Stiefe Horn

n der einwohnerstärksten Stadt des Landes, das Eiger, Mönch und Jungfrau sein Eigen nennt, steckt die Eidgenössische Denkfabrik der Technik, die Technische Hochschule der Deutschschweiz. Ihr Ruhm reicht weit über den Ort Zürich in die Welt hinaus. Zur Stadt gehört auch ein in Glas gepackter Turm, der für hiesige Verhältnisse eine achtbare Höhe erreicht. Europäisch gedacht misst man ihm mittlere Ausmasse bei. Wird er auf der Weltskala neben Wolkenkratzern gestellt, muss er als klein bezeichnet werden. Nichts desto trotz protzt er mit einem grossen Namen und will mit diesem der erste unter allen Türmen sein.

Während der Männlichen mit Gondelbahnen und die Kleine Scheidegg mit Zahnradbahnen bedient wird, hieven in besagtem Turm Fahrstühle die Besucher in den fünfzehnten Stock. Weiter hinauf steigt der Fahrstuhl nicht. Denn dann folgt das Dach.

Stiefe Horn erkimmt den Turm mit Hilfe des senkrecht steigenden Schlittenkastens. Oben angekommen, begibt er sich in die Bar. Von dieser aus bietet sich zu jeder Zeit ein grandioser Ausblick.

Der Turm steht zwischen zahlreichen niedrigen Gebäuden. Das verleiht ihm einen Sonderstatus in der Gegend. Stiefe sieht weit über die Stadt und ihre Dächer hinaus. Droben, aus der Bar heraus, wirkt die Ortschaft, als liege sie in schwindelerregender Tiefe zu Füssen der steilen Flanke eines Berges weit unten in einem Tal.

Die wunderbare Aussicht lohnt den Aufstieg in die Spitze des Turmhochbaus. Niemand, der den Ort kennt, streitet dies ab, auch Stiefe nicht. Ausser Berge und Stadt stecken in einem Nebel, der jede Sicht verhindert. Was an dem Ort durchaus der Fall sein kann. Stiefe denkt an die Tage, an welchen das Hochhaus in tiefhängenden Wolken verschwindet. Was vorkommt, rechnet Stiefe die Wetterveränderungen ein, die im Land durchaus üblich sind.

Er muss damit leben, dass sich eine tiefhängende Wolke vor die grossen Panoramafenster verirrt und dann die Sicht ganz einfach verschwindet wie ein Butterbrot, das sich ein Taube aus dem Teller eines unachtsamen Kunden einer Dachterrasse geschnappt hat.

Stiefe schaut in den Himmel, wo verschiedene Wolkenfetzen bereits hängen, um sich auf das Gebäude nieder zu senken.

Mehr Sicherheit als der leicht Wolken florierte Himmel garantiert die effiziente Klimaanlage, die dafür sorgt, dass in der Bar, die wegen ihrer Hochlage in der Stadt der Sonne stark ausgesetzt ist, auch bei schönem Wetter eine angenehme Temperatur herrscht. Das Klima des Raums führt nicht zu Hitzestaus. Sollte es doch wider Erwarten an dem Ort heiss werden, so stecken in der Bar genug Reserven an Eiswürfeln und Getränken, um im gegebenen Fall den Durst zu löschen und die Gemüter zu kühlen und zu beruhigen.

Von solchen klimatischen Überlegungen an dem erhobenen Ort schweift Stiefes Aufmerksamkeit jedoch rasch ab. Stiefe hebt sein Glas und lässt sich von der atemberaubenden Landschaft vor ihm einnehmen. Er senkt den Blick und erschauert. Zu Füssen des Turms liegt eine ausserordentlich grosse Modelleisenbahn mit Tausenden von Miniaturschienen. Auf diesen ziehen Züge, die kleiner wirken als Streichholzschachteln, bedächtig ihres Weges.

Der Anblick erfreut jedes Bubenherz und jenes der Männer, die ihre Zöglinge begleiten. Sie sehen hinab auf ein echtes Puppenhaus. Nicht nur Bub und Papi, sondern auch Frauen blicken entzückt auf die stattliche Geleiseanlage und erfreuen sich am Anblick der klitzekleinen Ameisenzüge, die hurtig von einem Rand der Konstruktion zum anderen fahren und aussehen, als wären es wirklich Ameisen, welche den Schienen entlang klettern.

Der beglückte Blick aller sticht durch die grosse Glasscheibe, welche den Raum gegen das Aussen sichert. Anders als bei vergleichbaren Aussichtsplattformen in luftiger Höhe ist an dem Ort ein Sturz in die Tiefe nicht möglich. Der Turm verfügt nicht über eine Reling oder einen Balkon, eine Aussichtsplattform, die, nur durch eine niedrige Barriere gesichert, ermöglicht, während des Beschauens der Gegend auch frische Luft zu sich nehmen.

Die Väter der Stadt trauen vermutlich den Bürgern und Bürgerinnen des Ortes nicht über die Brüstung. Keine Terrasse mit einer Windschutzscheibe befindet sich auf dem Turm. Wäre die Plattform offen, könnte ein Wagemutiger auf den Rand der Schutzscheibe steigen und ungeschützt aus luftiger Höh, als befände er sich auf dem Eiger, in den weiten Abgrund, in welchen er blickt, hinunter stürzen.

Es muss nicht gleich der eigene Sturz sein. Es genügt, dass beim unachtsamen Umgang mit dem Smartphone, das die Umgebung fotographisch festhalten soll, dieses unversehens aus der Hand gleitet, wenn es für mehr Klarsicht über den oberen Rand der Windschutzscheibe gehalten wird. Gleitet es bei einem solchen Unterfangen aus der Hand, dann saust es über den mit hohen Sicherheitsabschrankungen versehenen Rand einer derartigen Aussichtsterrasse in schneller Fahrt hinab in die Tiefe .

Weit ab von der oberen Plattform des Turms zerschmettert das elektronische Kommunikationsgerät elendiglich auf dem Pflaster, welches die Grundmauern des Gebäude umgibt, zersetzt sich in all seine Einzelteile und löscht aufgrund der Wucht des Aufpralls seine Existenz aus – sofern sich das Gerät wegen des Falls nicht in den Schädel eines Passanten bohrt und statt seiner selbst dessen Kopf zertrümmert. Solches kann geschehen, wenn die Aussichtsplattform nicht speziell mit Glas oder engmaschigem Draht gesichert ist.

Darum ist es klug, dass der Turm neben der Modelleisenbahn durch feuerfeste Scheiben hermetisch abgeschlossen und mit keiner solchen Terrasse ausgestattet ist. Stiefe fühlt sich an dem Ort sicher. Die schützende, sauber gehaltene und darum vollkommen transparent bewahrte Glasfront verunmöglicht ein unverhofftes Hinaustreten in die Leere über der Geleiseanlage. Wagt man sich in dem Raum zu weit vor, schlägt man sich höchstens den Kopf an. Um sich hinab zu stürzen, begibt sich zudem niemand in diese Bar hinauf. Hier stürzen Zufriedene lediglich ihr Bier hinunter. Der Kaffee nippt sich an.

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Geistige Nahrung für die Betrachtenden offenbart sich im Unsichtbaren.

Der Blick nach draussen weckt Erinnerungen. Sie gehen weit zurück, soweit wie der Weitblick zum Gebirgszug im fernen Hintergrund reicht, der als Spielzeuglandschaft den Horizont abdecken. Damals spielte Stiefe mit der eigenen Spielzeugeisenbahn. Die Lok bestand aus Holz wie auch die Häuser, um welche der Zug aus der Sicht des Buben mit grosser Geschwindigkeit zu sausen hatte. Stiefe musste das hölzerne Gefährt immer wieder anschieben, damit es sich bewegte. Ein Abbild dieser kindlichen Eisenbahnromantik liegt zu Füssen des Turmes, der im fünfzehnten Stock einen Barbetrieb nebst Restaurant führt. Die Geleiseanlage ist auf festem Boden gebaut.

Ein Sackbahnhof mit zahlreichen Perrons bildet das zentrale Stück der Bahnanlage. Doch diese hat noch mehr zu bieten. Wie Stiefe genau hinschaut, erkennt er mitten im Geleisesystem zwei Tunnels, die im Erdboden verschwinden. Sie führen zu zwei weiteren Bahnhöfen, die sich jedoch unter dem lokalen, terrestrischen Nullpunkt befinden, der Erdoberfläche also.

Geistige Nahrung für die Betrachtenden offenbart sich im Unsichtbaren. Auch das gibt es aus der Sicht vom Turm hinaus auf den Boden. Das auserlesene, philosophische Element der gesamten Anlage formt der dritte Untergrundbahnhof. Der Blick aus der Turmbar enthüllt dieses Ding nicht. Von oben gesehen, aus der Warte des Ausgucks auf den alten Dreimastern, erweist sich dieser unterirdische Umsteigeplatz jedoch eher als eine Hypothese, denn als einen valablen Bestandteil einer durchdachten Passagiertransfermaschinerie. Nichts an der ganzen, sichtbaren Anlage deutet auch nur im Geringsten darauf hin, dass sich ein derartiger, okkulter Bahnhof im Areal befindet. Der Bahnhof wird, so gesehen, zu einer Glaubenssache. Wer den ungesehenen Ort nicht kennt, muss den Berichten trauen, die er in der Bar vernimmt; für bare Münze nehmen, was ihm an präzisierenden Aussagen über die in die Erde versenkte Zugsstation serviert werden oder sich dann in die Nase beissen und wortgewaltig die Argumente des Gegenübers zu seinen Gunsten umdrehen.

Wer trotz der Überzeugungskünste der Bahnhofexperten im Turm den Drittbahnhof weiterhin als Metapher für irgendeine unsichtbare Welt hält, kann seine Skepsis nur überwinden, indem er den Hochbau verlässt und in die Eingeweide des Hauptbahnhofs hinab steigt, um sich selbst ein Bild von den Gegebenheiten in jenem Winkel des Bahnbetriebs zu machen.

Jaja, schon gut, da unten wird irgendwo gebohrt worden sein, meint Stiefes Nachbar und blickt erneut gebannt auf die Bahnanlage und die Miniaturen, welche sich auf den Geleisen bewegen. Ein Bahnhof, zwei Bahnhöfe, ein Dritter, hört Stiefe seinen Nachbarn murmeln. Das wird schon so sein. Ich steige aber jetzt nicht vom Turm hinab, um zu überprüfen, ob da tatsächlich noch ein weiterer Untergrundbahnhof zwischen den Erdschollen zu finden ist. Du willst mir nur einen Bären aufbinden, damit ich meinen guten Fensterplatz abgebe.

Unvermittelt befindet sich Stiefe in ein existenzielles Gespräch verwickelt. Ihm geht es nicht um den Fensterplatz mit exquisiter Aussicht, den der Andere nicht frei zu geben gedenkt. Aus der Vogelperspektive, welche die Bar gewährt, hatte Stiefe den Bahnhof schon mehrmals betrachtet. Der Turm bietet Raum für noch ganz andere Gedanken, als jene, die sich auf die Bahn beziehen. Darum ergänzt Stiefe: Nein, du glaubst mir nicht, weil du kein Vertrauen in die Anderen hast. Nur das glaubst du, was du selber mit deinen Augen wahrnimmst. Nur das akzeptierst du, was du selber siehst und angerührt hast. Du solltest über dich hinaussteigen und den Weitblick, den der Turm in dieser Höhe gewährt, für dich verinnerlichen. Deinen Geist öffnen für das, was die anderen sagen, und nicht in einem Gehege aus eigen gesetzten Grenzen verharren.

Ja, dutzende Geleise führen aus diesem Bahnhof hinaus, öffnen diesen hiermit für die grosse, weite Welt. Aber keines führt aus deinem supponierten Untergrundbahnhof hinauf an jene Oberfläche, die ich mit meinen Sinnen wahrnehme. An eine Maus, die im Erdinneren durch ihre Gänge kriecht, glaube ich erst, wenn ich diese Maus selber in den Händen halte.

Nein, was du nicht sagst! Diese Maus wird dich in die Finger beissen, um dir klar zu machen, dass du nicht erst an sie zu glauben brauchst, wenn du Schmerzen fühlst.

Erst muss ich sie in den Händen halten. Und dann wird sie mir sagen: Auch wenn du mich mit deinen Augen siehst, will dies noch lange nicht heissen, dass ich durch die Erde gekrochen bin. Meine Gegenständlichkeit in deinen Händen manikürt lediglich deine Gedanken, so dass sie trotz meiner Präsenz nichts anderes sind als eine Pomade, die du über dein Denken gezogen hast, dies ohne wirklich zu erkennen, was die Dinge an sich wirklich sind.

Nur die reine Deduktion des realen Wegverlaufs, den die Maus vom Drittbahnhof bewältigte, um in deine Hände zu gelangen, wird dir erlauben, klarer in die Welt unter der Erdoberfläche zu sehen. Du musst dich in das Universum, das du nicht sieht, denkend hinein versetzen. Nur dann wird es dir gelingen, dich für neue Einsichten zu öffnen und hinter die Horizonte zu blicken, die bei dir aus der Grenze bestehen, welche die Erdoberfläche bildet.

Du drehst dich gedanklich, hier oben in diesem Vogelnest, im Kreise, wie ein Vogel, der ständig um den Turm fliegt und sich von diesem vermeintlichen Postulat eines sicheren Lehrsatzes für deine limitierte Argumentationskunst nicht zu lösen vermag. Dieser Vogel ist der dritte Bahnhof, der um dein Hirn fliegt und dich ganz als Maulwurf der Lüfte enttarnt, der blind auf diese Bahn niederschaut und dabei diesen Untergrundbahnhof imaginiert.

Solche Gespräche finden in der obersten Etage des Turmes statt, die, wenn man so hinhört, durchaus die Qualitäten eines Elfenbeinturms tiefsinniger Ideen für sich beanspruchen können. Lauscht man als Gast still mit, so entdeckt man, dass sich in diesem Markplatz des immateriellen Scharfblicks zwei Personen unterhalten, die sich kennen, nicht aber am selben kleinen Tisch auf der eingeglasten Aussichtsplattform sitzen – oder vielleicht doch, so aber Platz genommen haben, also wollten sie zeigen, dass sie nicht zusammen gehören. Zwei verwandte Geister also, die im Eulennest des fünfzehnten Stocks zusammengefunden haben, im Leben aber verschiedene Wege gehen.

*

Die Lok sieht aus wie ein Schalentier, ein Käfer, der behände dem Geleise entlang kraxelt.

Stiefe lacht auf den Stockzähnen. Er will an dem Tag nicht weiter auf diesen dritten Bahnhof eingehen und darauf hinweisen, dass die Haltestation als unsichtbare Einrichtung, von hier oben aus gesehen, die Aufmerksamkeit vom Sichtbaren weglenkt. Zu grandios tut sich auch an diesem Tag das Panorama auf. Stiefe sieht weit. Um die Geleiseanlage liegt die Stadt und etwas in den Hintergrund gerückt der See, der auf die Berge in der Ferne zufliesst und schliesslich mit diesen verschmilzt.

Stiefes Interesse gilt aber ohne Frage und unvoreingenommen der Bahnminiatur im Vordergrund. Die Aussicht ist zu animierlich. Obwohl sich durchaus Bilder von Gewalt mit dieser Bahn verbinden lassen. Kinder verwechseln zuweilen die Eisenbahn mit einer Kegelbahn. Züge sind solcherart programmiert, dass sie auf den Geleisen hintereinander oder aneinander vorbei fahren.

Diese weise Voraussicht hat bei Halbwüchsigen nicht unbedingt Geltung. Sie lassen auf der Modellbahn kurzerhand zwei Loks aufeinander prallen und stellen sie dann wieder aufs Geleise zurück, nachdem die Fahrzeuge kraft des Zusammenstosses von ihrer Bahn katapultiert wurden. Dieses Spiel ist toll! Und lässt sich, ist das Material kindergerecht stabil ausgearbeitet, beliebig wiederholen, so lange, bis die Spielzeuge schliesslich doch an der Spielfreude der Jungs zerbrechen und kaputt gehen.

Nichts von alledem auf der Modelleisenbahn zu Füssen des Turms! Die Züge kommen gut einander vorbei. Keiner prallt in einen anderen, krallt sich in die Seite eines anderen Zuges. Alles ist unter Kontrolle, von unsichtbarer Hand gelenkt. Lautlos, reibungslos, wie bei einer gut gedeichselten Drehorgel, der man lediglich den Ton abgestellt hat, spielt sich drunten auf den Geleisen der Organisationsplan ab. Die Bahn wird nicht von Kindern getakelt. Computer steuern die Anlage. Klein wie Würmer ziehen die Züge über das – als wäre es der Schaltkreis eines Computers – vielfach verzweigte und schier kontemplativ-tiefsinnig wirkende Geleisesystem und tauchen im oberirdischen Hauptbahnhof unter oder in die Erde ab.

Auf dem Boden, auf dem auch der Turm steht, gleiten die Züge taktvoll aneinander vorbei, ohne dass sie sich gegenseitig reiben oder sich sonst wie in die Quere kommen. Die Bahnanlage, die echte, nicht die Spielzeuganlage, zeichnet sich durch ein präzises und diszipliniertes Funktionieren aus. Rechner sorgen für den reibungslosen Ablauf der Arbeitsprozesse, des logistischen Fahrplanmechanismus. Dieser koordiniert zahlreiche Stumpengeleise, Abstellgeleise, leitet die Züge über Brücken, durch Unterführungen und kleinere Tunnels, sicher über die zahlreichen Weichen und Hauptlinien, zuverlässig in die Bahnhöfe hinein und wieder hinaus. Das alles bietet die Präzisionsanlage, welche zu Füssen des Turms liegt –  und wirkt doch, aus der Höhe betrachtet, wie eine Modelleisenbahn, einer echten eben.

