ie auf den Landkarten niedlich wirkenden, in Wirklichkeit aber mächtig weit aufsteigenden Alpen, welche als wunderbare Bergwelt in einem breiten Bogen Europa vom Mittelmeer bis weit in den Osten des Kontinents durchqueren, bergen einen Höhenzug von nicht gerade besonderer Länge, der aber einen stolzen Namen trägt: Den Männlichen. Nicht eine, nein zwei auf ihre Weise beeindruckende Bergbahnen führen zu dieser anmutigen Bergkuppe hinauf und streichen somit die Bedeutung des illustren Ortes klar heraus: Die eine hebt sich von anderen Seilbahnen wegen ihrer überdurchschnittlichen Länge ab. Über viele Kilometer hinweg steigt sie in gemächlichem Tempo Alpweiden und Wälder zum Firn empor. Die Gondel benötigt nahezu eine halbe Stunde, um den Weg zu bewältigen.
Ganz anders die zweite Bergbahn. Diese klettert geradezu in beängstigender Geschwindigkeit eine fast senkrechte Steilwand zur Bergstation hoch. Der Gedanke, die Gondel könnte den Felsen entlang in die Tiefe stürzen, lässt das Blut erstarren. Der Ausstieg oben auf die Ankunftsplattform ist eine Erlösung.
Auch für Isidor Poppa. Er atmet erleichtert auf und dann fest durch und freut sich seines männlichen Mutes. Er hat für den Aufstieg, trotz der abgrundtiefen Gefahr, genau diese schwindelerregende Steilbahn gewählt. Der Blick zurück in den Schlund, aus welchem er soeben gestiegen ist und der zu seinen Füssen tief in die Niederungen des fernen Tals hinabsteigt, lässt ihn erschaudern. Wie Zähne stechen einzelne, steinerne Zacken aus der steil abfallenden Felsmauer heraus. Isidor dreht sich von dieser schauerlichen Szenerie weg und schaut vorwärts. Er fühlt sich in absoluter Aufbruchstimmung.
In einem gewissen Sinn versprechen die Berge die grosse Freiheit. Doch völlig unvorbereitet gerät Isidor in eine missliche Lage. Davon weiss er aber noch nichts. Er geniesst vorerst den Augenblick, die völlige Transparenz, die ihm die Alpen an dieser Stätte als frische Luftreserve und geistige Erholungsstätte bieten. Gedanklich schlägt Isidor eine weite Brücke mit unzähligen Gliedern, die ein Ganzes bilden. Die zahlreichen Gebirge, welche die Alpen bilden, reihen sich aneinander als ein festes Band, das von Nizza bis Wien reicht. Die Szenerie, welche Isidor vor sich sieht, erfüllt ihn mit Herzensfrische oder führt vielmehr das Herze in der Hose, wie er zurück blickt in den Schlund, aus welchem er eben mit der Bahn gestiegen ist.
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Den Eiger schützt seine riesige Steinplatte.
Von den Ankunftsstationen ist es nicht mehr weit zum Gipfel. Dieser weiss aber die Neugier des Berggängers Isidor nicht zu bannen, denn der Grat liegt im Schatten eines Gebirges, von dessen Spitzen der Eiger eine der bekannteren ist. In dessen kilometerhohen, berüchtigten Nordfassade liesse sich leicht die Silhouette des nicht minder wegen seiner Toten gescholtenen Matterhorns als Relief einsetzen, denkt Isidor. Das Horn, das sich fern ab im Walliser Mattertal befindet, kann sich in der Berühmtheitsskale durchaus mit dem Eiger messen.
Die beiden Berggiganten treten nicht in Konkurrenz zueinander. Zu weit liegen sie voneinander entfernt und wollen jeder für sich selber bewundert werden. Den Eiger in der grandiosen Landschaft des Berner Oberlands schmerzt der Respekt einflössende Zahn, der hoch über Zermatt als Dorn in den Waliser Himmel ragt, darum nicht. Der Eiger trägt vor seiner Brust sein berühmtes Schutzschild, das schon viele Bergsteiger zu Tode brachte, die dem massiven Fels an die Härte wollten und die ebenso stolze Eiswand zu bezwingen suchten. Den Eiger schützt seine riesige Steinplatte. Er fürchtet weder Mensch noch Tod. Er dient beiden zu. Jene Kletterer, die oben auf dem Gipfel stehen, schauen zu den Toten zurück, die vor ihnen den Aufstieg wagten und dabei scheiterten.
