Vorher: Das Dach
Zu irgendeiner Zeit entwickelte sich im Menschen Denkvermögen, begannen Denkvorgänge anzulaufen, die ihn über das instinktive Handeln des Tieres hinaushoben und bewegten, zu imitieren, was er in seiner Umgebung beobachtete. Bekannt ist, dass Tiere zuweilen auf recht schlaue Weise vorgehen, wenn es darum geht, an Nahrung heran zu kommen. Vom Bartgeier ist bekannt, dass er Knochen von grosser Höhe fallen lässt, so dass sie auf dem Boden zerbersten, wenn er an deren kostbares Knochenmark herankommen will.

Schimpansen benützen Holzstücke für verschiedene Arbeiten. Biber stauen das Wasser zu Dämmen, um ihre Bauten zu schützen. Ameisen legen regelrechte Bauten an, um zu überleben und ihr Volk unter zu bringen. Krähen greifen auf eine ganze Reihe von Tricks zurück, um sich das Leben zu erleichtern. Sie benützen Werkzeuge und verstecken Nahrung vor ihren Artgenossen, indem sie etwa falsche Verstecke anlegen, um so von den richtigen abzulenken. Diese Verstecke decken sie zuweilen gar mit Erde zu.
Dolmen sind nicht eine Leistung denkerischen Tiefsinns.
Im Megalithikum deckten Menschen an ausgewählten Orten die kleinen, zu einem Rund geformten Steinwälle mit Steinplatten ab und formten auf diese Art einen geschlossenen Raum, das Abbild einer Schutz gebenden Höhle. Berücksichtigt man in der erklärenden Argumentation für das Entstehen dieser Bauten die eben angeführten Beispiele aus der Tierwelt, so kann die Errichtung der Dolmen nicht als eine herausragende Leistung denkerischen Tiefsinns betrachtet werden.

Die Absicherung des mit senkrechten Steinplatten abgegrenzten Erdreichs mit weiteren Steinelementen als Deckel oben auf entspricht einem Kraftakt, wie ihn mancher Vogel beim Bau seines Nestes leistet. Sicher, solches kommt einer gewaltigen Leistung gleich. Die Sippe musste wie ein Bienenstock organisiert werden, damit das Unternehmen möglich wurde. Es würde aber recht verwegen klingen, wenn man solches Handeln des menschlichen Rudels als ersten künstlerischen Schritt auslegen würde, der schliesslich zur Aufrichte des Menhirs als feinsinniges Zeichen des aufrechtstehenden Menschen führte.
Spötter kontern diese Erklärung mit dem plakativen Begriff „künstlerische Umsetzung“.
Der Aufbau der Dolmen erforderte erhebliches physisches Geschick, die denkerische Leistung orientierte sich jedoch an jener von Tieren, die ihr Versteck, ihren Bau absicherten. Spötter von heute kontern diese Erklärung mit dem plakativen Begriff „künstlerische Umsetzung“, um den primitiven Bauten mehr Prestige zu verleihen. Dem ist entgegenzuhalten: Der Wolf erzeugte mit dem Bau seines Baus noch keine Kunst.
Um diesen Spöttern das Wort noch auf eine weitere Weise zu schneiden, sei darum die Frage gestellt: Was war zuerst – der Menhir oder der Dolmen? Eines wird sich aus dem anderen gegeben haben. Eine Aktion wird die nächste nach sich gezogen haben, wobei es in dieser hier geleisteten Betrachtung keine Rolle spielt, ob der Menhir zuerst war oder der Dolmen. Wollte der frühe Mensch zuerst seine Toten mit einem Stein vor den wilden Tieren schützen oder sich mit dem senkrecht stehenden Stein ein Zeichen setzen? Müssige Frage, weil sie nicht beantwortet werden kann.
Ein kleines Gedankenexperiment sei hier dazu geliefert: Steht ein in den Boden gesteckter Stecken für einen lebenden Menschen, der Stecken hingegen, der auf dem Boden liegt, für einen Toten; oder erinnert der Stecken, der im Boden steckt, an einen toten Menschen? Jede Antwort auf diese Frage ist interpretationswürdig.
Es fehlt jeder Beleg, der diese Interpretation stützt.
Waren die senkrechten Steine, welche als Teil des Dolmens den Toten umstanden – als Menhire verstanden – sinnbildlich Menschen, welche den Toten schützten? Noch eine überflüssige Frage, die romantisch-religiös durchaus mit Ja beantwortet werden kann. Es fehlt aber jeder Beleg, der diese Interpretation stützt.

Falls der flache Stein bereits über dem Grab lag und der zweite Stein erst danach in unweiter Entfernung aufgerichtet wurde, der stehende Stein als Zeichen des selbstbewussten, aufrechten Menschen, dann zeigt dieser Umstand, dass in der Sache Mensch eine Entwicklung stattfand.
Ein solcher Entwicklungsverlauf käme im Wesen des Menschen einem bemerkenswerten Fortschritt, einem bedeutenden Prozess in seinem Denken gleich. Denn weder der Dolmen noch der Menhir bildeten für den damaligen Menschen eine Notwendigkeit, welche das Überleben oder den Nahrungsbedarf sicherte. Der Einsatz der Steine entsprach vielmehr einem Luxus, den der Mensch sich neben seinem Broterwerb leistete. Weil beides, Dolmen und Menhir, im Grunde überflüssig war, um das unmittelbare Überleben des Menschen von damals zu sichern, stellten sie ein Mehr dar, das sich der damalige Mensch erarbeitete.
Möglicherweise bedeutet dieses Plus den ersten Schritt in Richtung Zivilisation.
Möglicherweise bedeutet dieses Plus den ersten Schritt in eine Richtung hin, die sich mit Zivilisation umschreiben lässt. Möglicherweise lässt sich eine derartige Entwicklung mit dem Begriff Kultur einfassen.

Beim aktuellen Stand dieser Betrachtung, dieses Traktats, über das, was in Carnac geschah, von Kultur zu reden, ist insofern nicht verwegen, als der Massstab, der für die damalige Kultur aufgestellt werden kann, äusserst niederschwellig angesetzt wird, also nicht über die Überlegungen von Horizontaler und Vertikaler als gestaltende Elemente hinaussteigt.
In Carnac ist vor 6000 Jahren etwas Bedeutsames geschehen. Wer war sich dessen bewusst? Der Mensch von damals? Wer nahm daran teil? Wer wusste davon?
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Altsteinzeitliche Globalisierung
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