Manchmal fährt eine einzelne Lok vorbei. Sie sieht aus wie ein Schalentier, ein Käfer, der behände dem Geleise entlang kraxelt. Weitere Highlights bilden Züge, die internationale Destinationen anfahren. Sie geben der Bahnanlage ein ganz spezielles Gepräge und zeigen: Der grosse Bahnhof ist international angebunden und zieht darum mit den Bahnen im Berner Oberland gleich, die ebenfalls ein internationales Publikum befördern. Beide Verkehrssysteme stellen Vielvölkerstaatplattformen dar. Hier wie dort kommen Menschen aus ganz verschiedenen Ländern zusammen. In den Zügen finden sie zueinander, obwohl sie ganz unterschiedliche Sprachen benützen.

Oben, vom Turmbau, schaut die Anlage ganz schnuckelig aus. Stellwerke sind auszumachen, eine Lokwerkstatt, Gebäude, deren Zweck nicht zu eruieren ist. Spielzeugklein muten die Autos an, die ein ganz Heer an Strassen nutzen, welche die Bahnanlage säumen. Das Strassengewirr wirkt wie ein grosses Kuddelmuddel. Tram und Busse vermitteln einen Eindruck von Ordnung. In diesem Bereich taktet der öffentliche Verkehr das Geschehen.

Vom Adlerhorst aus betrachtet sehen die Häuser, Kirchen und benachbarten Türme aus, als befänden sich all ihre Dächer ungefähr auf gleicher Höhe. Die Distanzen lösen sich auf. Der Blick von oben löscht die Perspektiven aus. Alles wirkt klein und beschaulich, eben wir auf einer wirklichen Modelleisenbahn. Stiefe wischt sich die Augen und staunt über das Phänomen, das die Wirklichkeit in ein Modell verwandelt.

Zwischen den Geleisen liegen an verschiedenen Stellen westentaschengrosse Grünflächen. Auf diesen bewegen sich Männchen, Gestalten. Klitzeklein wirken die Strommasten. Wie schmale Stecken ragen sie aus der Erde. Die Züge fahren vorbei, als ob es über ihnen keinen Oberleitung gäbe. Die Stromabnehmer schauen aus, als griffen sie ins Leere.

Wenn Stiefe jeweils von oben herab, nicht geringschätzig oder hochnäsig, sondern wie aus der Warte eines Bergwanderwegs, in die Tiefe blickt, vermag er die Stromleitungen lediglich als schmale Fasern zu erahnen, die nur das geübte Auge eines Habichts im Detail zu erfassen vermag. Dasselbe gilt für die einzelnen Schienen und Schwellen: Im Rinnsal, das die Geleise bilden, lösen sich die tragenden Elemente der Bahn als Teilstücke vollständig auf und verschwimmen zu einem Ganzen, das den Ausschnitt seines Existenzrechtes beraubt.

Die Stromabnehmer, die ins Leere stossen, gemahnen an die kindliche Modelleisenbahn, auf welcher die Oberleitung eingespart worden ist, weil die Loks den Strom aus der Schiene beziehen. Den Schlägen, welche das Kind seinem Spielzeug versetzt, hätten die Strommasten nicht lange stand gehalten.

Wie bei einer echten Bahn zieht manchmal, aber nicht an diesem Tag, ein Regenschauer über die Modelbahn mit den kaum sichtbaren Masten und bringt sie der rauen Wirklichkeit der Berge nahe. Nebelfelder verdecken das Bild. Regengüsse bauen Schleier vor den Aussichtsfenstern auf. Schneeschauer verdecken die Sicht. Drinnen jedoch spürt Stiefe nichts von der Kälte und dem Wüten draussen.

Von droben gesehen wird auch die Rauheit nicht sichtbar, welche zuweilen in den Zügen herrscht. Züge folgen ihrer Bahn und verlassen die Geometrie des Bahnhofs. Andere fallen ins Bild ein, von der Seite, von hinten, aus den Bahnhöfen heraus. Die Organisation, welche das Bild generiert, weckt Vertrauen. Stiefe verspürt den Wunsch, zu dieser Bahn hinab zu steigen und direkt in die wartenden Züge hinein zu steigen und sich fahren zu lassen wie durch eine Modelllandschaft in einen Raum voller Anmut und gleichzeitiger Wildheit, als ob ihn die Reise in die fernen Berge führe, hinauf zu den Höhen, wo ewig frische Luft ist und Erholung und Natur pur. Die Verlockung ist gross. Stiefe widersteht ihr nicht.

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Hier herrscht Konsumgesellschaft pur.

Um in diese Züge steigen zu können, muss er den Turm verlassen und zusätzlich in den Grossbahnhof hinüber wechseln, was er mit Hilfe der sogenannten S-Bahn ohne Schwierigkeiten erledigt.

Der Bahnhof, der von oben so niedlich und überschaubar wirkt, als ob er von Zwergen auf die Erdoberfläche putzig gesetzt worden wäre, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein Ungetüm, das verschiedene oberirdische Wege und unterirdische Gänge enthält. Sie verteilen sich über vier Etagen. Ein ganzes Sammelsurium an Rolltreppen verbindet die verschiedenen Stockwerke. Die Konstruktion mutet in all ihren Teilen fest gebaut an. Was dem Berg der Fels, ist dem Bahnhof der Beton.

Stiefe staunt jedes Mal darüber, wenn er den Bahnhof betritt, über die grossen Flächen, die er enthält und die nicht für den Transportverkehr genutzt werden. Sobald Stiefe in die Gänge hinab steigt, überfällt ihn den Eindruck, er schreite in ein Labyrinth hinein. Eine ganze Batterie an Geschäften erwartet die Gäste. Die Werbung schiesst sich auf sie ein. Klingende Namen aus der Modebrache, kulinarische Delikatessengeschäfte und die Logos von Kaufhäusern reklamieren für sich die Gunst von Passanten und Zaungästen.

Der Ort bietet ein reiches Arsenal an Waren feil. Repariert wird hingegen nichts. Kein Schumacher hat seine Werkstatt in den langen Verkaufskanälen eingerichtet, kein Schreiner und kein Schneider sein Atelier. Hier herrscht Konsumgesellschaft pur. Wer den Zug nehmen muss, dem fehlt in der Regel die Zeit dafür, Ware, die beschädigt ist, wieder in Stand setzen zu lassen. Die Züge fahren, warten nicht, bis der Schuster dem Schuh eine neue Sohle versetzt oder der Elektrotechniker dem Smartphone ein neue Frontscheibe aufgesetzt hat.

Der Rhythmus der ein- und ausfahrenden Züge ist in diesem Bahnhof hoch. Der Warenumsatz auch. Ein Reparaturdienst senkt die Gewinnausschüttung und steht dem Verkaufsindex lediglich im Weg. Die Gänge im Bahnhof müssen aber frei gehalten werden, damit der Pendlerverkehr zur Stosszeit gut bewältigt werden kann.

Von oben, dem Turm, aus gesehen, wirkt der Bahnhof beschaulich. Hienieden, in den Hallen und Gängen aus Beton, welche die Einkaufsmeile bergen, lautet für viele Leute die Währung Eile. Mit dieser Münze zollen sie den Geschäften ihren Tribut und gehen an ihnen ganz einfach vorbei. Die Abfahrtszeit diktiert den Einkaufstakt. Im Zwang der Eile ist an einen Aufenthalt in den Geschäften nicht zu denken. Führt der Weg trotz der knappen Zeit doch zum Einkauf in einen Laden, gilt die volle Aufmerksamkeit, neben dem Griff nach dem gewünschten Artikel, uneingeschränkt der Arterie, welche so schnell wie möglich aus dem Geschäft wieder hinaus führt. Der nächste Zug wartet.

Obwohl viele Lichter und Leuchtreklamen zur Einkehr in eine Boutique laden, halten die meisten Passanten nicht inne. Dem Flanieren ergeben sich Pendler und andere Reisende, die ein klares Ziel vor Augen haben, nämlich die Fahrt in eine andere Stadt, nicht.

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Die geheimen Augen, die nach allen Seiten blicken, sind von den Bahnhofsverantwortlichen in alle Ecken gesteckt.

Stiefe sendet einen flüchtigen Blick zur Decke, macht da und dort das Auge einer Kamera aus. Lächeln heisst die Devise. Das Geschehen in den Gängen wird überwacht. Die elektronischen Geräte sind vermutlich über die künstliche Interlligenz solcherart programmiert, dass sie in irgendeiner Einsatzzentrale einen Alarm auslösen, wenn sie in den Bewegungen in den Gängen eine Unregelmässigkeit ausmachen, Staus entstehen oder jemand hinfällt. Oder die automatische Gesichtserkennung eine gesuchte Peron ausmacht.

Stiefe wundert es gar nicht, dass eine Person, eskortiert von fünf Polizeibeamten, um eine Ecke verschwindet. Kein Mensch bleibt stehen. Auch Stiefe nicht. Dieser Untergrund hat es in sich. Die geheimen Augen, die nach allen Seiten blicken, sind von den Bahnhofsverantwortlichen in alle Ecken gesteckt und leuchten jeden Winkel aus, so wie es sich für einen Untergrundbahnhof gehört, der in Bezug zur Sicherheit etwas auf sich gibt.

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Der Bahnhof, jedoch, ist voll jener Randfiguren, denen das Leben nicht gut will.

Anders als auf einer sauber geordneten Modelleisenbahn, wo jede Lok die vorgesehene Stelle gut passiert, treibt sich in den Gängen dieses Bahnhofes allerlei Volk herum. Die Passagiere, welche zum Zug eilen oder von diesem zum nächsten wechseln, interessieren die Schicksale der verschwundenen Leute nicht. Keine Zeit dazu. Der Bahnhof ist ein Spiegelbild der Gesellschaft: Die Leute kommen und gehen und verschwinden; niemand weiss woher, wohin. In einem Staat lässt sich der Mensch wegräumen. Der Bahnhof, jedoch, ist voll jener Randfiguren, denen das Leben nicht gut will.

Sie verstecken sich zwischen den Funktionären, die mit Aktentaschen vorbeigehen, mischen sich unter die Schleichenden, die Wänden entlang streichen oder langsam an Schaufenstern vorbei ziehen wie Züge, die eine Verspätung haben und diese nicht mehr einholen; gesellen sich zu jenen, die bereits am frühen Morgen mit der Dose herumstehen und den Franken suchen – nicht jenen, der an der Börse gehandelt wird, sondern, jenen, der Passanten lose in der Börse sitzt und als Anzahlung an ein privat subventioniertes Bier für eine gesellschaftlich gestrandete Randfigur A-fonds-perdu investiert wird.

Wer es eilig hat, dem gleiten seine Augen vielleicht in der Schnelle über die Werbebanner und Werbebilder, die schöne und sorglose Menschen zeigen, wie sie vor einer Kamera mit ihrer Personalität für ein Produkt und die Dauer eines Bildes einstehen. Es kann dabei durchaus geschehen, dass der Schritt für einen Moment stockt, die Sinne an einem Kopf oder an einer Brust auf dem Bild kleben bleiben, um dann abzugleiten und den Schriftzug zu lesen, der das Produkt benennt, für welches die Lanze gebrochen werden soll. Der Zug drängt jedoch. Der Passagier muss weiter.

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Das Treffen der Augen aufeinander kann Stiefe nicht vorbereiten. Die Begegnung ist zu intim.

Stiefe schaut sich um. Sein Blick huscht über die Moden hinweg, die durch die Gänge getragen oder in den Geschäften angepriesen werden. Stiefe begegnet im Gedränge Menschen auf engem Raum und zwar derart nah, dass Schuhe und Kleider unsichtbar bleiben. Auf ihrem Lebensweg geraten die Menschen in dem Gedränge, das in Bahnhöfen herrscht, zuweilen äussert nahe an andere Menschen heran, so dass sich die Schultern fast berühren.

Stiefe geht flink weiter, stockt aber in seiner Eile gleich wieder und zwar in jenem Moment, da sein Blick, beim Kreuzen, in einem der Gänge, einer anderen Person, unverhofft, jeglichen Alters – die Schnelle löscht die Jahresringe aus – kurz über das Augenweiss und die Iris gleitet und dabei die Pupille streift! Ein kurzer Flirt. Auch solches ist in einem Bahnhof möglich. Beim Vorbeigehen. Der Blick, dann, direkt ins Auge, löscht bei dieser unverhofften, überraschenden Begegnung, ob der grossen physischen Nähe, für einen kurzen Augenblick aus, wem das Augenpaar gehört.

Der Blick geht wie ein gelungener Stich mitten ins Herz. Er dringt, mit viel Neugier gefüllt, tief in den fremden Menschen hinein, tiefer noch als des Künstlers technisches Auge hinab reicht. Ob dieser Einbruch unerlaubt oder erlaubt erfolgt, ist unerheblich. Der Augenaufschlag packt den anderen Menschen für die Dauer eines Zögerns.

Das Auge fasst nicht die Hülle, die den Menschen umgibt, dessen Formen und Ausgestaltungen und Einkleidung, sondern enthüllt für die Zeitspanne, die ein Zündholz benötigt, um kurz aufzuflammen, so dass es in Licht und Wärme aufgeht und wegen des Zugwinds des Vorbeigehens gleich wieder erlischt, des Betrachteten Inneres.

Das Gesicht, eine Frau, spielt für den Augenblick keine Rolle. Der Blickschlag aus dem Augenblick, der Blick, der direkt ins Auge sticht, ein Winkelzug des Gehirns, der in die Tiefe stösst, bedingt die Bereitschaft zweier Fremder, dem fremden Blick den Einblick in das eigene Innere zu gestatten. Überraschend entsteht ein Augenkontakt.

Auch wenn Stiefe, als Passant im Bahnhof, auf eine solche Begegnung über das Aug ständig gefasst und sich auch bewusst ist, dass sie aufgrund der Allgegenwart des Menschen in diesem Geviert jeden Moment eintreten kann, so kommt der Kontakt doch urplötzlich zustande.

Das Treffen der Augen aufeinander kann Stiefe nicht vorbereiten. Die Begegnung ist zu intim. Das eigene Auge befindet sich zwar auf der Suche. Aber auf einmal, für einen kurzen Moment: Der Blick in ein anderes Auge erfolgt handstreichartig. Die Verbindung besteht, bevor Stiefe sich dessen versieht.

Die meisten Menschen durchstreifen stieren Blicks den Bahnhof. Im Bahnhofspublikum verbergen sich allerdings immer wieder Individuen, die sich über ihre Augen für andere Augen geöffnet halten und aufmerksam selber dieses andere Auge suchen, um sich mit diesem, zeitlich äusserst begrenzt, keine Sekunde lang, zu vereinigen; aber dennoch für die Dauer, welche sich wegen der immensen Erlebnisdichte als ein Ereignis von ungeheurer Grösse manifestiert.

Der Blick, den Kreuzende auswechseln, den Stiefe wirft und den ein anderer Mensch auffängt, oder den jener streut und Stiefe erhascht, reisst den Menschen aus seinen Träumen und Gedanken und platziert ihn unversehens in eine unbeschönigte, direkte Wirklichkeit, der sich kein Mensch zu entziehen vermag. Der unvermittelte Blick in das Auge trifft tief in jene menschliche Sphäre hinein, die nicht durch den Körper und das Aussehen verstellt und verfremdet wird.

Die Nähe ist beeindruckend. Lediglich den Kragen, der den Hals umwindet, nimmt der Wandelnde im kurzen Moment wahr, in welchem sich sein Blickfeld mit jenem der fremden Person mischt – sofern ein Hemdabschluss überhaupt um den Nacken vorhanden ist und das Kleid nicht in halbverdeckten Schultern endet.

Die Umgebung um das neue Gesicht ist weg. Das für einen Augenblick aufgeflammte Feuer verharrt im Auge und zwar weit tiefer als die prüfenden Glotzen der zahlreichen Überwachungskameras, welche den Menschdurchlauf beobachten und darauf achten, ob sich alles im Rahmen des Gewohnten und Normalen abwickelt.

Dieser flüchtige Blick, länger kaum als ein jäher Blitzschlag, wühlt Herz und Verstand für die Dauer eines Lebens auf. Was das Auge aussendet, vereinigt sich für die zeitliche Spanne, die kaum einen Atemzug ausmacht. Der Moment setzt sich nicht aus Aktion zusammen, sondern aus Stillstand – und was für einem!

Alles, was das Auge in der unaufgeregten Lebenslage des alltäglichen Gewohnheitstrotts normalerweise weiträumig, das ganze Blickfeld abtastend, erfasst, verwischt sich. Das Dunkel der Pupille hingegen wird zu einem Licht, das urplötzlich aufstrahlt. Es geht auf, als wäre da auf einmal in der Bahnhofsanlage eine vulkanstarke Verbindung zwischen zwei Menschen entstanden, die ihren Widerschein nach allen Seiten verbreitet. Ebenso schnell, wie aufgetaucht, erlischt die Erscheinung. Dennoch bleibt als Nachklang eine erhebliche Verwirrung und Sehnsucht.