Der Eiger bildet mit dem Mönch und der Jungfrau ein weltweit erstrahlendes Dreigestirn. Briefmarken und Postkarten tragen dessen Ruhm in die Welt hinaus. Auf Smartphones und Laptops zieren sie die Bildschirme. Die drei respektheischenden Ungetüme leuchten tagaus, tagein in unwiderstehlicher, grauweisser Pracht, blenden fast jene, die zu ihnen blicken und, ansichtig derer Grösse, erst einmal tief Luft holen. Die kalten Prachtsgestalten unter dem strahlendblauen Alpenhimmel blasen ihren Bewunderern den kühlen Atem einer hochalpinen Gletscherwelt frech ins Gesicht.
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Er atmet zufrieden die frische Luft der Berge ein.
Isidor verharrt im Anblick des Panoramas, das der Männlichen bietet und die Herzen von Tausenden von Touristinnen und Touristen aus Nah und Fern einnimmt. Ganze Gruppen von Ausflüglern, Frauen, Männer und Kinder durchmischt, welche ihre Reise in die Berge mit einem Besuch der weltbekannten Bergkulisse verbinden und die Ausfahrt mit einem Blick in die tiefen Täler und Schluchten krönen, blicken erstaunt und ehrfürchtig hinüber zum Objekt der Bewunderung, das auch Isidor bannt.
Isidor dreht sich noch einmal um und schaut zurück ins Tal, aus welchem er eben gestiegen ist. Nicht zu Fuss, aber mit der Bahn, die, an Seilen schwebend, von Wengen zum Männlichen führt. Grindelwalds Gondelbahn, jene, die knappe dreissig Minuten für die Fahrt benötigt, will er sich ein anderes Mal vornehmen.
Vorne, auf der Aussichtsplattform, zu welcher er nun gewechselt hat, schaut er in die weitläufige Landschaft hinab und hinauf nach den Bergen, welche seinen Standort umgeben. Ein azurner Himmel wölbt sich über das grandiose Gebiet. Der Werbeprospekt hat sein Versprechen eingehalten. Das Wetter steht den Erwartungen, welche die Werbebranche weckt, in nichts nach. Der einsehbare Bergbereich bietet sich mit Zinnen gleissend wie Glassplitter und Graten sanft wie Murmeltierrücken als unüberbietbares Panorama eines wunderschönen und abwechslungsreichen Geländes an.
Prüfend lässt Isidor den Blick an sich hinab gleiten. Die Ausrüstung stimmt. Er will nichts riskieren. Ein Flasche mit Tee befindet sich im leichten Gepäck, das er sich auf den Rücken schnallte. Er atmet zufrieden die frische Luft der Berge ein. Sie füllt seine Lungen und ermuntert ihn, seine Wanderung in Angriff zu nehmen.
Er drückt nun die Mütze, die als effizienter Sonnenschutz dient, fest in die Stirn und macht sich auf den Weg, seinem Tagesziel entgegen. Dieses erreicht Isidor über einen Wanderweg, der so bekannt ist, dass das Verkehrsbüro drunten im Tal für ihn keine Werbung zu machen braucht. Er verbindet den Männlichen mit den drei Riesen. Das gemeinsame Ziel aller Bergluftgroupies und Wanderfreaks, die den Weg einschlagen, unter ihnen Isidor, heisst: der Fuss der Eigernordwand. An dieser haben sich schon viele Menschen versucht und sind, sofern sie sich nicht lediglich einen Fuss verstaucht oder ein Bein oder eine Rippe gebrochen haben, dabei elendiglich ums Leben gekommen.
Böse Zungen leiten darum den Namen dieser hohen Spitze gern vom Begriff Ogre ab, was im Englischen und auch in der französischen Sprache nichts anderes als Menschenfresser heisst. Die Zähne dieser Berge sind scharf. Sie zerfleischen all jene, die aus Unbedacht in diese eindringen und dabei stürzen. Die Körper werden in Stücke geteilt aufgefunden, sofern die Leiber nicht gänzlich in der Eis- und Steinwüste verschwinden. Die Stollen und Klüfte reichen tief in die Felsen hinein, die Spalten tief in die Gletscher hinab.
