird mit Sicherheit nicht darüber nachgedacht haben, was der Strich, den er auf den Stein zog, und die Punkte, die er ritzte, für eine immaterielle, geistige Bedeutung hatten, so wie die Menschen von Carnac, als sie mit den Hinkelsteinen die Vertikale zu erobern begannen, jene Überlegungen nicht anstellten, welche von den Menschen von heute als Deutungen und Interpretationen geäussert werden. Das Denken von heute entspricht nicht dem Denken von damals. Die Prämissen standen zur Zeit der Menhire anders. Das Kind, welches in den Sand einen Strich zieht, tut dies nicht aufgrund von Überlegungen, die der Atomphysiker anstellt.

Rätselhafte Zeichen der Vorfahren aus der Steinzeit @ Georges Scherrer

Die Kunst

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3 Kommentare zu „Die Linie

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