Denn Stiefes Blick dringt so tief ein, dass er nach der überraschenden Begegnung nicht weiss, was ihm widerfahren ist. Er geht indes wegen der Wucht des Zusammenpralls davon aus, dass der flüchtige Blickkontakt bei der anderen Person ebensolche Verwirrung angerichtet und hinterlassen hat.

Eine direkte Begegnung, die über die Augen entsteht, wie kurz sie auch ist – dieser gefühlsaufwühlende, kurze, warme Blickkontakt brennt sich tief in das Gehirn ein und verwirrt, lenkt die Aufmerksamkeit um.

Der Blick, der über den Weg des Auges in den Anderen hinein findet, der Andere, der für einen Moment den Weg frei gegeben hat, geht nicht ohne Widerhall vorüber. Das Echo schlägt sich im eigenen Leib nieder und verfängt sich dort. Die Begegnung hallt im Körper nach, wie ein Ton, der nachts durch die leeren Gänge eines Bahnhofs schwirrt und von dem Stiefe nicht weiss, was als Quelle wirkt.

Der Blick, der an diesem Tag in seinem Inneren nachhallt, ist so plötzlich aufgetaucht, die Person derart überraschend in sein Bewusstsein gedrungen und daraus von fremden Gestalten, die ihn im Bahnhofsgang kreuzen, wieder verdrängt worden, dass Stiefe überhaupt keine Kenntnis darüber hat, wer hinter dem ursprünglichen Blick steckt.

Der ophthalmische Schuss, der ins andere Auge trifft und tief in das fremde Innere einer Frau oder eines Mannes, einer jungen Frau, eines Jünglings sinkt, blendet Genus und Abstammung aus. Manchmal weiss Stiefe wirklich nicht, wessen Geschlechts der Blick gewesen war, der ihn fixiert hat und an wem er für einen kurzen Augenblick hängen geblieben ist. Des Menschen geschlechtlicher Ausprägung, ob alloerotisch, autoerotisch, aequisexuell, asexuell, genderqueer oder Transgender, spielt auf den Moment keine Rolle.

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Tritt Stiefe wegen seiner Unachtsamkeit jemandem auf den Fuss, ist der gemütstrunkene Augengucker schlagartig wieder hellwach.

Zwei Blicke, die ineinander verhängen, stärken jeweils das Selbstwertgefühl. Der Gang durch den Bahnhof lohnt sich. Stiefe kann stundenlang durch diese Einrichtungen streifen und Leute betrachten. Der erste Kontakt geht meist über das Auge. Es folgen meist allerlei flüchtige Begegnungen, aber zuweilen doch intensive, die ans Herz gehen. Solches ist leicht gesagt: Ans Herz gehen! Sie spannen die Muskeln, elektrisieren die Nerven, geben Kraft und trocknen den Rachen aus, erschüttern, kurz gesagt, den ganzen, inneren Haushalt des Körpers – so dass Stiefe kurz blinzeln muss, um sich wieder zu fassen und auf den Boden des Bahnhofs zurück zu finden.

In den Bahnhofgängen, das kennt Stiefe aus Erfahrung, muss er so schnell wie möglich sicherstellen, dass er seine sieben Sinne wieder beisammen hat.

Übersicht zu haben über das, was im Untergrund geschieht, schützt vor wirklich unliebsamen Begegnungen; etwa mit einer das Deckengewölbe tragenden Säule; mit einem anderen menschlichen Geschöpf, das selber raschen Schrittes unterwegs ist zum nächsten Zug und darum aufgrund der unwillkommenen Havarie mit dem säumigen Passanten äusserst unwirsch reagiert, oder etwa mit der Öffnung einer Rolltreppe, die in die Tiefe führt und welche, hängen die Augen an etwas anderem als dem Weg, den Stiefe vor sich hat, mit der Gefahr verbunden ist, dass er kurzerhand den Abstieg verpasst, das Rollband hinunter purzelt und das Genick bricht.

Stiefe geht weiter. Die Gedanken müssen auf das Ziel fixiert sein, das Stiefe anvisiert, und nicht auf ein fremdes Auge. Die süsse Verwirrung, welche die Menschen näher zueinander bringt und das Leben nicht zu einem Gang über einen geröllbeladenen, unbequemen Weg in einer Bergschlucht macht, kann dann, als zu starke Dosis in andere Augen abgesandt, ganz plötzlich in eine Erfahrung mit saurer Resonanz mutieren – die dennoch, als erhebender Augenblick in der Erinnerung nachklingend, den Tag mit einer feinen Schicht Selbstwertgefühl überzuckert.

Stiefes vielleicht etwas kess-fröhlich wirkendes Schreiten durch den Bahnhof – einige Zeitgenossen werden die Haltung, die Stiefe in den Gängen des Bahnhofs an den Tag legt, wegen seiner stets auf Empfang geschalteten Rezeptoren, sicher mit diesen qualifizierenden Beiwörtern versehen – unterscheidet sich wesentlich von jenem Isidors durch die Bergwelt.

Dort, oben, in den Bergen kann eine kurze, gefühlsmässig stark aufgeladene Gemütslage, wie sie Stiefe eben mit dem Blick in das Auge eines anderen Menschen erlebt hat, den sicheren Tritt, kommt diese im falschen Moment zustande, erheblich und gesundheitlich nachhaltig stören. Für das Begehen eines Bergweges ist absolute Konzentration unabdingbar. Eine Unachtsamkeit vermag den Sturz in die Tiefe einzuleiten. Dieser kann sich als weitaus schmerzlicher erweisen als jener über die Rolltreppe hinunter aufs Perron. Den Fall in die Felsen beendet oftmals der Tod. In den Bergen achtet darum Isidor Poppa darauf, wohin er den Fuss hinsetzt – und schaut den Leuten nicht ins Gesicht.

Ganz anders im Bahnhof. An dem Ort fördert der abgelenkte Blick nicht den Sturz in die Tiefe einer Felsenschlucht. Stiefe erstes und vorrangiges Hindernis ist und bleibt, wenn er beim Gang durch die Bahnhofscouloirs nicht aufpasst, der nächste Passant oder, was auch im Bereich des Möglichen liegt, die nächste Passantin. Der Zusammenprall ist zuweilen unerwünscht und wird als unpassend angesehen. Denn das öffentliche Areal, bei aller Intimität, das es trotz der sachlichen Vorschriften zur Wahrung der Distanz zwischen den Nutzern der Bahnanlage gewährt, steht Bummelnden selbstverständlich nicht als Boudoir zur Verfügung.

Tritt Stiefe wegen seiner Unachtsamkeit jemandem auf den Fuss, ist der gemütstrunkene Augengucker schlagartig wieder hellwach. Auf diese Weise wird Stiefe bitterbös in eine Wirklichkeit zurück geholt, die nicht aus Kuschelecken oder anmutigen Alplandschaften besteht, sondern aus Betongängen und Heerscharen von Leuten, welche zweckgerichtet auf den Zug eilen. Stiefe muss aufpassen. Für ihn können sich böse Abgründe auftun.

Infolge des plötzlich wach gewordenen, überwältigenden Gefühls hängt Stiefe in einer Unsicherheit wie an einem Seil, das ihm der Berg als vermeintliche Sicherung gesteckt hat. In diesem Schwebezustand, baumelnd an einem Band, von dem er gänzlich ignoriert, wer das andere Ende hält, trottet Stiefe etwas unachtsam durch das Bahnhofareal, bis, auf welche Weise auch immer, urplötzlich der Film der schönen Gefühle reisst und der Bahnhof als banaler Umsteigeort und gemeiner Warenumschlagplatz in den geistigen Vordergrund rückt .

Auf diese Weise aufgeschreckt und abgebremst in seinen Träumen, zurückgeholt auf den festen Boden der gesetzten Tatsachen, wird sich Stiefe erneut der Masse der Leute gewahr, die sich durch die Gänge bewegen und auf die Treppen stürzen. Keinem und jedem, keiner und jeder kann der Blick, den Stiefe aufgefangen hat, gehören. Die Masse bleibt ihm die Antwort schuldig, mit wessen Pupillen er sich für eine kurzen Moment verband.

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Er bewegt sich hin zum Beginn der Rolltreppe, die ihm als steiler Abstieg gleichsam wie ein fremdes Auge die Tiefe des eigenen Ichs zeigt.

Stiefe findet sich nun ganz überraschend, wie von den Gängen ausgespuckt, auf der ebenerdenen Ebene des Bahnhofareals wieder. Eine mächtige Tafel hängt als Kronleuchter herab vom Deckengewölbe in die Halle. Die Tafel informiert über die Destinationen, welche die Bahn im Augenblick anfährt. Es sind derer viele. Alle Himmelsrichtungen werden angesteuert. Züge nach tausend Orten stehen dem Fahrgast zur Verfügung. Er braucht sich nur in einen Zug zu setzen und schon startet die Fahrt – nüchtern gesagt – zum Reiseziel.

Stiefes Müssiggang heisst ihn, sich entscheiden. Er will nicht den ganzen Tag, als ob er ein liebesentzogene Singdrossel wär, in der Untergrundkulisse herumzustreuen. Das entspricht nicht seinem Wunsch. Schliesslich ist er nicht in diese Grundanlage hinab gestiegen, um als Ganggeher anderen Leute auf Schritt und Tritt aus dem Weg zu gehen. Er hat, oben im Turm, einer Verlockung nachgegeben. Nun muss er sein Ansinnen in die Tat umsetzen. Er muss sein Fahrziel wählen.

Das Tageslicht leuchtet die Halle hell aus. Stiefes Blick streift über das Bahnangebot und nimmt die verschiedenen Ortsnamen zur Kenntnis. Innerlich tippt er auf Bern. Der Zug gelangt in schneller Fahrt an den Hauptort des Landes. Die hohe Geschwindigkeit verspricht Kurzweil und auch etwas von Gefühl von Freiheit.

Für die Fahrt muss Stiefe zurück in den Untergrund. Er bewegt sich hin zum Beginn der Rolltreppe, die ihm als steiler Abstieg gleichsam wie ein fremdes Auge die Tiefe des eigenen Ichs zeigt. Dort unten liegt die Zugsschleuse, die er allzu gut kennt. Unten, am Ausgang der Rolltreppen, starten, in unbekannten Bahnhöfen, solchen, die Stiefe noch nie begangen hat, Gänge, von denen er nicht weiss, wohin sie führen.

Wie andere grössere Passagierumsetzungsmaschinerien verfügt auch diese Bahnumsteigeeinrichtung über verschiedene Stockwerke – auch wenn der Gast im Turm dies skepsisbasiert und bar jeglicher Empirie in Zweifel zog. Drei Zugsabfertigungsräume liegen, philosophisch nicht hinterfragt, ganz sachlich unter der Erde, einer über dem Boden und zwar als sogenannter Sackbahnhof. Einmal vor Ort, ganz pragmatisch ausgeforscht und auf diese Weise in die eigene Gedankenwelt eingebettet, fügen sich die Bausteine der Bahnhofstatt zu einem formvollendeten Puzzle zusammen, das sich grossartig als Orientierungsplattform darbietet, um Übersicht in dem doch stattlichen Bahnhofsareal zu gewinnen.

Das denkt Stiefe, wie er auf der Rolltreppe Fuss gefasst hat und sich nun hinunter tragen lässt. Stiefe schaut kurz über die Schulter zurück. Die alte, grossartige Bahnhofshalle schliesst den ebenirdischen Gebäudekomplex ab. Der Bau wird nicht mehr für den Bahnverkehr genutzt. Er dient als gedecktes, wetterfestes Gelände für verschiedene Events, die mit Bahn nichts zu tun haben. Märkte werden an dem Ort veranstaltet, Konzerte und Sportanlässe gegeben, Fachmessen durchgeführt.

Stiefe schaut vorwärts. Zu den unteren Stockwerken, dort, wo auf den Durchfahrtslinien des Bahnhofs die Züge aus der Welt von oben hinab zu den Perrons in der Erde Tiefe fahren, um die Passagiere zu entlassen und aufzunehmen, führen verschiedenartige Treppen hinab. Lange, mit stabilen, fixen Stufen versehene Betongebilde und auch solche, deren metallene Treppenteile über Schienen nach unten gleiten.

Letztere agieren mechanisch autark. Befindet sich niemand auf ihnen, steigen die technischen Steighilfen stromsparend langsamer hinauf und hinab. Tritt ein Fuss auf das stählerne Reptil, beschleunigt dieses seine Rotation. Das intelligente System ist gut durchdacht.

Schon viele Male ist Stiefe, wie durch die eigene Gedankenwelt, deren Winkel er noch nicht alle erkundet hat und kennt, durch fremde, verwinkelte Bahnhofsschluchten geirrt, ohne dass er den Ausgang aus eigener Kraft fand. Schilder mussten ihm den Weg hinaus aus der Wirrnis weisen.

Dennoch liebt er es, immer wieder in die unbekannten Tiefen von Bahnhöfen, die er bisher noch nicht ausgeforscht hat, hinab zu steigen und sich in den Gängen zu verlieren; die verwinkelten Korridore gleichsam als Spiegelung des eigenen Untergrundes, des Bodens, auf dem er existenzialistisch, für sich selber verantwortlich steht, zu durchschreiten. Und auf diese Weise die eigene Lebenslandkarte zu erforschen und sich bewusst zu werden, wie verschlungen im Grunde jene Wege sind, die er selber durch sein eigenes Sein geht.

Den Ausgang findet er immer. Die Tafeln weisen die Richtung. Die Wege ändern sich. Der Gang durch die Bahnhöfe gleicht einem prickelnden Abenteuer. Die Klarheit dieser Erkenntnis vermittelt Stiefe angenehme Emotionen und vor allem auch wohltuende Stimmungen.

Die Bahnhöfe halten ein ganzes Arsenal an Angeboten bereit, welche Stiefes Gemütslage zu beeinflussen vermögen. Er denkt dabei nicht an den Anblick von Reklameschriften, Spruchbändern oder Werbebildern, welche Kaufkraft in die Läden locken sollen; nicht an Werbebanner, die eine bestimmte Marke und ihre Produkte anpreisen, so dass der derart geweckte Konsument, weil in seinem Gehirn die entsprechenden Neuronen angeregt werden, sich des Labels besinnt und, wenn schon nicht im Bahnhofshopping, so doch bei Gelegenheit ausserhalb des Bahnhofsareals an einem anderen Ort vorbei schaut, um ein neues Produkt zu erwerben.

Der Bahnhof bietet neben jenen von den Augen ausgesandten Signalen und den Marketinginstrumenten, die mit Slogans, Grafikelementen, Photographien und Farben operieren, für die Passagiere noch weit praktischere Informationskanäle. Diese begleiten als Informationsquellen in weisser Schrift auf blauem Hintergrund den Reisenden und weisen ihm den richtigen und kürzesten Weg zum gesuchten Perron oder jenen zum Ausgang, sofern der Reisende den Bahnhof zu verlassen gedenkt.

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Die Bahnhofsinformationen zeigen keine Unregelmässigkeit an.

Stiefe erreicht den unteren Stock. Er verlässt die Rolltreppe, die erste, die er nehmen muss, um den Zug in die Bundeshauptstadt zu erreichen. Er durchquert einen Gang und passiert ein Informationsdesk. Blickt kurz auf diesen.

Unter den blau-weiss gehaltenen Informationsträgern finden sich Tafeln, welche nicht auf Papier oder bedrucken Hinweisschildern, aber über Bildschirme Rohdaten verschiedenster Art verbreiten. Im Augenblick steht auf diesen zu lesen: „Bei grösseren Beschränkungen im Bahnverkehr erhalten Sie hier weitere Informationen.“

Stiefe atmet durch. Die Bahnhofsinformationen zeigen keine Unregelmässigkeit an. Der Bahnverkehr läuft wie am Schnürchen. Unter den Passagieren, die Stiefe kreuzt, ist keine Aufregung zu beobachten. Züge und Reisende verlassen zu präzisen Zeiten der Bahnhof. Das Angebot ist verlässlich. Reibungslos verläuft der Ablauf der Arbeitsprozesse wie bei einer Modelleisenbahn, über welche der Bahnmeister die volle Übersicht hat und keine Kinderhand mit willkürlichen Aktionen dazwischen fährt. Sekundenzeiger in den Bahnhofsuhren takten den Zeitplan.

Er geht davon aus, dass keine grössere Einschränkung seine Reise behindern wird. Er kann sich auf eine flotte Fahrt freuen. Die Strecken liegen frei. Die Zügen fahren. Stiefe wird sein Ziel fahrplangerecht erreichen und danach entscheiden, wie es mit dem Tag weiter geht.

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Der Fluss versiegt nicht, der nahe See liefert neues Wasser nach.

Stiefe nimmt eine weitere Rolltreppe, die ihn tiefer in den Erdboben führt.

In den Stosszeiten befördern diese rollenden Treppen mit vereinten Kräften Unmassen von Menschen in die Betonschlunde hinein, die zu Zügen führen. Wer den Zug nehmen will, fährt über diese ingeniösen Wunderdinger, die aber noch nicht die Funktion von Robotern erfüllen, tief in die Erde hinab. Zu sehr sind sie in ihren Möglichkeiten eingeschränkt und zu wenig kommunizieren sie mit dem Menschen.