Weniger gefährlich wirkt dagegen der schmale Weg, der am Männlichen startet und auf die ungeheuren Schnee- und Eis bewehrten Felsmauern von Eiger, Mönch und Jungfrau zusteuert. Sicher, auch auf diesem Weg kann der unachtsame Bergbegeher den Steilhang hinab purzeln, wenn er nicht aufpasst. Dessen ist sich Isidor bewusst.
Das Hinabfallen würde zudem keinen guten Eindruck machen und peinlich wirken. Isidor will sich nicht blamieren. Darum geht er wie viele andere Wanderer auch gewisse Stellen vorsichtig an. Denn einige Passagen zwischen dem hoch aufragenden Felsen auf der einen Seite und dem Abgrund auf der anderen sind doch von einer bestimmten Enge, die unerfahrene Berggänger verunsichern kann. Der Absturz würde im Tod enden. Wer hier runterfällt, dem wird der Leib aufgeschlitzt. Die Leute blicken an dem Ort mit weichen Knien und tiefem Respekt in den Talkessel, nehmen die Kinder an die Hand.
Zu Todesopfern ist es auf dem leicht gewundenen, meist gerade verlaufenden Bergpfad noch nicht gekommen, obwohl die Strecke viel begangen wird. Sommers. Im Winter bleibt sie wegen der Gefahr von Lawinenniedergängen geschlossen.
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Bei bergungewohnten Fussgängern kann der hoch gelegene Panoramaweg darum Schwindel auslösen.
Isidor schreitet wacker aus. Auf dem Kies knirschen die Sohlen. Er lässt Alpweiden und Kühe hinter sich. Ein Schwarm Bergdohlen pfeift ihm um die Ohren. Die Vögel sitzen wie Geier auf Felsen und schauen die Menschen an, die nahen und vorbei gehen.
Die Luft schwängert ein Gemisch aus Wärme, die vom Tal herauf steigt, und Kühle, die von den Bergen herab kommt. Auch Sommers, wenn es drunten im Tal recht trocken ist, liegt auf dem Weg Feuchte. Sie stammt von den wasserspeichernden Felsen, die den Pfad säumen.
Die Atmosphäre ist in dieser Höhe etwas dünner beschaffen als drüben, unten, dort wo die Städte stehen. Bei bergungewohnten Fussgängern kann der hoch gelegene Panoramaweg darum Schwindel auslösen und zu vorzeitiger Müdigkeit führen.
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Die Zunge muss fit bleiben, um den Schweiss von den Lippen zu lecken, wenn dieser von Stirn und Wange zum Mund rinnt.
Für die Wandersleute gilt darum die eherne Regel: Halt auf diesem Weg deine sieben Sinne beisammen – und das aus verschiedenen Gründen: Augen und Ohren gilt es zu öffnen, um den unterschiedlichsten Gefahren auszuweichen. Die Nase vermittelt den Wanderern neben den frischen Düften, welche Fels und Blumen abgeben, auch wichtige Hinweis auf weitere Bedrohungen wie etwa einen Waldbrand, der sich während Trockenperioden durchaus auch in den Bergen entfachen und schnell ausbreiten kann.
Die Haut will frisch bleiben, um alle Zeichen der umgebenden Natur aufnehmen zu können, und nicht am Fels aufgeschürft und verletzt werden. Die Zunge muss fit bleiben, um alle Bergkost zu testen, bevor sie dem Gaumen zugeführt wird, und den Schweiss von den Lippen zu lecken, wenn dieser von Stirn und Wange zum Mund rinnt. Der Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn tragen das ihre bei, damit die Wanderung gelingt.
Der Kluge schützt sich zudem mit geeigneten Mitteln vor der Sonneneinstrahlung, damit die Sinne der Haut nicht ausgebrannt werden. Sie sollen weiterhin ihren wichtigen Aufgaben nachkommen können.
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Der Pariser Eifelturm wirkte wie ein kleiner Wicht.