Dort, im Boden, bedarf es eines grossen Grundvertrauens, denn der Grund lautet: Die Geleise führen unter Flüssen durch. Käme es in der Dichtung, die den Grund über der Perronhalle bildet, zu einem Leck, würde sich das Wasser von den Flüssen obenauf durch Erde und Stein in den von Menschenhand geschaffene Hohlraum ergiessen. Das Wasser schösse schnell in die unterirdische Aus- und Einstiegshalle des Baus. Der Albtraum jener würde wahr, die davon Kenntnis haben, dass über diesem erdversenkten Teil des Bahnhofs hinweg viel Wasser fliesst. Es stiege in schnellem Tempo die Treppen hinauf und triebe die Leute, die vor dem Nass fliehen, vor sich her, empor auf die rettende Erdoberfläche. Der Fluss versiegt nicht, der nahe See liefert neues Wasser nach.

Anderer Verwertung als durch Wasser dient jedoch das Konstrukt. Die dichten, treppenbewehrten Betonschächte, die in die Tiefe führen, erinnern an Fabrikschlotte, die in den Boden eingelassen sind, um die Tiefe mit Sauerstoff und Menschen zu versorgen. Die Maschinerie muss laufen. Der Untergrund muss atmen wie ein Tier, das in der Erde liegt und dort seine Arbeitsleistung erbringt, ganz wie das Erdreich, das den Kompost aufnimmt und diesen in neue Erde umformt. Die von Menschenhand entworfene Umwälzmaschine im Bahnhofuntergrunds dient nicht der Erderneuerung, sondern dazu, die Investitionen der Bahngesellschaft, die sie in den Boden setzte, in schwarze Zahlen zu verwandeln.

Der Mensch will seinesgleichen befördern, von einem Ort zum nächsten, dies auf dem schnellsten Weg. Der führt oft durch die Erde, durch Felsen, durch Böden, welche der Schaffenskraft der Menschen, wenn er seine Verkehrsadern plant und realisiert, kaum Widerstände in den Weg legt. Wege befinden sich über der Erde. In dieser liegen die Kanäle, welche die Bahn nutzt, um Mensch und Ware zu transportieren.

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Die Tore haben einen langen Atem, transportieren unentwegt Leute.

Steife gleitet auf der Rolltreppe den betonbewehrten Gang hinab, der sich wie ein Kamin in das Erdinnere frisst. Der Bahnhof, von dem hier die Rede ist, ist tief mit der inneren Kraft des Gesteins verbunden, die den Planeten zusammenhält; der Kraft, die dafür sorgt, dass der Humus das Leben erhält und die Verwesung sich in frische Nahrung für die Pflanzenwelt verwandelt, ohne welche kein Tier über der Erde überlebt; der Kraft, dem Aktivismus, der dafür sorgt, dass sich die Erde immer wieder erholt. Für viele ist eine Zugfahrt eine Erholung.

Funktional ist der Bahnhof gestaltet. Er muss die Menschen schnellstmöglich zu den Zügen oder von diesen weg befördern. Zimperlichkeit und Fürsorge haben an einem derartigen Ort keinen Platz. Das Tor in den Untergrund muss die Menschen aufnehmen und rechtzeitig wieder ausstossen, damit das Unternehmen läuft und die Rohre nicht verstopfen.

Die Tore haben einen langen Atem, transportieren unentwegt Leute. Der Strom will fliessen. Wer sich diesem entgegen stellt, wird weg gepresst, auf die Seite gedrückt, an die Wand gestellt, verpasst den Zug. Heulen nützt nichts. Im Bahnhof gibt es keinen Platz für Sentimentalitäten.

Der Mensch vertraut dem Beton. Er betritt das Areal ohne Sorge, steigt unbeschwert hinab in den Untergrundbahnhof. Drunten, im Loch, warten schon viele Leute auf die Züge. Dort sieht nichts nach Modelleisenbahn aus. Das Perron ist Realität. Es herrscht bereits ein beachtliches Gedränge, eine angespannte Stille. Alle wollen auf den Zug. Alle wollen einen Sitzplatz ergattern.

Doch an dem Tag bietet die Bahn eine kleine Überraschung. Stiefe schaut verdutzt zur Informationstafel hinauf, wie er, von der Rolltreppe entlassen, das Perron betritt. Die Abfahrtszeit steht fest auf der blau eingeleuchteten Informationstafel. Diese orientiert die wartenden Passagiere aber auch über eine kleine Verspätung. Sie beträgt sieben Minuten. Oben, auf den Tafeln in den Gängen, stand nichts von dieser Verzögerung. Das ist ein Nachteil von grossen Bahnhöfen, in welchen das eine Stockwerk nicht weiss, was das andere tut.

Der reibungslose Ablauf des Verkehrs ist gestört. Was von oben, vom Turm aus gesehen wie ein Präzisionsuhrwerk wirkt, zeigt Mängel. Die Maschinerie Bahn hat einen Kleckser, einen Makel, der sich über die blaue Tafel im Untergrund der Öffentlichkeit kundtut. Immerhin agiert die Technik und schlägt die Verspätung an. Die Passagiere werden durch die Anzeigetafeln über die Unregelmässigkeit informiert.

Stiefe nimmt es hin. Kann vorkommen, sagt er sich. Er hofft, dass aus der Verspätung nicht mehr wird.

Früher, als die Technik dem Menschen noch nicht richtig unter die Arme griff, führte etwa das verspätete Eintreffen von Regen zu einer Katastrophe. Blieb der Segen von oben aus, blieb die Ernte weg. Folgen waren Hungersnot und eine schwere Belastung der Gesellschaft, wobei das einzelne Gesellschaftsglied, der Mensch, durchaus seinen Teil abbekam. Ganz allgemein erwies sich eine derartige Belastung als ein grosses Ungemach mit nachhaltiger Wirkung für alle, die von dem Elend heimgesucht wurden.

Der Mensch, der in eine derartige Mangelsituation hinein gerät, dem verdreht sich die Zukunft in eine Halluzination. Aus der gesellschaftlichen Atmosphäre, die ihn umgibt, steigt die Verzweiflung und packt ihn an der Gurgel. Diese urmenschliche Begleiterscheinung, welche nur in der Not aus ihrem Versteck steigt, lässt keinen Ausweg offen. Drückt fester den Menschen an sich, wenn er sich von ihr zu befreien sucht.

Der Wunsch aber, dass es besser wird, schwingt trotzdem weiter mit und stemmt sich gegen die Härte der Realität, die über den Menschen herein gebrochen ist. Zwar sagt sich: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch bis diese stirbt, sterben viele andere.

Das ist die Wirklichkeit der Hungersnot, grosser Not, die schon manchen, später, als die Züge zu fahren begannen, an den Rand der Geleise gebracht hat; getrieben von der Aussichtslosigkeit des eigenen Seins, des Hungers nach einer Lösung aus der eigen ausweglosen Situation, treibt die Not den Verlassenen auf das Geleise. Dann, nach der Durchfahrt des schnellen Zuges, wird der Körper in Stücke geteilt aufgefunden werden, als ob er einen Berg hinab gefallen und in den Felsen zerschellt sei.

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Eine Verspätung stellt dennoch einen bedenklichen Faktor im System dar, das der Mensch ausgedacht hat und als brauchbare Assistenz für sein Sein einsetzt.

Das Phantom der Existenzsicherung ergreift Stiefe an dem Ort, wo er auf den Zug wartet, nicht. Zu klein hört sich die angekündigte Verspätung an. Stiefe fühlt sich während des Wartens auf den Zug in keiner Weise von irgendwelchen Sorgen bedrängt. Die Technik pendelt die Gefahren aus. Gute Transportwege sichern im Lande zuverlässig den Warenaustausch. Dort, wo Mangel herrscht, wird zusätzliche Nahrung hingeführt. Fällt ein Zug aus, wird er durch einen andren ersetzt. Die Mitglieder der Gesellschaft greifen sich dort, wo Hilfe dringend gebraucht wird, unter die Arme. Die Gesellschaftsordnung tariert Makel, Engpässe und Unwegsamkeiten mit viel Aufwand, Technik, Können und Kosten aus; räumt alles aus und weg, was die Natur und alles, was sich mit ihr verbindet, dem Menschen in den Weg legt. Das Leben gleitet viel besser durch die Zeit, als es vormals der Fall war.

Eine Verspätung stellt dennoch einen bedenklichen Faktor im System dar, das der Mensch ausgedacht hat und als brauchbare Assistenz für sein Sein einsetzt. Auch wenn die Passagiere auf die angekündigte Verspätung nicht reagieren, schwingt doch in den Reihen der Wartenden der Eindruck mit, dass da etwas nicht die Ordnung wahrt und darum den üblichen Rahmen zuverlässiger Dienstleistung sprengt; eine Mangelerscheinung unsichtbar irgendwo im Organismus, der den unterbrechungsfreien Ablauf der Bahnanlage steuert und sichert, ihr Unwesen treibt.

Auch Stiefe blickt nun doch mit leicht besorgtem Stirnrunzeln zur blauen Anzeigetafel hinauf wie zu einem Wesen höherer Weihe, das als Orakel das Schicksal des Menschen verkündet. Stiefe hört hin, wie es aus den Lautsprechern von der Decke im Untergrundbahnhof tönt: „Auf Geleise einunddreissig fährt der Zug nach Bern ein.“ Niemand reagiert auf die Durchsage. Der Leute werden noch mehr, die auf diesen Zug wollen. Anders als in Zermatt, wo die Informationen über die Lautsprecher in Chinesisch und Japanisch weiter gegeben werden, beschränken sich im Hauptbahnhof der sich international ausschreibenden Stadt, die im weltweiten Vergleich aber doch als grosse Kleinstadt angesehen werden kann, die Aussagen auf Deutsch.

Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die populationsmässig grösste Schweizer Gemeinde Besucher aus vielen Ländern aufnimmt, wo ganz unterschiedliche Sprachen geredet werden, und es darum als aussichtslos erscheint, Ansagen in all jenen Sprachen zu liefern, welche die Besucher des Ortes verwenden.

Global gedacht käme eine Ansage in englischer Sprache, die kompetent vorgetragen wird, den Bedürfnissen der vielen Passagieren aus fernen Ländern entgegen, welche Angaben über ihre Zugsverbindungen wünschen. Englisch aber, in der Stadt eine Fremdsprache, birgt die Gefahr, dass die Aussprache nicht standesgemäss klingt.

Andersherum gesehen: Indem für die Durchsagen im Bahnhof die internationale Verkehrssprache nicht benützt wird, kann, so denkt Stiefe, der Bahnbetreiber vermeiden, dass eine biedere Artikulierung der englischen Ansagen-Vorlagen die Besucher aus anderssprachigen Ländern vergrault, sie gar auf ein falsches Perron lotst oder, wegen des Einflusses des autochthonen Zungenschlags bei der Aussprache der bahnrelevanten Mitteilungen, die Lachmuskeln der Fremden anregt.

Die Ansage sogar in all den wichtigen Sprachen, welche auf der Erde grosse Bedeutung haben, also weit verbreitet sind und von vielen Leuten gesprochen werden, bildet auch nicht den Ausweg aus dem sprachlichen Engpass umfassender Information. Die Bahnverantwortlichen müssen sich sicher gesagt haben, denkt sich Stiefe, dass die Wahl des richtigen Sprachangebotes nicht ganz einfach ist und sorgfältig auf der Waage der Völkerverständigung ausbalanciert wurde. Die Stadt will keinen Touristen vor den Kopf stossen, indem sie in den Durchsagen am Bahnhof eine bedeutende Sprache auslässt, während sie einer weniger bedeutenden den Vorrang gibt. So was führt zu schlechter Laune. Unzufriedene Touristen geben weniger gern Geld aus.

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Jeder helfe sich selber, so gut er kann.

Zudem muss nicht unbedingt die Menge der Leute, welche eine identische Sprache verwenden, ausschlaggebend für die Wahl genau dieser Sprache sein. All diese Leute können einer Kultur angehören, welche nicht die Kaufkraft zu ihrem höchsten Gut erklärt, sondern anderen Werten den Vorzug gibt, wie etwa Menschlichkeit und Mitgefühl. Doch Geld braucht es, will ein Tourist die Stadt besuchen, von der hier die Rede ist, viel Geld.

Zu viele Sprachen in einer Durchsage gedrängt, verhindern zudem eine schnelle Information. Schon rein wenn nur die vier offiziellen Landessprachen verwendet würden, um die Passagiere über Abfahrtszeit und Umsteigemöglichkeiten zu orientieren, führte dies auf dem Perron zu einem Vortrag gefühlter endloser Länge. Der angesagte Zug wäre längst abgefahren, bevor noch die Ansage sich ihrem Ende nähert. Dies auch bei sieben Minuten Verspätung.

In dieser internationalen Stadt weiss man zudem: Jeder weiss sich selber zu helfen. Oder wie das Fazit der Lautsprecheraussage lautet: Jeder helfe sich selber, so gut er kann. Jeder schlage sich, wie ihm beliebt, durch die Zeit, welche die Lautsprecher die Verspätung totschweigen.

Stiefe schaut sich um. Bahnpersonal, das helfen kann, steht an diesem Bahnhof nicht herum. Leute zu engagieren, die Informationen weitergeben, kostet Geld. Zeit ist an einem solchen Ort zu kostbar. Sie zählt sich in Verspätungen, die nicht zustande kommen. Jede nicht verlorene Sekunde bedeutet einen Gewinn. Verlust darf nicht entstehen. Pünktlichkeit hat oberste Priorität. An der Statt der Bahnbeamten geben die Abfahrtstafeln, die an der Decke hängen, darüber Auskunft, wohin die Züge fahren. Zu diesen Lichttafeln der automatisierten Bahnhofsauskunft muss der Blick wie zu einem Gott steigen, der über allem steht und die Dinge regelt. Zuweilen begibt sich die Bahngesellschaft auf Augenhöhe mit den Passagieren und platziert darum ihre elektronischen Informationsgeber an Seitenwänden oder in speziell dafür vorbereiteten Kästen.

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Aufbruchsstimmung kommt auf.

Die Verspätung hält sich. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückt um sieben Einheiten vor. Ein fernes Grollen macht sich bemerkbar. Dieses eilt warnend dem herannahenden Zug durch die Tunnelröhre um einige hundert Meter voraus. Der Schall ist schneller als das Eisen der Räder, die über die Geleise rollen. Der Ton bringt Bewegung in die Menge, die auf dem Perron wartet. Die Leute treten etwas vom Perronrand zurück. Aufbruchsstimmung kommt auf.

Rollkoffer werden in Position gebracht, Aktenmappen fester gepackt, eng an den eigenen Körper gedrückt. Sie sollen jene Personen nicht behindern, die aussteigen, und auch jene nicht, die einsteigen. Der Zug fährt ein und kommt zu stehen.

Vor den Eingangstüren ballen sich die Leute zu einer dichten Einstiegstraube zusammen. Die Passagiere, die sich vom Zug abmelden, werden freundlich durchgelassen. Eine schmale Gasse in der Menschentraube gewährt Durchgang. Die Leute verhalten sich diszipliniert. Diesen freiwilligen Tribut zahlen sie der Bahn, damit sie einen reibungslosen Ablauf der Maschinerie gewährt.

Sobald der letzte Passagier ausgestiegen ist, schliesst sich die Gasse, welche die anstehende Menge gebildet hat, und die Wartenden drängen in den Wagen. Das Passagieraufkommen ist nicht sehr gross. Alle finden einen Sitzplatz, wenn auch nicht den gewünschten – am Fenster und in Fahrrichtung. Stiefe setzt sich.

Die Lautsprecheranlange im Wagen meldet sich, heisst die Passagiere Willkommen und zelebriert Kundennähe: „Wir begrüssen Sie im Zug nach Bern. Er fährt ohne Halt bis Bern. Wir wünschen ihnen eine gute Fahrt.“ Eine weibliche, computergesteuerte Normstimme verkündet dies. Die Aussage beruhigt. Stiefe sitzt im richtigen Zug.

Der Zug ruckt an und nimmt flotte Fahr auf. Das Perron verschwindet. Die verschiedenen Augen des Bahnhofs bleiben zurück: Die Kameras, die nach Kriminalität ausschauen; die Taschendiebe, die nach Beute äugen; das Wachpersonal, das gewissenhaft patrouilliert; die Sperber der Zugsbehörden, in Uniform oder Zivilkleidung, die für einen sicheren Ablauf der Aufgaben, die ein Bahnhof zu erledigen hat, sorgen. Sicherheitsbehörde und Bahngesellschaft sind froh um jeden Zug, der den Bahnhof unbeschadet verlässt.

Der Zug fährt schnell. Die Eile flösst Vertrauen ein und zeugt für die materielle Qualität der Zugskomposition, in der Stiefe die Reise, ihren Beginn, geniesst. Das Rollmaterial wurde mit grosser Präzision und viel Fachwissen hergestellt. Dieses gewährleistet eine ruhige Fahrt. Der Wagen rollt. Er hält auf dem Geleise, was er leisten muss: sich gleichmässig und geradlinig fortbewegen.

Tageslicht. Der Zug tritt aus der Erde heraus, schiesst nun über diese hinweg, dann über eine Brücke und wieder zurück auf die Erde. Biegt schliesslich in die Hauptstrecke ein, die ihn auf sicheren Eisenschienen nach Bern führt.

Die sieben Minuten Verspätung sind längst vergessen. Der Zug fährt ruhig dahin. Die Passagiere widmen sich ihrer persönlichen Beschäftigung. Dösen. Blicken zur Landschaft hinaus. Vorbahnhof. Die Lautsprecher im Wagen erzählen etwas vom Speisewagen, der sich in der Mitte des Zugs befindet. Niemand rührt sich. Stiefe fühlt sich geistig wartungsfrei zufrieden. Er schätzt sich glücklich, dass die computergesteuerte Stimme in gutem und verständlichem Deutsch daher kommt und klare Informationen und Anweisungen gibt.

In das traute Gemurmel der Räder, das ins Wageninnere dringt, mischt sich eine weitere Durchsage: „Geschätzte Fahrgäste, helfen Sie uns die Züge sauber zu halten. Entsorgen Sie Ihren Abfall am Bahnhof statt im Zug.“

Die Fahrgäste schauen sich verdutzt an. Unausgesprochen, lediglich über den Blickkontakt, teilen sie die einhellige Auffassung: Das ist aber eine nette Aufforderung. Ulkt das Unternehmen die Passagiere an? Stuft die Bahn diese gar als ihre Angestellte ein. Das Paradox löst ein leichtes Schaudern in den Reihen der Fahrgäste aus. Stiefe überlegt: Der Angestellte bezahlt das Ticket für seine Fahrt. Der Arbeitgeber zahlt für die geleistete Arbeit nicht. Darum sagt sich Stiefe: Der Dreck soll bleiben, wo er liegt.

Der Abbau an Arbeitsplätzen im Rahmen der weltweiten Automatisierung, die auch die Bahn zwischen Zürich und Bern erfasst hat, führt dazu, dass die Wagen nicht mehr gemäss jener Normen gereinigt werden, die einen adäquaten Kundenservice gewährleisten. Die betrieblichen Einsparungen treffen auch die Sauberkeit der Fahrzeuge. Stiefe vertritt jedoch für sich die Auffassung, dass sich die Fahrgäste nicht anmassen sollen, jenen Arbeitern und Arbeiterinnen, Menschen zum Teil mit geringerem Ausbildungsniveau und somit weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt, ihren Arbeitsplatz wegzunehmen, nur damit die Bahn durch diesen Arbeitsplatzabbau grösseren Gewinn erzielen kann. Und zudem denkt sich Stiefe: Das Fahrtticket erhebt keinen Anspruch der Arbeitgebers Bahn auf eine Arbeitsleistung des beförderten Fahrgasts.

Der Zug passiert den erste Vorortsbahnhof. Der zweite nähert sich. Der Zug behält die Geschwindigkeit nicht bei. Bremsgeräusche sind zu vernehmen. Das bisher beherzte Tempo verliert an Elan. Der Intercity-Zug rollt mit deutlich verminderter Geschwindigkeit in den nächsten Vorortsbahnhof ein und bleibt abrupt an einem Perron stehen. Zehn Minuten kaum ist er gefahren, immerhin aber länger als die Verspätung währt.

Die Minuten vergehen. Nichts geschieht mit dem Zug. Tausend Passagiere warten. Mehr als mehrere Flugzeuge zusammen fassen. Die Minuten vergehen. Nach der Durchsage über den Abfall blicken sich die Passage im Zugsabteil erneut erstaunt an. Niemand weiss Rat. Der Lautsprecher schweigt. Ist die Präzisionsmaschinerie, nachdem der Zugsführer bereits eine Verspätung ins Logbuch eintragen musste, erneut aus dem Raster geraten? Hemmt ein Personenunfall den Verkehr? Steht der vorausfahrende Zug auf der Strecke? Muss die Software der Lokomotive neu gestartet werden? Verhindert eine Störung an der Geleiseanlage die Weiterfahrt? Wird der Lokführer ausgewechselt, weil er Opfer eines plötzlichen Unwohlseins wurde? Hat es zu wenig Zugpersonal an Bord?

Die sonst sehr plauderfreudige Lautsprecherstimme bleibt stumm. Kein Computer regt sie zu einer Durchsage an. Der Zug steht und mit ihm die ganze Technik, die er enthält. Der Mensch schweigt.

Stiefe geht davon aus, dass sich das Gefährt innert nützlicher Frist wieder bewegen wird, und blickt zuversichtlich zum Fenster hinaus. Die Bahn wird die Passagiere nicht an diesem Bahnsteig sitzen lassen, auf welchen sie nicht hinaus treten können. Die Türen sind verriegelt. Wer hinaus will auf das Perron vor den Fenstern, muss die Notöffnung betätigen. Niemand will aussteigen, niemand will hier den Zug wechseln. Die Kundschaft will nach Bern und weiter in die Westschweiz befördert werden – so auch Stiefe.

Keine Nervosität kommt auf. Die Leute im Wagen hängen ihren Gedanken nach und träumen Löcher in die Landschaft, die sich nicht bewegt und aus einem Bahnhof besteht, sofern die Augen im Inneren nicht auf den Bildschirm von Computern und Smartphone gerichtet sind.

Stiefe blickt zum Klarsichtfenster hinaus auf das gegenüberliegende Durchgangsgeleise des Bahnhofs, wo Züge nach Fahrplan zirkulieren, vermutlich, und die Menschen zur Verwirklichung ihrer Träume nach allen erdenklichen Zielen hin transportieren.

Stiefes Gedanken gehen während der Wartezeit hinaus in die Welt, die er erreichen will. Seine Wunschvorstellungen binden sich an den Bahnhof, den er draussen sieht. Doch dort fährt kein Zug. Auf dem Bahnsteig warten einige Personen. Kein Zug eilt in schnellem Tempo am Perron vorbei. Alles wartet, sagt jemand im Wagen. Die Bemerkung sorgt für Heiterkeit.

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Vielfalt und Toleranz bilden den Tribut, den die Eidgenossenschaft bereit ist für ihre Einheit zu bezahlen.

Das kleine Land Schweiz verfügt über vier Landessprachen und rühmt sich dieser Eigenheit, der zum Trotz der Staat eine starke Einheit bildet und darum von vielen Stimmen ausserhalb der eigenen Grenzen für diese bemerkenswerte Leistung gerühmt wird. Die Züge verbinden diese Spracheinheiten. Die Sprachen fahren mit. Über das Personal, das die Bahnkonvois begleitet. Kein Passagier verlangt, dass die Zugsmannschaft alle im Land massgeblichen Sprachen einwandfrei beherrscht und richtig intoniert.

So kommt es durchaus vor, dass ein Zugsbegleiter, der die alemannische Ortssprache nicht mit der Muttermilch eingesogen hat, über die Lautsprecher seine Durchsage in einem Deutsch wiedergibt, das deutlich mit einem romanischen Tonfall durchsetzt ist. Die Passagiere sind tolerant, im Entgegenkommen geübt. Dieses Wohlwollen erweist sich als eine weitere Stärke des Landes, das über die Sprachgrenzen hinweg Brücken schlägt.

Vielfalt und Toleranz bilden den Tribut, den die Eidgenossenschaft bereit ist für ihre Einheit zu bezahlen. Der über die Zugslautsprecher sich verkündenden Beamtenschaft wird grundsätzlich alles verziehen, was sie in landessprachlich gut durchmischter Art und Weise kunstvoll darbietet, wenn ein Zugs ausnahmsweise für einmal ausserplanmässig stehen bleibt. Die Leute haben Vertrauen in die Institution. Sie gehen davon aus, dass bei der Bahn Fakten Kult sind. Die Kunden wissen, dass sie von dieser wertgeschätzt werden.

Stiefe atmet durch und runzelt dennoch die Stirn. Die Versorgung der Passagiere mit Informationen, welche für die Reise von Bedeutung sind, klappt gut, solange eine Meldung bei normalem Zugsbetrieb durchgegeben wird, hapert jedoch, wenn eine Ausnahmesituation eintritt. Dann kann die Ansage, welche die Reisegäste mit Neuigkeiten zur Bahnlage versorgt, zu einem bunten Blattsalat gedeihen, bei dem einige Blätter aber durchaus faul daher kommen. Der Salat verwandelt sich dann sehr schnell in eine ungeniessbare Speise.

Von dieser kostet Stiefe nun in der vorliegenden Situation. Die Lautsprecheranlage beginnt zu knacken, als ob sich jemand an einem Bedienungsknopf zu schaffen macht, ein Mikrofon in Gang setzt, prüft, ob das Gerät funktioniert. Dann ertönt die Stimme. Etwas radebrechend. Ein Westschweizer. Französischer Muttersprache. Mit einem komplizierten Satzanfang, dem zusammenhangslose Worte folgen, zuerst, startet der Mann seine Meldung. Über den Lautsprecher verkündet die Stimme, dass der Zug steht und er, der Schaffner, nicht weiss, warum. Ein erneutes Knacken. Der Lautsprecher schweigt.

Die menschliche Stimme aus dem zugseigenen Informationssystem lässt sich nicht weiter vernehmen, teilt das Schicksal einer ausgeschalteten Elektronik. Die Sekunden reihen sich aneinander, werden zu Minuten. Steht ein Zug aus unbekanntem Grund, wird die Zeit lang, die er hält. Das Perron vor dem Fenster wird Stiefe zum Spielfeld, auf welchem sich die Dissonanz projiziert, welche die eingetretene Verspätung und das gestörte Vertrauen in den sonst reibungslos ablaufenden Bahnapparat verbreitet.

Stiefe sieht einen Ameisenhaufen. In diesem rennen aufgeschreckte Menschen durcheinander, als ob ein Kind, das eine Modelleisenbahn bedient, mit einem Stecken in den Hügel hinein geschlagen hätte. Das System ist aus dem Ruder. Kein Misston sollte die Harmonie der Anlage behelligen. Die Menschen haben Angst, dass sie im Gedränge vom Perron auf das Geleise fallen und dass ein weiterer Steckenschlag folgt, der in Form eines schnell nahenden Zuges eben dieses Geleise benutzt und den eigenen Zug wegputzt.

Nur ein Vision, sagt sich Stiefe. Er zwinkert mit den Augen und schaut noch einmal auf das Perron, an welchem der Zug wie an einer Kaimauer angelegt hat, ohne dass er vertäut wurde, sodass die Passagiere das gesicherte Schiff verlassen können. Auf dem Kai stehen keine Passagiere; befindet sich keine Ware, die verladen werden soll; niemand, der den Zug abfertigt. Die Aufregung um den stehenden Zug ist ohne Belang, sagt sich Stiefe, der Zug steht an keinem Quai, der Zug ist kein Schiff, das sinken kann.

Er steht auf einem festen Geleise, dieses auf festem Boden und nicht auf Treibsand, in welches es absacken, durch welches es verschlungen werden könnte mitsamt den auf den Schienen auf seine Weiterfahrt wartenden Zug, so dass niemand weiss, wohin der Zug verschwunden ist, der stehen geblieben ist.

Der Zug bewegt sich nicht. Stiefe ist erleichtert. Der Boden ist fest. Aber es wird wieder Ärger geben. Der Zug setzt Verspätung an wie der Vielfrass Fett. Der Gourmet verschmäht solche Kost, will warmes Essen serviert bekommen und Pünktlichkeit im Zugsverkehr. Die Bahn erzieht zur Unpünktlichkeit. Die Menschen üben am Rande des Perrons das Warten, unter ihnen auch Stiefe. Das Perron ist leer. Alle Passagiere sind weg. Zeitgerecht. Nur Stiefes Zug steckt fest. Das ärgert Stiefe.

Die Leute draussen sind weg und werden darum pünktlich am verabredeten Ort sein. Stiefe halluziniert und sieht dort Leute, wo keine sind. Er sieht diese nur, weil er möchte, dass nicht allein sein Zug verspätet ist und er allein zu spät am vorgesehenen Ort eintrifft, den er sich ausersehen hat. Gemeinsam sinkt es sich im Schiff besser, denkt Stiefe und wischt im gleichen Augenblick all die schlechten Gedanken wie ein bösartiges Trugbild weg.

Die ganze Sinnestäuschung ist nichts anderes als der Ausdruck jener Ängste, die ein System auslöst, wenn es nicht mehr so funktioniert, wie es vom Menschen geschaffen worden ist, um zuverlässig seinem Schöpfer bei seinen Arbeiten zur Seite zu stehen. Im Bahnwagen tut sich wieder was.

Die Informationsakustik des Wagens knackt erneut und die bereits gehörte Stimme verkündet aufgeregt, dass der Zug gleich weiter fahren werde.

Es folgen weitere nervöse, schwer durchschaubare Durchsagen in französischer und schliesslich auch in englischer Sprache. Es wird schon stimmen und zusammenhängen, was gesagt wird, denkt Stiefe.

Den Ankündigungen folgt jedoch kein Ruck, der den Zug in Bewegung setzt. Auch nach einiger Zeit nicht. Andere Züge fahren auf dem Nebengeleise mit grosser Geschwindigkeit vorbei, lassen Stiefe in seinem Abteil sitzen. Ein Regionalzug stoppt. Passagiere wechseln von der Plattform Zug auf jene des Perrons. Der andere Zug startet wieder und verschwindet aus Stiefes Blickfeld. Das vor nur weniger Zeit abgestellte Mikrofon tritt nicht in Funktion, um eine neue Information aufzunehmen, welche in den Wagen des stehenden Zuges verbreitet werden soll.

Auf Stiefe als Vielreisender wirkt die Situation vertraut. Der still gesetzte Bahnkonvoi ist anscheinend aufgrund eines Mehrverkehrsaufkommens – wie ein Auto auf überlasteter Strecke – in einem Stau stecken geblieben. Aufregung schafft in einem solchen Fall keine Abhilfe. Auch nicht im Zug. Nur stoisches Warten und Harren bringt den Menschen schliesslich weiter. Die Bahn macht den reinen Widerspruch erlebbar.

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Irgendwie erzählt er was von Verspätung, Verkehrsleitung und möglicherweise von einem vorausfahrenden Zug.

Derart gestärkt in seiner Wahrnehmung lehnt sich Stiefe beruhigt zurück. Nur nicht aufregen. So lautet die Regel, die, bleibt ein Zug stehen, in Stein gemeisselt ist und unverrückbar Gültigkeit hat. Fährt der Zug schliesslich wieder vorwärts, sind alle zufrieden. Geht es rückwärts, fallen die Scheuklappen ab und öffnen den breiten Blick auf die Wirklichkeit, welche dem Menschen mit stahlharter Hand klar macht, wo sein wahrer Platz in Gesellschaft und Schöpfung ist.

Die Stimme des Zugsführers kommt ein weiteres Mal über die Lautsprecher. Der Mann verhaspelt sich, schluckt Wörter und spricht andere nicht ganz aus. Irgendwie erzählt er was von Verspätung, Verkehrsleitung und möglicherweise von einem vorausfahrenden Zug, der defekt ist, und Dienststelle. Er schliesst mit der Bemerkung, dass die Passagiere bald über die Weiterfahrt informiert werden.

Das kann noch heiter werden, sagen ein paar Passagiere zueinander. Steife pflichtet ihnen bei. Schön wäre es aber schon, wenn es langsam wieder vorwärts gehen würde. Wir Passagiere haben schliesslich nicht dafür gezahlt, dass wir auf der Strecke stehen und unsere Zeit im Stillstand damit verbringen, einem Müllmann drüben auf der Strasse zuzusehen, wie er den Inhalt eines Abfalleimers in ein Kehrrichtfahrzeug entsorgt, lautet die einhellige Meinung.

Jene Fahrgäste, die bisher unverdrossen auf den Computerbildschirm geblickt haben, um ihre nachmittägliche Arbeit während der Zugfahrt zu verrichten und diese Fahrtzeit auch für die aufgedrungene Stehzeit verwendet haben, blicken doch langsam, über die Länge des Halts nervös geworden und einigermassen auch erstaunt, auf. Bezüglich der Fahrpause zeichnet sich kein Ende ab. Der Zug bewegt sich nicht. Die Weiterfahrt verzögert sich.

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Würde man widerrechtlich den Wagen verlassen, führte dies zu nichts.

Bewegungslosigkeit verursacht bei jenen Menschen, die gewohnt sind, sich physisch oder geistig dynamisch zu bewegen, eine gewisse Unruhe. Es gibt eine Bewegungslosigkeit, die Sinn macht, und eine solche, die jeden Sinn ausschliesst.

Ausweglosigkeit lässt sich in einem Bahnwagen wunderbar auskosten. Der Wagen gibt die Richtung vor. Nach den Seiten gibt es kein Ausweichen. Aus dem Gefährt gibt es kein Entkommen. Steht das Fahrzeug, darf dieses unerlaubterweise aus Sicherheitsgründen nicht verlassen werden. Die Freiheit befindet sich hinter der Ausstiegtür. Doch diese ist auf Geheiss der Bahnverkehrsordnung verschlossen. Nichts anderes bleibt übrig, als auf seinem Sitz zu bleiben und auszuharren.

Würde man widerrechtlich den Wagen verlassen, führte dies zu nichts. Man stände draussen und weit ab von seinem Ziel, zu welchem am schnellsten der Zug hinführt, der nun steht. Andere Wege der Bahn zu suchen, die den Zuggast zum Ziel bringen, grenzte an Sinnlosigkeit, wo doch die Strecke, welche der stehende Zug benützen sollte, durch eben diesen Zug blockiert ist. Die Autobahn ist weit. Ein Auto als Mitfahrgelegenheit aufs Geratewohl anzuhalten hiesse im sprichwörtlichen Heuhaufen nach der Nadel suchen. Welches Auto in einer städtischen Nebenstrasse gleicht sein Ziel mit jenem des stehenden Zuges ab? Keines. Keines fährt nach Bern.