All diese gesunden Vorsätze und Verhaltensregeln nimmt sich Isidor zu Herzen. Er hat sich auf den Gang durch die Bergwelt gut vorbereitet. Er weiss, dass die Eigernordwand das ganze Jahr über offen ist. Jeder begibt sich aber auf eigene Gefahr hinein. In dieser Wand trägt der Bergsteiger die Verantwortung selber mit. Sie lastet zuweilen so schwer auf den Schultern jener, die hinauf wollen, dass der Ballast der Selbstüberschätzung die Kletterer mit gewaltiger Kraft hinab zieht, derart fest, dass kein Seil solchem egomanen Gewicht standhält, reisst und der Absturz gewiss ist.
Isidor gibt sich in den Bergen demütig, will diese nicht als Hochleistungssportler bezwingen, sondern lediglich eine einfache Wanderung unternehmen. Wer den Weg vom Männlichen zur Wand nimmt, schaut mit einem gewissen Schaudern zu jener steilen Steinfassade hinüber – und je näher er an sie heran rückt: hinauf. Das tut auch Isidor: zuweilen ehrfürchtig in seinem Schreiten inne haltend, verweilend und schauend. Ein Fels, der beeindruckt und in seiner Riesenhaftigkeit unglaublich erscheint.
Der Pariser Eifelturm, so elegant er auch aussieht, würde er zu Füssen des hochalpinen Riesen aufgestellt, wirkte wie ein kleiner Wicht und würde ob des imposanten Schauspiels, des weit auseinander gehenden Geäders, das sich über die ganze Wand verteilt, seine Wirkung einbüssen. Wer die Wand selber nicht gesehen hat, vermag sich kein Bild von ihr zu machen.
Der kalte Wind, der ab und zu von den Gletschern herab weht, ist ein Bote, dessen Kuss sich kein Mensch entziehen kann. Das Eis greift an die Kehle und lässt etwas davon erahnen, was die Natur, dort, oben auf dem Berg, für den Menschen bereit hält. Bissige Böen und Gletscherspalten, denen kein Leben standhält.
Isidor schreitet auf dem Pfad voran, blickt immer wieder wie gebannt und mit einem gewissen Schaudern hinüber zu den Zinnen hoch über dem Tal. Während der Wanderung bilden die Winde, der Bergfirne kühle Botschafter, die mitunter über die Haut streifen, eine willkommene Abwechslung zu den Sonnenstrahlen, die auf Schulter, Arme und Beine nieder brennen.
Die Wanderung, welche den Männlichen mit der Kleinen Scheidegg am Fuss der Eigernordwand verbindet, zeigt dem Besucher die Postkartenansicht eines wundervollen Terrains. Jeder Druck auf das Fotogerät, welches Bilder in rascher Folge schiesst, produziert das Porträt eine Landschaft, die Erholung und Gesundheit verspricht.
Das friedliche Bild inmitten des zum Teil doch ungastlich wirkenden Areals vermag das brandgefährliche, leichengenerierende Felsenungetüm im Hintergrund allerdings nicht weg zu drängen. Der Widerspruch zwischen gefälliger Natur und asketisch anmutender, kalt abweisender Bergkulisse macht die ungeheure Faszination aus, der sich der Mensch vor Ort nicht zu entziehen vermag und die immer wieder Menschen zu diesem Flecken Erde heranzieht.
Kein Wunder also, dass sich auch die Kunst der phantastischen Umgebung angenommen hat. Malern dient der Berg als Motiv, das sie unterschiedlich gestalten und variieren. Ein Autor hat sich gar dazu verstiegen, unter den Dreien dem Mönch, der sich neben dem Eiger breit macht, einen Mord zu unterschieben, indem er seiner Verbrechergeschichte den Namen „Eiger, Mord und Jungfrau“ gab. Solche Botschaften aus dem Reich der Fabeln, Märchen und Kriminalromane kann nur ein Autor ersinnen und aufzeichnen, der sich vom steinernen, monumentalen Dreiklang im Berner Oberland absolut begeistert zeigt und das überwältigende Gebilde auf die Staffelei der Literatur bannen will.