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Was die Passagiere noch nicht erahnen, bereitet sich an fremder Stätte vor.

Der Zug, der auf der Strecke steht, gleicht einem liegen gebliebenen Mülleimer, der irgendwo an einer Strasse abgestellt wird, um vergessen und somit nicht geleert zu werden. Die Masse steckt noch in ihm. Die tausend Passagiere im liegen geblieben Zug, der sich einfach nicht bewegen will, kommen sich mit der Zeit bald einmal vor, als bildeten sie den Inhalt des Müllbehälters, der draussen steht und an welchem der Müllmann vorbeigeht, ohne diesen eines Blickes zu würdigen. Unweigerlich taucht der Begriff Müllbahn auf, die nicht Müll entsorgt, aber Menschen. Der Zug steht. Die Zeit vergeht. Irgendwo werden Entscheide vorbereitet, auf welche die Passagier als durchnummerierte Zugsfrequenz keinen Einfluss haben.

Was die Passagiere noch nicht erahnen, bereitet sich an fremder Stätte vor. Es soll noch dicker kommen. Nur weiss es niemand. Der Mensch bildet eine Manövriermasse, über welche in Häme Hände Unbekannter verfügen.

Die Stimme, die sich über die Lautsprecher in gebrochenem Deutsch vernehmen lässt und sich um eine verständliche Aussprache bemüht, gehört einem Menschen, der sich für eine gute Bereinigung der dummen Situation einsetzt. Doch bei der Bahn sind wie bei der Modelleisenbahn übergeordnete Kräfte am Werk.

Wer nicht selbst im Zuge sitzt, über diesen aber Verantwortung trägt, zieht die Strippen anders, als wenn er im Zuge sässe. Jeder Zug ist mit einer Zugnummer versehen. Diese ist jedem Reisenden so gleichgültig wie ohne Bedeutung. In den Augen der Passagiere ist ein Zug ein Verkehrsmittel, das von hierhin nach dorthin fährt und Reisende mit sich führt.

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Der gut koordinierte Verkehrsablauf gerät unter die Räder, deren Drall eingedämmt wird.

Ein Zug ist per Definition ein Güterzug, der Güter verschiebt. Auch gut menschliches Gut und Fleisch und Knochen. Wie ein Viehtransport. Lebende Ware können die Zugsdisponenten lang warten lassen. Sie verdirbt nicht. Setzt keine Maden an. Anders verhält es sich mit verderblichem Gut wie Salat und frischem Speck, der für den Verzehr vorgesehen ist.

Damit der Güterverkehrsablauf reibungslos funktioniert, muss dieser einem genau festgelegten Fahrplan folgen. Gerät dieser durcheinander, stehen sich auf der niedlichen Modelleisenbahn die Züge auf einmal im Weg. Dann reiben nicht nur die Bremsen an den Rädern der Wagen, damit sie zu stehen kommen. Auch die Auffahrkollision macht der Geschwindigkeit den Gar aus.

Wenn der Fahrplan durcheinander gerät, dann fahren viele Züge nicht mehr die im Dienstplan vorgeschriebene Geschwindigkeit. Langsamer fahrende Züge bremsen das ganze System ab. Der gut koordinierte Verkehrsablauf gerät unter die Räder, deren Drall eingedämmt wird.

Ein Zug, der steht, bildet einen Bremsblock in der Eisenbahnstruktur, die für sich vorgibt, Güter pünktlich von einem Hier nach einem Dort zu befördern.

Kein Wunder also, dass sich die Passagiere, die sich im blockierten Zug befinden, immer mehr fragen, was das Massenfrachtmittel Bahn nun klarsichtig mit dem ihm anvertrauten Gut beginnen wird. Stiefe spürt, wie die Zeit sich fühlbar in eine Realität verwandelt, die keinen Ablauf und keine Fälligkeit mehr hat. Eine Zeit, die zu sich selbst im Wiederspruch steht, weil sie steht. Ein Zug, der steht, setzt die Zeit aus, obwohl sie vorwärts muss. Die Zeit wird zur Zerreissprobe. Die Passagiere zum Band, das zerreissen soll. Die Zeit will vorwärts gleiten. Der Zug hält sie fest und mit ihr die Passagiere.

Stiefe fühlt sich unwohl auf seinem Sitz und mit dem Blick hinaus, wo sich nichts bewegt, ausser diesem Müllmann, der Dreck einsammelt und in einen Sack befördert. Den Sack schiebt er vor sich her, als ob er keine Räder hätte wie ein Zug, der steht.

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Bei der Bahn gelten die Regeln der Lagerhalle.

Warten lassen zeugt von einer ganz unnoblen Art. Überheblich gebärdet sich auf einmal das Ungetüm, das sich Bahn nennt. Dieses windet sich in einem solchen Fall orientierungslos wie ein übergrosser Wurm, der von sich nicht weiss, wo sich sein Anfang und wo sich sein Ende befindet, wo sein Gewicht lagert, und alles erdrückt, was ihm in den Weg kommt. Wie ein Wurm, dem die Koordination abhanden gekommen ist, vielmehr die Koordinaten unter den Tisch geraten sind.

Beruhigend ist es zu wissen, dass die Bahnmeister, gemäss der Lippenbekenntnisse jener, die in diesem System Verantwortung tragen, mit der ihnen anvertrauten Lieferung sorgfältig umgehen; dass die Bahnverantwortlichen danach trachten, ihren Auftrag sorgfältig zu erfüllen; das heisst: Pünktlichkeit und Sicherheit zu gewährleisten und somit das ihnen für die Dauer des Transports überlassene Gut rechtzeitig abzuliefern.

Somit ist ein Zug, der anderen im Wege steht, ein erhebliches Hindernis, das auf die bestmögliche Weise schnellstmöglich beseitigt werden muss. In einer Modelleisenbahn nimmt der Bub das Gefährt von der Schiene und stellt es auf die Seite. Ein anderer Zug fährt über das freie Geleise. Das bei Seite gestellte Fahrzeug kann wieder auf die Schienen gestellt werden.

Der Knabe kann auf seiner Bahn walten, wie er will. In der Bahnwirklichkeit der Erwachsenenbeförderung ist hingegen eine Güterabwägung nötig, eine Einschätzung des Warenwertes, das der stehen gebliebene Zug transportiert, unabdingbar. Ein Gut wiegt das andere auf, wertet aber andere ab, wenn es im Wege steht. Bei der Bahn gelten die Regeln der Lagerhalle.

Die Last, die im Wege steht, schmälert mit jeder Minute, die sie die Strecke blockiert, den guten Ruf des Bahnunternehmens. Dieses setzt auf Pünktlichkeit und Präzision. Das fehlende Glied muss abgestraft werden, auch wenn die im Zug sitzenden Fahrgäste beileibe nicht Schuld daran tragen, dass dieser stecken geblieben ist und einfach nicht weiter fährt.

Auch wenn der Passagier gezahlt hat, um befördert zu werden, entpflichtet dies die Bahngesellschaft, ihre Leistung zu erbringen. Die Bezahlung wirkt sich nicht auf jene unsichtbaren Hände aus, welche den Zugverkehr gemäss den Vorgaben des Fahrplans regeln. Gerät der Fahrplan wegen eines oder mehrerer stehender Züge durcheinander, verändern darum die unsichtbaren Verwalter des Streckennetzes nach Gutdünken und ohne Rücksicht auf die transportierten Einheiten die Zugnummern der Züge. Eine prioritär gesetzte Wagenkombination wird aus ihrer Kategorie genommen und in der Werteklasse hinab gestuft.

Die Bahn der Erwachsenen verwandelt sich in eine Modelleisenbahn. Die Züge verkehren fernab der Schalttafeln. Auf den Bildschirmen erscheinen die fahrenden, stehenden oder stecken gebliebenen Wagenreihen als Nummern, die sich addieren und subtrahieren lassen. Die Kontrollbildschirme werden zu Modellbahnen, auf der Striche, Vierecke, Punkte und Linien zeigen, wo die Züge stehen.

Es gilt zu verhindern, dass die Vierecke aufgrund der Rechnerei ineinander geraten. Die Güter dürfen nicht beschädigt werden. Die Versicherungsfranchisen sind hoch. Sicher an den Bestimmungsort gebrachte Ware bedeutet Ersparnis. Gespartes Geld kann investiert werden. Kann als Bonus an die Angestellten ausbezahlt werden, auch an jene, die über das Geld wachen und in hochstehender Position Entscheide fällen.

Wer über dieses Geld verfügen will, muss dafür sorgen, dass die Züge nicht kollidieren und aus diesem Grund den Gewinn schmälern.

Ein stehen gelassener Zug fährt Geld ein. Denn er ist nicht in einen anderen gefahren. Materieller Schaden an Rollmaterial und Ladung bleibt aus. Wenn alle Züge stehen bleiben, krachen sie mit keinen anderen zusammen.

Die Absurdität dieser Logik ist nicht zu überbieten. Die Überlegung ist bei der Bahn nicht derart absurd, dass sie nicht Wirklichkeit wird.

Jene, die den Bonus für erbrachte Leistung untereinander teilen, haben eine Lösung ersonnen, die dem Irrwitz Rechnung trägt.

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Die fehlbare Zugkomposition ist im Grunde aus dem Geleise geworfen, obwohl sie in unveränderter Position immer noch auf diesem steht.

Der auf der Strecke gebliebene Zug bewegt sich noch immer nicht. Stiefe weiss jedoch: Das Modul steht unter Beobachtung. Irgendwo stehen Kameras. Draussen. Das Element wird gut bewacht. Ist eingeschlossen in ein sicheres System; kann nicht hinaus. Nicht entweichen. Wie das Gas aus einem Kesselwagen. Der Zug steht in einem Bahnhof. Wagen für Wagen. Steht im Zentrum des Interesses. Die Zugnummer, die den Fahrplan durcheinander bringt, erscheint auf Bildschirmen. Sie muss aus dem Verkehr gezogen werden.

Die Zugnummer wird rausgeschmissen. Der stehende Zug erhält grosse Bedeutung. Was soll mit ihm geschehen. Er ist aus Metall. Die Luft kann nicht einfach aus ihm abgelassen werden. Was soll mit der Hülle geschehen, sollte es doch möglich sein? Sie versperrt das Geleisetrassee.

Die fehlbare Zugkomposition ist im Grunde aus dem Geleise geworfen, obwohl sie in unveränderter Position immer noch auf diesem steht. Die Eisenbahn ist mit einem Mal nicht mehr der Weg. Was freie Bahn heisst, steht plötzlich für Sackgasse. Es ist, als stehe unverhofft ein Prellbock auf offener Strecke, mit Rädern, die sich nicht mehr drehen.

Ist ein Zug in solcher Situation fest gefahren, so muss er unter ganz besondere Beobachtung gestellt werden. Bei einem Zug, der den Weg blockiert, rückt die Ware, die er transportiert, in den Hintergrund. Grössere Werte sind im Spiel. Als erstes gilt: Ein solcher Zug muss gut observiert werden. Kein anderer darf in diesen prallen.

Weil ein menschliches Auge nicht alles zu überwachen vermag, muss an seiner Stelle die Technik her. Diese tastet mit elektronischen Sensoren und optischen Linsen präzise die Strukturen der Bahn und das System danach ab, ob da etwas ist, was nicht in den Fahrplan passt. Die Kontrolle der Festplatte ist alles. Fehlverhalten muss sofort korrigiert werden, sonst kommt es zu einem Unglück. Die Verursacher und Verursacherinnen müssen geahndet werden, wenn sie zulassen, dass irgendwo etwas auf unvorhergesehene und selbstgerechte Weise geschieht, das das dem System straucheln lässt. Die Panne löst in der Maschinerie des Betriebs eine Kettenreaktion aus, welche zum Stillstand des Zuges führt.

Ein Zug, der sich nicht bewegt, ist insofern keine Gefahr, als er als stehender Zug nicht in einen anderen fahren kann. Ein fahrender Zug kann hingegen in den stehenden donnern und sich in diesen verkeilen. Kameras und Detektoren, sofern sie nicht selber auf der Strecken geblieben sind, verhindern, dass es zu einem Zusammenstoss kommt, der die Strecke blockiert.

Der stehende Zug befindet sich aber im Weg und muss darum entfernt werden. Eine angemessene Lösung muss umgesetzt werden. Die Sorge gilt dabei nicht vorrangig der Handelsware, die transportiert wird. Diese lässt sich auf die Seite stellen wie eine Kuh, die im Stall angebunden, losgebunden und hinaus geführt wird. Zu einem späteren Zeitpunkt kann sie wieder in den Stall gebracht werden.

Was Wichtigkeit hat, ist vielmehr, dass der Fahrplan eingehalten wird. Der reibungslose Ablauf des logistischen Systems muss sichergestellt werden, auch wenn ein Zug die Durchfahrt anderer Züge verhindert. Ein Befreiungsschlag ist notwendig. Dazu ist jedes Mittel, massvoll eingesetzt, recht. Denn zu viel des Materials, das transportiert wird, darf nicht verletzt werden. Physische Wunden sieht man. Wird lediglich am Geist und an den Gefühlen der Betroffenen herum gekitzelt, bleibt dies ohne Spuren. Die Bahngesellschaft kann die Demütigung Reisender verkraften.

Die Passgiere müssen ins eiskalte Wasser getaucht werden, damit sie klar erkennen, dass sie rein Ware sind, welche befördert wird. Sonst könnten sie noch der Idee verfallen, bei der Bahn menschliche Ansprüche geltend zu machen, wie eine pekuniäre Entschädigung für die Versäumnis des Organisationssystems, das eine Verspätung zulässt.

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Katastrophen benötigen keine geschlechterspezifische Unterscheidung.

Im Zug, der steht und sich beileibe nicht vom Fleck rühren will und in welchem niemand über die Gründe der Warterei informiert wird, macht sich mit der doch langsam ins Bedenkliche wachsenden Wartezeit ein gewisses Unbehagen breit.

Die Technik nimmt die entstehende Nervosität nicht wahr. Registriert lediglich, dass der Zug nicht fährt und rechnet munter weiter die beste Lösung aus, die in dem Fall umgesetzt werden soll. Die Passagiere, viele reisegewohnt, können davon ausgehen, dass ihnen mit der Zeit die gewählte Form der Problembewältigung mitgeteilt werden wird.

Erneut knackt es in den Lautsprechern. Stiefe spitzt die Ohren. Die Stimme des Zugführers erklingt. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Mann, dem die Information der Klientel obliegt. Es hätte ebenso eine Frau sein können, die als Zugführerin mitreist und sich um das Wohl der Passagiere kümmert. Die Bahn ist in der Genderfrage nicht wählerisch und gewährt den Geschlechtern gleiche Rechte. Auch Frauen sitzen im Zug, der nicht fährt.

Hätte Stiefe aus den Lautsprechern die Stimme einer Frau vernommen, hätte dies an der Situation der Passagierinnen und Passagiere nichts geändert. Katastrophen benötigen keine geschlechterspezifische Unterscheidung. Wenn die Welt zusammenbricht, sitzen Mann und Frau im selben Boot. Die Technik steht über dem Menschen und seinen sexuellen Ausprägungen. Die Sprache der Maschinen ist geschlechtsneutral. Die Bahnen müssen fahren und nicht einem genderkorrekten Sprachgebrauch genügen.

Von der Bahn verlangt zudem niemand, dass die Durchsagen grammatikalisch fehlerfrei durchgegeben werden. Sobald die Computer künstlichintelligenzgetragen einwandfrei die menschliche Ausdrucksweise wiedergeben werden, wird es ohnehin um den Menschen geschehen sein.

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Manchmal weigert sich das Hirn, gewisse Information aufzunehmen, die ihm zugetragen werden

Im Zug, der Stiefe befördert oder vielmehr soll, hat die Zukunft noch nicht Einzug gehalten. Als lukrative Ware schreibt die Bahn den Menschen noch nicht ganz ab. Den Menschen in einem Behälter aus Metall und Glas von hierhin nach dorthin zu transportierten, bringt Geld. Geld ist aber der Bahn zu jenem Zeitpunkt, als Stiefe im Zug sitzt, wohl doch noch nicht alles. Ein gewisses Unwohlsein, ein Missbehagen schwingt in der Stimme mit, welche über die Lautsprecher ihre Meldung durchgibt.

Zuweilen bestehen gewisse Widerstände, ein Art von Blockade, die zu einem Würgton in der Stimme führt, wenn bestimmte Aussagen gemacht werden müssen, weil sich das Gewissen gegen den inhaltlichen Gehalt sträubt, der verkündet werden muss. Die Technik ist dem Menschen in einem bestimmten Bereich noch Untertan.

Nichts desto trotz wendet sich der Lautsprecher im Sitze bewehrten Frachtraum des Passagierzugs an die Wartenden. Der Zugführer scheint sich beruhigt zu haben. Die Stimme kommt nun klar daher. Jeder versteht, was er mitteilt. Doch weniger beruhigend ist die Botschaft, die sich aus der Aussage heraushören lässt: Der Zug soll in den Abfahrtsuntergrundbahnhof zurück gestossen werden.