Blauer Himmel, ab und zu ein paar wenige Wolkenschleier, grüne, blumenreiche Wiesen, in der Tiefe unten im Tal Wälder und über dieser wundervollen Landschaft die mächtigen Wände des Hochgebirges. Natur pur. Bei einem derartigen Anblick läuft jede Fotokamera heiss. Isidor geht an Dutzenden von Wandergruppen vorbei, welche die Bergwelt auf ihre Chipkarte bannen.
Isidor ist sich bewusst, dass jeder Meter auf diesem Weg dazu einlädt, einen leeren Bilderrahmen auf das Naturschauspiel zu richten und diesen mit dem Abbild der eindrucksvollen Bergfirnis zu füllen. Bei Gewitter und Sturm begibt sich niemand auf diesen Weg. Der Wind würde den Fotoapparat oder die Staffelei glatt wegfegen. Nur wenige Unterstände gewähren in dieser Gegend Schutz. Die Felswände leiten die Sturmwinde gefühlskalt auf den Weg.
Isidor legt eine Pause ein, lässt Entgegenkommende passieren. Inder, Chinesen und Südamerikaner. Aus aller Herren Länder reisen Touristen an, Frauen, die von ihren Männern begleitet werden – und umgekehrt, um den bekannten Höhenweg zu begehen. Die Strecke wird mit allem möglichen Schuhwerk in Angriff genommen.
Der Anblick, der dieser von der Tourismusindustrie und der Mund zu Mund-Propaganda angepriesene Wanderpfad verspricht, lässt jeden Gedanken an eine gewisse Vorsicht schwinden. Tourismus verbinden viele Reisende mit dem Überbegriff sicherer Erdradius. Der Reim deutet an, dass dieser Kreis keine Gefahr birgt und der gut betuchte Urlauber ihn darum ohne Bedenken und somit gefahrlos begehen kann.
Viele wappnen sich mit Bergschuhen. Andere Müssiggänger des Bergwanderns geben sich hingegen mit Sandalen oder Finken zufrieden. Der Blick auf die Fassaden der drei Alpenriesen, die weit in den blauen Himmel hinauf ragen, verscheucht jedes Empfinden schmerzender Füsse und jeden Gedanken an verstauchte Gelenke. Noch andere Berggänger gehen mit einem Stock über Stock und Stein, um das Gleichgewicht angesichts der senkrecht hinab fallenden Felsen am Rande des Pfades zu halten.
Wer sich an dem Ort den Fuss verstaucht, dem wird schnell geholfen. Wer hingegen stolpert und über den Rand des Weges fällt, dem kann nicht mehr geholfen werden. Nur damit kein Missverständnis entsteht: Der Berg mordet nicht, er tötet nicht, er nimmt einfach nur jenen das Leben, welche sich nicht an die Regeln halten, die das Gebirge setzt.
Etwas Nervenkitzel verursacht in dieser wunderbaren Umgebung also nicht nur die Eigernordwand, sondern auch der Weg, der vom Männlichen zu dieser hinführt.
Obwohl Isidor wacker ausschreitet, hat er das Gefühl, er käme kaum vorwärts. Der Berg bleibe in gleicher Ferne. Kurve reiht sich an Kurve.
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In den Bergen dürfen die Benimmregeln nicht verletzt werden.
Auf dem engen Raum, den der Weg zwischen Felswand und Abgrund bietet und der zudem noch enger wird, wenn die Wanderer sich an den Entgegenkommenden vorbei manövrieren, hört Isidor viele Sprachen. Eng wird es auch dann, wenn Isidor, wie er wieder weitergeht, Leute kreuzen muss, die am Wegrand stehen, um die Berge zu betrachten und Fotos zu schiessen. Isidor ist darauf bedacht, an niemandem anzustossen. Die berührte Person könnte erschrecken, das Gleichgewicht verlieren und in die Tiefe stürzen.
Isidor schreitet seines Weges. Mann und Frau, Kind und Hund schwitzen unter der Anstrengung des Gehens im Gleichtakt. Isidor weicht aus, wo es nötig ist. Lässt seinerseits freundlich Leute den Vortritt, die aus der Gegenrichtung kommen, also nicht den Eiger als ihr Ziel ausersehen haben, sondern den Männlichen. Dem Vielfrass somit den Rücken zuwenden und stattdessen auf den Kerl mit der merkwürdigen, aber doch sinnlichen, virilen Benennung zusteuern, der langgestreckt im Schatten der hochaufragenden Jungfrau schlummernd lagert.
Isidor muss auf die Anderen Rücksicht nehmen. Sonst gibt es für ihn kein Weiterkommen hinüber zum Eiger. Wer sich auf diesem Weg wie ein Tollpatsch bewegt, wird von bergkundigen Wanderratten schnell in die Zange genommen und, was sein Benehmen betrifft, eines Besseren belehrt. In den Bergen dürfen die Benimmregeln nicht verletzt werden. Es kann schnell zu einem schweren Unglück kommen, der bleibende physische oder mentale Schäden hinterlässt.
Isidor geht weiter voran, hört viele Sprachen, versteht sie nicht. Aber aus dem Klang, den der Wandersmann aufnimmt, tönt Begeisterung über das, was die Leute sehen, und auch über die wunderbar saubere Luft, die sie mit sichtbar geweiteter Brust gierig in sich aufnehmen. Das Staunen ist gross über die Blumen und Kräuter, die in der kargen Berglandschaf, hoch oben über den urbaren Böden noch wachsen und sich in Spalten an windgeschützten Stellen an den Felsen klammern. Viele Wandersleute drücken schier ihre Nase in die duftenden Gewächse hinein.
Des Verweilens darf Isidor jedoch nicht lange frönen. Die Nacht schliesst in solcher Höhe sehr schnell ihre eiskalten Arme um die Säumigen. Um sich Wärme zu holen, steigt der Gefrierpunkt, als fürchte er sich selber vor den grossen Schäden, die er anrichten kann, zuweilen in grosser Eile von den Höhen zu den Menschen hinab, als ob er sich dort etwas mehr Temperatur holen wolle. Der Frost wirkt dann, als habe er vor der Einsamkeit in den hoch gelegenen Bergregionen Angst und wolle so schnell wie möglich von den weiten Eisplateaus und Felsschluchten weg. Der Sturz in die Tiefe erweist sich in dem Fall als der schnellste und beste Ausweg. Im Gegensatz zum Menschen überlebt die Kälte einen solch abruptenen Abstieg unbeschadet.
Isidor achtet darum auf den Fahrplan, den er für sich aufgestellt hat. Er schreitet rüstig voran und erreicht nach einer knappen Stunde flotten Marsches, immer wieder Pausen einlegend, um einen Blick in die Bergwelt zu werfen, auf seiner Route jenen Punkt, von welchem aus er unter sich, auf dem Scheitelpunkt des direkten Weges zwischen Grindelwald und Wengen, ein paar Häuser ausmacht.
Auch dieser Anblick ist überzeugend. Die Siedlung auf der Wasserscheide zwischen Ost und West, kurz Bergsattel genannt, sieht ganz danach aus, als läge sie zu Füssen der Eigersteilwand, aus welcher jederzeit ein Fels herausbrechen kann, der aus dem Weiler auf zweitausend Metern über Meer einen Steinschlagfriedhof machen würde, fiele er in diesen hinein.
In diese Landschaft hinein fährt auf der Kleinen Scheidegg die Technik ein. Das Eisen hat den Pass bezwungen, sich wie Fesseln über ihn gelegt. Vom Grat fahren die Züge in drei Richtungen: Hinunter nach Grindelwald, hinauf zur Jungfrau und zudem in die Tiefe des Lauterbrunnentals. Der niedliche Hochgebirgsbahnhof ist in den Hochsommertagen vor allem eins: Eine umtriebige, kleine, aber hochfrequentierte Haltestelle, die effizient geführt wird. Ständig fahren Triebwagen los oder treffen solche aus dieser oder jener Richtung auf den verschiedenen Perrons ein.
Der Bahnhof und die Geleise, die sich von der Bergstation entfernen und den Berghängen entlang schlängeln, wirken vom Standpunkt aus, den Isidor gerade einnimmt, wie eine Modellbahnanlage. Klein und zierlich schauen die Loks und Wagen aus, die Leute wie Miniaturfiguren, die über die Geleise und Perron steigen. Dort hinab begibt sich Isidor nun, um den Zug zu nehmen.