Die Frucht des leidigen Wartens lautet in leidlichem Deutsch: „Der Zug wird in den Ausgangsbahnhof geschoben.“

Die Durchsage wird in französischer und englischer Sprache wiederholt.

Manchmal weigert sich das Hirn, gewisse Information aufzunehmen, die ihm zugetragen werden. Derart widersinnig erscheint der Inhalt, dass er sich in keine Hirnwindung einbinden lässt. Bei vielen Leuten lösen solche Nachrichten einen Schockzustand aus. Im Zug fällt niemand um, denn alle Passagiere sitzen. Das Gehörte drückt sie aber dennoch tief in die Sitze hinein.

Lagergut, das nach Belieben verschoben wird, lautet die erste Reaktion auf die überraschende Ankündigung. Ladegut, das auf die lange Bank geschoben wird. Diese bittere Erkenntnis schmerzt. Bei wachem Verstand lässt sich dieser Befund nicht aus dem Erfahrungsschatz einer auf Eile und Präzision getrimmten Gesellschaft extrahieren. Lediglich wenn eine Panne dem ganzen Organismus Pate steht, dringt in den Erfahrungsbereich jenes ein, was nicht sein soll, und die Erkenntnis wird zur Wirklichkeit: Was nicht ins System passt, wird aussortiert. Das Untendurch gerät zum Überlebenskampf.

Unverständnis, Kopfschütteln. Die Passagiere sind ratlos. Ein Zauberlehrling wird in der Schaltzentrale am Werk sein und sich beim Betätigen der Schaltknöpfe vertan haben.

Der Zug fährt tatsächlich an. Und zwar, wie angekündigt, nicht vorwärts, zielgerichtet, sondern rückwärts, regressiv. Des Eindrucks, einer chaotischen Planung ausgesetzt zu sein, kann sich Stiefe nicht erwehren. Der Ankunftsbahnhof entfernt sich mit jedem Radumschlag und somit auch die firmeneigene Vorgabe, die sich die Bahngesellschaft als menschenfreundliches Unternehmen gesetzt hat. Nämlich: Die zahlenden Passagiere rechtzeitig an ihr Ziel bringen.

Es nützt nichts, die Notbremse zu ziehen, um der Fehleinschätzung, der Stiefe als Kunde ausgesetzt ist, Einhalt zu geben; um die sich anbahnende Fehlleistung zu verhindern. Der Zug fährt in die verkehrte Richtung. Stiefe setzt einen Stossseufzer ab: Wenn nur alle Züge, die in Richtung des sich unfahrplanmässig retour bewegenden Zuges fahren, aus dem Weg geräumt sind! Bahn frei für ein Gespensterfahrzeug, das Totenschiff, denkt sich Stiefe. Welch Aufwand, um diesem den Weg frei zu machen!

Die Aktivierung der Notbremse würde den Zug nicht vorwärts bewegen. Das für die Dauer des Transports in den Wagen eingelagerte Gut hat darum keine Not und verspürt auch nicht das Bedürfnis, die Fahrt des Zugs durch ein beherztes Ziehen des Griffs des Nothahns zu stoppen.

Wenn ein als vortritt berechtigt klassierter Zug die Strecke, die er bereits zurückgelegt hat, erneut, aber in die Gegenrichtung bewältigt, dann entspricht dies einer vorwärts gewandten technischen Logik, die den Menschen ausser Kraft setzt, ihn ganz einfach auf ein Nebengeleise stellt oder, was weit schlimmer ist, ihn auf seinen Geldbeutel reduziert. Die Bahn schröpft diesen und weiss, dass sie für ihr Verschulden keine Genugtuung zahlen muss. Die intelligente Künstlichkeit rechnet mit dieser Einheit.

Die Bahn behält sich vor, dass sie die Leistung, die sie für die Kundschaft nicht erbringt, mit keinerlei Entschädigung begleichen muss. Der Kunde ist Statistik. Mehr nicht. Der Kunde spielt keine Hauptrolle. Er ist Statist. Eine geringe Grösse, die lediglich dazu dient, den Bahnbetrieb für die Ware Mensch aufrecht zu erhalten, als Ware den Packraum der Bahn zu füllen. Wenn keine Ware transportiert wird, rentiert der Einsatz des Transportmittels nicht. Der Betrieb kann eingestellt oder gegebenenfalls rückwärts gedreht werden.

Bei jenen, denen Führungsaufgaben anvertraut sind, kann ein Verachtung gegenüber den Menschen ausgemacht werden, die dazu führt, dass sich die Betreffenden mit einer ganzen Schar von Leibwächtern wappnen müssen. Das ist das Vorrecht der Herrschenden. Sie wissen, dass sie von der Mehrheit der Menschheit aufgrund ihres Lebens und Wirkens nicht mehr als lebenswert betrachtet werden, und darum selbst daraus konsequent schliessen, dass ihnen der Wert eines Abfallproduktes beigemessen wird, das man entsorgt.

Genauso gehabt es sich mit dem Zug, der rückwärtsfährt, statt dass er auf sein Ziel zu steuert. Die Technik, heute, kopiert die Arroganz der Herrschenden, welche mit selbstverliebten Entscheiden ihre Verachtung für den Menschen illustrieren, von Fürsten, Machtmenschen, Despoten und Bekenntnismagnaten.

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Der Fahrgast hat zu parieren.

Der Zug bewegt sich vorbei an der Landschaft, durch welche er gerade gefahren ist. Dreht die Bilder zurück. Spult die Zeit wieder auf, welche er eben erst der befahrenen Strecke abgewonnen hat. Das Vertraute, weil es schon wieder auftaucht, vorzeitig, erscheint absolut fremd. Wie aus einer anderen Zeit hergeholt. Ein Film, der rückwärts läuft. Abschiede werden zunichte gemacht. Bei der Ankunft am Ausgangsperron wird dieses leer sein. Die Menschen, denen das Adieu galt, sind gegangen. Die Zeit ist durcheinander gebracht. Der Film reisst. Der Zug fährt zurück.

Stiefe schreckt vor dem eigenen Mut zurück. Auch er zieht die Notbremse nicht, betrachtet die Leidensgenossen, wie sie ihn betrachten. Alle im Zug schauen sich tief betrübt an. Als ob sie abgeführt würden. Im doppelten Sinn. Nicht nur als mutmassliche Verbrecher, die ihren Fahrschein nicht gelöst haben, sondern ganz einfach als überflüssiges Material, das dem Schüttstein übergeben wird.

Die Bahn gibt dem Menschen den Tarif durch. Der Fahrgast hat zu bezahlen. Er hat zu parieren. Aus dem Bahnwagen gibt es kein Entkommen. Der Wagenkasten ist sicher und fest. Die Technik ist nur das Eine, was Kapriolen zu spielen weiss. Münzen haben zwei Seiten, eine vordere und eine hintere. Das verborgene Gesicht des Geldes hält der Gesellschaft den Spiegel vor, wenn es darum geht, ihr vorzugeben, wer die Macht hält. So auch bei der Bahn, welche sich gern als Dienstleisterin des Menschen, der Gesellschaft verkauft.

Dienst aber leistet nur gegen entsprechendes Entgelt die falsche Söldnerin, die sich in Wahrheit als schlechte Milchkuh erweist. Das Wasser überlässt sie den Passagieren, den Rahm den Bahnmagnaten. Die Bahn ist ein rechtes Spiegelbild der Gesellschaft, eine Gesellschafterin jener, die frisch und fröhlich Boni einstreichen. Das glücklich machende und glänzende Geld und Geist, der die silbernen Münzen in Gold verwandelt, haben auch die Oberen der Bahn für sich entdeckt. Das Wasser lassen sie abfliessen. Die Sahne streichen sie ein und bestreichen damit das dicke Brot, das sie als dichte Mauer von den Passagieren und ihrem gerechten Unmut in den wartenden Zügen trennt.

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Die Bahn knickt ein und macht den Knicks vor der Technik, die knackst, und stoppt den Zug.

Wenn die Bahn auf Sahne fahren würde, dann käme dies dem Komfort der Passagiere zugute. Dieser kollidiert jedoch mit der Technik. Stiefe, Zeuge des Zusammenstosses, der zu einem absoluten Stillstand in der Zusammenarbeit von Technik und Finanz führt, atmet tief durch. Die Finanz bezeichnet sich als treibende Kraft und sperrt das Geld, wenn es ihr passt. Die Bahn knickt ein und macht den Knicks vor der Technik, die knackst, und stoppt den Zug.

Die kalt berechnete Technik versagt ihren Dienst. Der Rückfluss des Geldes zum Kapital der Bahn kappt ihrem Fahrmaterial die Kraft, sich zu bewegen. Die Rekapitalisierung des Fahrplans, damit er wieder Gewinn abwirft, geht zu Lasten der Kunden

Die Finanz macht die Rechnung ohne den Gast. Dieser hat die Rechnung beglichen. Damit hat es sich. Die Buchhaltung sackt den Betrag eint und widmet sich neuen Projekten, investiert. Anderswo. Den Menschen setzt sie als Variable ein. Die Technik bleibt auf der Strecke. Eine kaputte Weiche. Eine digitale Betriebsstörung. Ein defekter Wagen. Er fährt nicht. Will fahren. Bleibt stehen. Rührt sich nicht. Über der Technik steht allein die Finanz. Ihr Buch muss stimmen. Sie verfügt über eine autistische Wahrnehmung des Menschen. Niemand kennt die Rezeptur, welche die Aktiva und Passiva der bahnbehördlichen Barschaft zur Vernunft bringt. Der Mensch taugt als Mittel der Rechnungsabgrenzung in der transitorischen Buchhaltung. Steht ein Zug, muss der Cashflow doch fliessen und der Reflux stimmen.

Über der Finanz stehen jene Beamten, welche vom rückfliessenden Geld den Rahm abschöpfen und die saure Milch jenen Zeitgenossen überlassen, die mit der Technik leben müssen. Davon werden weder Technik noch Mensch warm. Die Wärme fliesst anderswo hin. Die Werte, die das Geld richtig steuern und den richtigen Leuten zuführen und nicht in die Räder münden, so dass der Zug endlich wieder richtig fährt, müssen stimmen und gefördert werden. Wenn dabei ein Zug drauf geht, dann stellt dies lediglich den Preis dar, der für das reibungsvolle Funktionieren der Bahn zu zahlen ist.

Technik und Finanz enthalten durchaus menschliche Qualitäten. Was sie direkt wieder sympathisch macht. Jene aber, die daraus nicht Profit ziehen, betrübt. Technik und Finanz machen Fehler. Das bringt sie dem Menschen nahe, der auch nicht ohne Makel dasteht. Technik, Finanz und Mensch können nicht reibungslos und störungsfrei wie eine Maschine zusammen arbeiten.

Was die Maschine bisher dem Menschen voraus hat, wird jedoch mehr und mehr hinfällig. Indem die Maschine durch den Einsatz der Computertechnik aufgewertet wird, entwickelt sie sich zusehends zur Massenware. Der Preis davon ist vermehrte Anfälligkeit. Immer mehr Systeme schaffen ineinander. Ein Baustein, der gestört ist, wirkt sich sofort leistungsmindernd auf den ganzen technischen Bau aus. Die Präzision schwindet. Die wachsende, nicht mehr kontrollierbare Masse erstickt den Selbstwert der Handelnden, des Einzelnen. Des Rechnungswesens. Finanz und Sicherheitsdispositiv stocken. Der Betrieb erfährt einen Unterbruch.

Ist ein Teil defekt, wird es schnell ausgetauscht. Die Heilung, vielmehr Reparatur in einer Werkstatt, so etwas wie ein medizinisches Etablissement für defekte oder marode Technik, lohnt sich nicht. Das Ding an sich ist auswechselbar. Die Auswechselmentalität vermindert den Wert des einzelnen Gegenstandes, des einzelnen Menschen. So auch jenen des Passagiers, der im Zug sitzt und in seine Ausgangsstation zurück bugsiert wird. Andere Menschen werden befördert werden können. Menschen, Muttern und Motherboards gibt es auf Vorrat. An die Stelle des für die Ausrangierung vorgesehenen Teils wird ein neues platziert. Der Wechsel ist schnell vollzogen.

Wer im Zug sitzt, ist an seinem Platz fest gemacht, festgezurrt. Stiefe kann sich nicht wehren. Ist wie angebunden, ausgeliefert. Der Zug fährt unaufhaltsam zurück. Die Welt wird nach hinten verrückt. Das Verb verformt sich zur Eigenschaft. Manch einer der Fahrgäste zweifelt an seinem Geisteszustand, wie er die Häuser und Strassen vorbei ziehen sieht, die er vor wenig Zeit bereits passierte.

Draussen hat sich die Welt säuberlich vorwärts bewegt. Drinnen wird sie zurückgefahren. Die Dynamik geht weg. Draussen säubern andere Menschen als zuvor die Strasse. Andere Fahrzeuge benützen die Wege. Andere Leute säumen die Strasse. Es sieht aus, als sei das Personal auf der Modelleisenbahn ausgewechselt worden. Ein Bus fährt seine Tour. Nur der Zug dreht die Zeit zurück und fährt im Ausgangsbahnhof schliesslich wieder ein. Als ob es sich bei der Strecke, die der Zug zu fahren hatte, um eine Sackstrecke gehandelt hätte, die den Zug hiess, an seinen Ausgangspunkt zurück zu fahren.

Auf dieser Sackstrecke, wo es keinen Ausgang gibt, zurück, pendelt das Vehikel in den Sackbahnhof, der nur nach einer Seite offen ist und keine Städte verbindet. Könnte Stiefe meinen. Und der Zug darum an seine Ausgangsstätte zurück beordert wurde. Zurück gespickt, wie ein Jo-Jo, das an seiner Schnur weggeschleudert und wieder zurück geholt wird. Die Jo-Jo-Scheibe wähnt, sie sei frei gelassen worden, und merkt bereits nach äusserst kurzer Zeit, dass das mit der Freiheit nichts ist.

Der Sackbahnhof als Ausdruck eines Labyrinths, in welchem sich die Maschinerie Zug verfängt und aus dem es keinen Ausgang gibt.

Da tauchen die blauen Tafeln wieder auf. Der Filmriss ist perfekt. Der vertraute Bahnsteig ist keine Begrüssung wert. Der Zug hält. Aus den Lautsprechern kommen wirre Aussagen zu Fahren, Warten und Halten.

Drüben, über das Perron hinweg gesehen, auf dem benachbarten Geleise steht ein gleicher Zug. Einer von der Sorte, in welcher Stiefe selber sitzt. Ein schneller Zug, Intercity, wie er mit schönem Namen heisst und dem auf den Strecken die Priorität, den Fahrvorteil gewährt ist.

Irgendwie, erfährt Stiefe, von anderen Passagieren, dass der Zug, nebenan, den gleichen Zielort hat wie jener, in welchem Stiefe sitzt. Er weiss, quasi, selber nicht, in welcher Wirklichkeit er sitzt. Als kundiger Bahnbenützer weiss er, dass es sich, dort, drüben, um jene Zugskomposition handelt, die den Halbstundentakt auf dieser Strecke sichert und, mit Blick auf die eigene Uhr, mit einer geringen Verspätung Stiefes Zug folgen wird, auch wenn dieser nun wieder im Bahnhof steht.

Der Zug befindet sich dort, wo er gestartet ist. Stiefe hat das Gefühl, obwohl das Fahrzeug, in welchem er sitzt, sich nicht bewegt, dass in seinem Kopf in einem fort die eine Hirnhälfte auf die andere Hälfte geworfen wird. Als ob grosse, unsichtbare Fäuste heftig an seinem Schädel gerüttelt hätten und er daraufhin auf seinem Sitz mit einem Schlag auf dem Kopf sitzen gelassen worden wäre. Ausgeschaltet als denkendes und Verantwortung tragendes Wesen. Spielball jener, welche das Geschehen auf den Geleisen leiten, als ob sie eine Modelleisenbahn vor sich hätten, auf der sie unbeschadet Menschen aufeinander knallen lassen können.

Die halbe Stunde ist voll. Beide Züge stehen. Wer weiss, welche von den beiden Bahnen als erste los fährt? Der andere Zug wirkt, als wäre er gut besetzt. Stiefes Zugseinheit führt nach wie vor volle Wagen. Soll Stiefe umsteigen in der Annahme, dass der nachfahrende Zug die Vorfahrt haben wird? Diese dumme Frage stellt sich Stiefe in seinem Wagen. Viele Plätze sind drüben nicht zu haben. Das Risiko, nach dem Zugswechsel vor vollen Sitzen stehen zu müssen, ist gross, zu gross, als dass sich Stiefe dafür entscheidet, die Bequemlichkeit des eigenen Sitzplatzes zu verlassen, der ihm in seiner Geschlagenheit etwas Schutz gewährt.

Das Risiko besteht, entscheidet sich Stiefe für den Zugwechsel, dass er, ist er einmal draussen und drüben vor dem anderen Zug, dort die Zutrittstüren bereits verriegelt sind. Wer dann dort steht, hat das Nachsehen. Kommt er zurück, findet er möglicherweise seinen Platz schon besetzt. Stiefe beschliesst zu bleiben, wo er ist. Eine zurückgedrehte Zeit lässt sich nicht mehr um die Dauer des Verlustes, den sie erfahren hat, auf ihren ursprünglichen Rhythmus zurücksetzen.

Nichts bewegt sich am Perron. Die Züge stehen. Stiefe geht in sich und denkt: Die Technik hat Schnupfen. Die Techniker finden die Hygienetücher nicht, um ihr Steckpferd rein zu halten, so dass es wie am Schnürchen funktionieren kann. In der Leitung hat es Knoten, die gelöst werden müssen. Lymphknoten, welche sich unschön in das System einnisten und aufblähen.

Die Technik ist kalt. Sie berechnet kühl die aus ihrer Sicht beste Lösung für das anstehende Problem, das den Terminplan durcheinander geraten liess. Die Technik ist selbstständig, intelligent und künstlich. Sie lässt den Menschen stehen. Daran wird sich der Mensch, stolz sich selber Krone der Schöpfung nennend, noch gewöhnen müssen. Er ist bestenfalls noch ihr Steigbügelhalter. Das Pferd macht sich ohne den Menschen davon. Obenauf sitzt das, was er geschaffen hat. Dem Menschen bleibt das Nachsehen.

Züge fahren noch viele. Der Mensch hat nach wie vor Vertrauen in die Technik. Der Mensch vertraut ihr vieles an. Immer mehr. Mit dem Vertrauen des Menschen in die Bahn geht die Entwicklung aller Technologie nicht im Gleichschritt einher. Sie löst sich vielmehr ab, ist stahlhart, roh. Das Eisen der Geleise ist blank, verrostet das Empfinden der Bahnstellwerkbeamten, eingefroren ihre Gefühle. Das Werk muss funktionieren. Wenn nötig über den Menschen hinweg.

Die Technik denkt verstärkt an der statt der Menschen. Technik und Mensch eint kein Liebesverhältnis. Der Technik sind Gefühle ein Fremdwort. In einen Computer lässt sich tausend Mal das Wort Gefühl eintippen. Er wird dieses nie haben. Eine Reihen von Zahlen bleibt nun mal eine Reihe von Zahlen. Fleisch lässt sich dagegen nicht durch Metall ersetzen. Werden Elektroden ins Fleisch gesetzt, nennt sich dies Folter.

Auf Schotter fährt der Zug. Die Bahn des Menschen ist auf einen anderen Untergrund gebaut. Der Mensch isst keine Steine. Noch macht er sich an ihnen fest. Liebend gern ist der Mensch kein Prometheus, der sich an den Felsen binden lässt, damit die Technik ihm die Leber frisst, die frisch und fröhlich zur Qual ihres Trägers als immerwährendes Bahnfutter nachwächst. Als ewige Strafe dafür, dass er der Technik zu sehr vertraut.

Vorerst ist der Mensch nicht an den Stein gebunden, sondern an den Zugsitz, den er besetzt. Zu Stein wird er, wenn er in seiner Würde getreten wird. Stiefe fühlt sich glücklich, dass ihn nicht Gurte am Sitz festzurren. So hat er das Gefühl, er könne aufstehen und gehen, sobald es ihm passt, um den Bahnbeamten dort drüben auf dem Perron seine Meinung zu sagen, die ungefähr dahin lautet: Muss ein Mensch, dem seine Würde abhandenkommt, die Würde des anderen Menschen respektieren, indem er ihm nicht die Faust ins Gesicht schlägt oder einen Tritt in den Hintern gibt? An diesem Beamten stellvertretend für jeden Menschen seines Metiers Revanche nimmt, der vor den Schalthebeln der Bahn sitzt und diese gemäss der Vorgaben der Technik bewegt?

Muss Stiefe sogar akzeptieren, dass die Ansprüche der entmündigenden Technik und ihrer sich immer mehr potenzierenden Möglichkeiten in Würdigung ihrer wachsenden Bedeutung und zunehmenden Geltung durch Menschen in den anonymen Zentren der Machtausübung über die Würde anderer Menschen gesetzt wird? Die immer stärker sich ins Leben einnistende Technik also, die nichts anderes als eine geschickt zusammengeschusterte Mechanik ist, ihn, den Menschen, beherrscht, der doch eigentlich dieses sich dreist breit machende Artefakt aufgrund seiner Position auf dem Planeten unter Kontrolle haben sollte.

Stiefe schaut sich im Wagen um. Dessen Produktion war nur möglich, weil sich der Mensch über seinen Geist die Erde urbar macht. Und nun greift dieses Erdenprodukt, das mit der geistigen Macht des Menschen geschaffen ist, nach der Macht des Menschen und macht sie ihm streitig.

Stiefe lehnt sich tief in seinen Sitz zurück. Wer im Zug sitzt, ist augenscheinlich, gleich jenem Prometheus, seiner eigenen Entscheidungsgewalt beraubt. Lebend aufgebahrt in einem Zugswagon hält der Mensch seine Augen geschlossen und lässt sie, öffnet er diese kurz, keinem andere Auge begegnen.

Menschenabgewandt wartet Stiefe auf den Entscheid für die Weiterfahrt. Einen Moment lang die Augen geöffnet, sieht der geistig eingefesselte Mensch, dass der Zug sich bewegt. Die Demütigung des Fahrgastes geht weiter, als ob die Bahnverantwortlichen aus dem Wort Fahrgast den Teil Gast herausgestrichen und diesen in den Topf unliebsamer Reklamationen gelegt hätten. Dessen dauerhafte Entsorgung dient dazu, ist geradezu ein geeignetes, motivierendes Zahlungsmittel, um unbeschadet die Technik weitab der Kundenbedürfnisse zu ölen und in Gang zu halten.

*

Der Mensch wird auf ein Nichts reduziert. Seine Bedeutung ist Null.

Das Beil fährt ein weiteres Mal auf Stiefes Kopf herab. Es schmerzt, als ob eine Nadel einen Stich durch die Augen ins Herz führt. Was fährt, wie Stiefes eigene Augen erkennen und der fehlende Druck eines anfahrenden Zuges auf den Körper bestätigt, ist der Zugskonvoi auf dem Nebengeleise. Keine den Perronüberbau tragende Säulen, keine an einer Wand klebende Werbebotschaft zieht vorbei. Sie behalten ihren Standort. Der gegenüber liegende Zug fährt davon, die letzten Wagen entschwinden in ruhiger Fahrt. Der Zug, der gemäss Fahrplan am Startbahnhof eine halbe Stunde später starten sollte als der eigene, jener, in welchem Stiefe sitzt. Beide haben den gleichen Zielbahnhof.

Stiefe stellt sich die Frage: Welche Verachtung des Seienden steckt hinter dem Entscheid, einen nachfahrenden Zug dem vorausfahrenden Zug vorausfahren zu lassen, indem man den vorausgefahrenen Zug zurückfährt, damit die Strecke frei wird? Solcher Unsinn lässt sich nicht in Worte fassen, die Tiefe eines derartigen Zynismus sich nicht ermessen. Einen Zug, der bereits auf der Strecke ist und weiter fahren könnte, um so die Strecke für den nachfahrenden Zug frei zu machen, zurückzufahren, grenzt an Irrsinn. Doch: Die knallharte Logik der Mechanikmaschinerie greift nach den Werken des Menschen und macht sie sich eigen.

Wer nicht selber wie Stiefe in eine derartige Situation gerät, vermag nicht nachzuvollziehen, was jener Faustschlag bewirkt und bedeutet, den die selbstherrliche, höhnende Bahngesellschaft den Reisenden in den Magen setzt. Der Mensch wird auf ein Nichts reduziert. Seine Bedeutung ist Null. Das denkt Stiefe.

Der Mensch wird der Technik vorgeführt. Der Mensch ist zur Disposition gestellt. Der Mensch ist in die Resten geraten. Er wird neu konditioniert.

Die Bahn gibt der Gesellschaft den Wert des Menschen durch. Lernfähig, wie die anonyme Gesellschaft ist, nimmt sie den Tarif auf, den die Bahn vorgibt. Weit weg ist die Modelleisenbahn, auf welcher ein Kind die Lokomotiven aufeinander prallen lässt. Im wirklichen Zug sitzen Menschen. Anders als bei der Modellbahn lässt sich der Mensch, der geschlagen und verletzt wurde, nicht auf den Schienenstrang zurück setzen, der sich um die Passagiere gelegt hat.

Die Fahrt im Massenverkehrsmittel verbindet sich mit der Erfahrung des Massengutes. Das  Unpersönliche verbindet sich mit der Technik und verdichtet sich zu einer Einheit, die hin und her geschoben wird. Der Mensch ist auf dem Abstellgeleise angekommen, von wo er bei Bedarf hervor geholt werden kann. Auf jenem Geleise wird er verwaltet und der Entmenschlichung der Technik ausgeliefert. Der Mensch wird hochgerechnet und als Zahl abgesteckt und abgerechnet.

Das Funktionieren der Maschine ist wichtiger als der Respekt des Menschen, sagen die sich drehenden Räder des Wagens, der jetzt steht.

Die Technik geht alle an, immer mehr. Die Technik trägt jedoch nicht an allem Schuld. Der Mensch hat die Technik selber kreiert. Im Fall liegt kein Unfall vor. Die Züge fahren auf der Strecke, auf welcher Stiefe fahren sollte. Menschliches Versagen macht den Menschen zur Schnecke, die sich nicht bewegt.

Der Zug fährt, was er beweisend zur Schau stellte, als er sich zurück in den Bahnhof bewegte. Technisch ist der Zug in gutem Zustand, durchdacht, damit er funktional über die Geleise rollt. Also fahrbar. Alle Elemente, die das Hirn wahrnimmt, sagen: Er funktioniert, es ist alles intakt. Und dennoch ist der Zug völlig aus dem Takt geraten, aus dem Ruder gelaufen.

Solche Wunden, wie sie die Entscheide der Bahntechnik schlagen, welche die Geschicke der beförderten Personen in den Händen hält, sind nicht sichtbar. Die Bahn, welche modellhaft für ein integres, gemeinschaftliches Transportsystem für alle steht und als solches gesellschaftlich gefördert und propagiert wird, setzt das Gemeinschaftliche aufs Spiel und kaltblütig ausser Kraft.

Die von der Gemeinschaft getragene Bahn, setzt den Menschen, der selber die Gesellschaft trägt, ins Abseits und gibt das deutliche Signal aus: Ein funktionierendes System opfert gegebenenfalls Menschen, um den reibungslosen Ablauf eines Organigramms zu sichern. Das militärische Denken feiert Einstand.

Der Datentransport geht dem Menschen vor. Ohne Daten kann heute kein Mensch mehr befördert werden. Ohne Daten steht der Mensch still. Das will die moderne Technik. Sie hat Vorrang. Solange das Datenmaterial ihrer Ordnung folgt, kann der Mensch verschoben werden. Der Zug fährt, auch wenn es nicht der eigene ist.

Der Mensch gerät in das unerbittliche Räderwerk moderner Rechner, die ihn – wie Getreide – als  Massenverhandlungsware nicht von einem Ort zum nächsten befördern, sondern von Termin zu Termin. Er ist nicht mehr wert als der Rohstoff, der von einem Abfahrtstermin zum folgenden Abfahrtstermin gekarrt wird. Kurz: Der Mensch im Zug ist nichts anderes als ein Derivat, ein Termingeschäft, das sich beliebig verhandeln und, einmal vom individuellen Stückgut zum Massengut umfunktioniert, als verhandelbarer Wert den Hoch und Tiefs der Verkehrsbörse ausgesetzt wird.

Stiefe merkt auf. Dem Anschein nach ist das Datenmaterial des Zuges wieder in eine Ordnung gebracht. Die Szenerie setzt sich in Bewegung. Der Zirkus geht weiter. Mauern, ein Vorbahnhof, eine Stadt fahren vorbei. Der Reisende ist in einen Kanal gesteckt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Karg gestaltet sich die Wahrnehmung der vorbei ziehenden Landschaft. Stiefe erscheint sie als eine Folge von abgeschliffenen Felsen hoch oben in den Bergen, wo keine Seele Fuss fasst. Felsen, die wirken, als sei ihnen jegliches Leben abhold.

Stiefe wird wie ein Stück Fleisch in einer Auslage verschoben, das der Metzger nach Belieben von einem Plateau auf ein nächstes manövriert, um etwas Raum für einen neuen Fleischlappen zu schaffen. Der Mensch ist verfügbar wie das ganze Datenmaterial, das über ihn elektronisch gesammelt und verkauft wird. Auch Stiefe wird als Opfer der Technik dargebracht. Stiefes Daten werden anderen nützen. Als ob Krieg wär.

*

Stiefe überlegt, wie es dazu kommt, dass er als Mensch versetzt wurde.

Der Zug fährt. Eine widersinnige Logik hat ihn in Bewegung gesetzt. Wohin führt die Irrfahrt. Irgendein Fahrplan stimmt. Nicht jener des Gastes, des Fahrgastes. Der stellt eine vernachlässigbare Menge dar. Eine Frequenz, die beliebig umgepolt werden kann. Das Bahnsystem dient der Frequenzaufnahme. Den abscheulichen Ausdruck haben Bahnfunktionäre erfunden. Sie bezeichnen damit Menschen, die von einem Zug in einen anderen verschoben werden, weil der Zug stehen geblieben ist, ausfällt. Das Wort hat den Menschen entzaubert. Er ist zu einer Recheneinheit geworden.

Der Zug fährt vorwärts. Die Technik hängt den Menschen ab wie einen Wagen, der zu viel an den Zug angehängt ist. Der Zug fährt durch eine Landschaft, einer soeben bereits geschauten. Wer fremd ist im Land und die Sitten nicht kennt, denkt: Die Bahngesellschaft verfügt über merkwürdige Fahrdienstvorschriften, um die Passagiere von einem Ort zu einem anderen zu verschieben.

Die Bahn hat die Züge im Griff wie ein Kind, das seine Lokomotive zurück aufs Geleise setzt, nachdem es diese aus der Bahn geworfen hat. Das Kind muss nicht mit Menschen rechnen. Seine Züge führen keine Passagiere. Die Bahn ist auf das Kind gekommen.

Das ist gnädig gedacht und zwar von jenen Leuten, die mit dem neuen Verkehrsleitsystem nicht vertraut sind; welche die Bahn als eine Ferienangelegenheit betrachten; die Bahn als Seifenopfer ansehen, in der ein zeitunabhängiger Erholungsaufenthalt gegeben wird.

Die Bahn, ein Fortbewegungsmittel für Leute, die Zeit haben; Eskapaden lieben, wie sie auf einer Modelleisenbahn möglich sind. Die Technik reduziert den Menschen zu einer Spielfigur: austauschen, ersetzen und verwerten.

Diese Denkart rückt jedoch vom ethischen Grundgedanken ab, der das Überleben der Menschheit ermöglicht und die Gesellschaft voran bringt: Jeder Mensch ist gleich viel wert wie der andere. Die Abkehr von diesem Grundsatz treibt die Gesellschaft in dunkle Zeiten wie jenen, in welchen die Abscheulichkeiten, die Menschen angetan wurden, schauerlichste, graue Blüten trieben.

Stiefe überlegt, wie es dazu kommt, dass er als Mensch versetzt wurde. Er sagt sich, dass er in einer Zeit lebt, in der hinter den Entscheiden, die gefällt werden, nicht ein Mensch, der denkt, steckt, sondern ein Rechner, der Amok läuft. Niemand kann ihn bremsen. Er wirkt selbstregulierend und ist gleichzeitig jenem Wahnsinn ausgeliefert, der ihn vom Menschen weg treibt.

Stiefe sitzt nicht in einer Todeskammer. Eine Technik aber, die sich über die ethischen, menschlichen Werte hinweg setzt, steuert auf diese zu. Der Kernsatz des demokratischen Gedankengutes wird verraten. Stiefe spürt den Schweiss im Nacken.

Die Modellbahn der Menschenverachtung setzt ihm zu. Stiefe sitzt in einem Karnevalswagen. Die Maske ist gefallen. Sein Gesicht sieht danach aus, als ob es der Tag nach dem Rosenmontag wär. Bei der Bahn ist jedoch der Fasching nicht vorbei. Sie nimmt den Menschen nicht ernst und nimmt für sich aus, den Menschen als einen Hampelmann, als eine Gliederpuppe von einem Ort zum nächsten zu hieven, als ob Zirkus wär und der Zug, geschmückt mit farbigen Bändern, als Faschingswagen daher kommt.

Auf diesem zeigt sich ein menschliches Modell mit alten Zähnen und kahlem Schädel, dem die Haut abhandengekommen ist wie bei einer schlecht gewarteten Lokomotive ihre Farbe, so dass sie zum Bannerträger ästhetisch sorgloser und schlecht gewarteter Technik wird.

Dem Gefährt reisst der Wind bei der nächsten Gelegenheit die Schmuckbänder weg und darunter erscheint die Bahn als nackte Büchse. Der Wagenkasten kommt als gut erhaltenes Skelett daher, dem Räder angeschnallt sind. Auf dem Bock sitzen die Funktionäre der Bahnbehörden. Sie lassen die Seifenkiste über die Schienen rollen und dirigieren mit der Peitsche das Orchester der Passagiere, die bunt im Spasswagen ihr Allotria treiben.

Wie in einer Maskerade blicken die stehengelassenen Passagiere hinaus auf die vorbei ziehende Landschaft. Nur ist ihnen das Singen und Jubilieren vergangen. Stiefe lässt die Fratzen der Zugsbegleiter an sich vorbei passieren und dreht den Kopf weg, blickt hinaus in die Landschaft und Städte, denen die Würde des Menschen abhandengekommen ist.

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