Auf der Kleinen Scheidegg angekommen, hört sich Isidor um. Die Sprachenvielfalt nimmt verglichen zu dem, was er auf dem Weg zum Sattel bereits gehört hat, noch zu. Im Bahnhofsareal staut sich eine ganze Menge von Menschen, die nach allen Richtungen drängen. Isidor weiss fast nicht, wo ihm der Kopf steht. Die Leute stossen zu den Zügen vor, drücken von diesen weg, zwängen sich zu den Getränken und Speiseverkaufsstellen hindurch. Zu den Wegen, die in die Berge führen. Zu den besten Aussichtspunkten in die Täler und auf die Berge.
Isidor stellt fest, dass an diesem Ort alle Erdteile vertreten sind. Touristen jeglicher Hautprägung schauen in die Himmelsrichtungen, blicken hinauf zu den Kühen, die auf den nahen, nicht sehr steilen Bergweiden über der Berghäuseransammlung äsen, spähen zu den riesigen Felsschluchten, die sich vor der Örtlichkeit auftun und die Kälte des Gebirges in sich hinein saugen, so dass dort das Eis der Gletscher tief ins Tal greift. Und da steht eben diese Wand, die nicht begehbar scheint und von der jederzeit ein Fels oder ein Eisbruch herab donnern kann.
Isidor tritt von der Stelle aus, auf welche er auf diesem Bergsattel zwischen Ost und West steht, einen Schritt in Richtung der nahen, nackten Bergflanke vor und hat gleich das Gefühl, er steige in diese hinein. Isidor macht einen Schritt zurück und blickt nun hoch, hinauf zum Mönch, der sich als Schmuck eine ungeheure Masse von Eisbrüchen um den Hals gelegt hat. Neben ihm liegt die Jungfrau mit ihrer breiten Brustwehr aus Fels und Gletschermassen.
Das Panorama lässt niemanden kalt. Es wärmt den Geist – gemeinsam mit der Sonne, die an diesem Tag wohltuend warm ihre Strahlen über die gesamte Landschaft legt. Isidor könnte lange an dem Ort verweilen. Auf den Sonnenuntergang warten, der die Berge in ein noch wunderbareres Licht taucht, als es die vorgerückte Nachmittagszeit bereits tut. Eiger, Mönch und Jungfrauen sind nicht nur Eis und Fels. Sie bieten je nach Tageszeit und Wettereinschlag ein wechselndes Farbenspiel. Der Showeffekt ist garantiert. Einmal mehr bannen die drei Riesen mit den wechselnden Schatten, Farben und Wärmetönungen, welche sich auf ihr steinernes und eisiges Kleid legen, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich.
Isidor beschliesst dennoch, das faszinierende Lichtspiel der Dämmerung nicht abzuwarten, sondern innert nützlicher Frist den Weg ins Tal einzuschlagen. Nach Lauterbrunnen hinab fährt alle halbe Stunde ein Zug. Das Besteigen der Züge ist an dem Ort ein besonderes Vergnügen. Fragen lohnt sich, die Antworten lotsen die Reisenden zum richtigen Zug, auch wenn diese Antworten oft nicht aus ganzen Sätzen bestehen, sondern aus Wortfetzen und Gestikulationen. Was Isidor nicht erstaunt. Er ist sich bewusst, dass die Bahnangestellten an dem Ort nicht alle Sprachen der Welt beherrschen können, wo es ihm selber schon gar nicht gelingt, jede Sprache, die er hört, einem bestimmten Land zuzuordnen.
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Das Geschehen auf dieser kleinen Passhöhe wirkt auf Isidor etwas chaotisch.
Das Geschehen auf der kleinen Passhöhe wirkt auf Isidor etwas chaotisch. Es setzt sich massiv von der Ruhe ab, welche die Natur rundherum ausstrahlt und Isidor wohltuend auf seiner Wanderung begleitete.
Auf der Kleinen Scheidegg hingegen tönt der Berg wie ein Bienenstock, von dem kein Mensch weiss, wie er organisiert ist.
Auf den Perrons eilen Bahnangestellte umher. Ihnen geht es vermutlich darum, die Bahnen, welche zur Fahrt ins Tal bereit stehen, abzufertigen und zu verhindern, dass eine Person in einen der anfahrenden Züge hineinrennt, möglicherwiese, weil er die Ansagen in der ihm fremden Sprache nicht verstanden hat und vom Start des Wagenkonvois nichts weiss.
Im Gehetze vor der Abfahrt beschränken sich die meist gehörten Worte von suchenden Touristen auf Laute, die nach Lauterbrunnen klingen, etwa auf Latebun oder Partebrun, und auf ein nachfolgendes, kurzes Yes, das der angefragte, uniformierte Bahnangestellte äussert. Um seiner Antwort Nachdruck zu verleihen, wiederholt dieser das kleine Wort jeweils mehrmals und illustriert die Bejahung mit grosszügigen und einladenden Gesten.
So geschieht es auch Isidor, dem es partout nicht gelingt, herauszufinden, welcher Zug nun ins Tal startet und welcher zur späteren Abfertigung auf der Passhöhe stehen bleiben soll. Der von Isidor gestellte Bahnbeamte rudert generös mit den Armen und winkt in Richtung eines Zuges – ganz als wolle er sagen: Mach vorwärts, wir wollen abfahren – oder nimm dann den nächsten Zug, denn hier oben ist es angenehm und sobald bist du nicht wieder auf diesem Berg.
An dem Ort möchte man verweilen und die Augen nach allen Seiten ewig verdrehen, im Anblick schwelgen. Er ist von erhabener Schönheit, mit wenigen anderen Naturwundern nur gleich zu setzen. Die Erinnerung an den Landstrich bleibt derart im Menschen eingebrannt, nachdem er längst wieder zuhause ist, dass er das Gefühl hat, er sei erst gestern in dieser prächtigen Urlandschaft gewesen, in diesem Gemisch aus sanften, mit duftenden Kräutern bewachsenen Hängen, einladenden Gras- und Blumenflächen und der ungeheuer mächtigen und imposanten Felsenwand, die ihren starken Schein unlöschbar in die Netzhaut und Erinnerung der Menschen einstanzt. Isidor möchte stehen bleiben, doch der Zug will hinab.
Das Volk steigt in die bereitgestellten Wagen. Nimmt Platz. Isidor sichert sich einen der letzten freien Sitze. Die Leute sind gesetzt. Wanderrucksäcke, nur wenige aufgepackte Kletter- und Hochgebirgsausrüstungen, versehen mit Seilen, Steigeisen und weiterem Gletscher und Felssicherungsmaterial, blockieren als grobes Sperrgut zwischen den Sitzen den Wagendurchgang. Alle Plätze sind besetzt. Auch dort, wo die Leute stehen müssen. Der baldigen Abfahrt des Schienenkonvois steht nichts entgegen. Dieser fährt pünktlich los.
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Der moderne Panoramawagen öffnet unverhohlen die Sicht auf die wunderbare Alpenwelt und versenkt die Zugspassagiere in eine kleine Walnuss auf Rädern.
Zur Rechten des Geleises setzen sich die saftigen Fluren fort. Dicke, kräftige Kühe grasen auch hier. Isidor blickt auf der anderen Seite des modernen Panoramawagens hinaus. Sein Blick prallt an der schon mehrfach bewunderten Felsenmauer ab, steigt diese weit hinauf, immer weiter, je tiefer das Geleise sich ins Tal senkt. Der Kontrast zwischen Weiden und Fels wächst mit jedem Meter mehr, den der Konvoi tiefer den Hang hinab fährt.
Auch wie sich der Zug gegenüber der Jungfrau befindet, ändert sich nichts am Bild. Den Berg hinan klettert senkrecht eine gigantische Felsprojektion. Der moderne Panoramawagen öffnet unverhohlen die Sicht auf die wunderbare Alpenwelt und versenkt die Zugspassagiere in eine kleine Walnuss auf Rädern, die nun einen Steilhang hinab tuckert.
Der Zug fährt langsam – zu sagen wäre fast: vorsichtig, denkt Isidor – gesichert durch Zahnräder, die sich an eine Mittelschiene klammern, unbeirrt zu Tal. Der Eiger verschwindet aus dem Gesichtsfeld, auch der Mönch und nach ihm die Jungfrau. Andere Bergwelten tun sich auf. Steile Wände auch hier, die vertikal wie das Lot gegen die Talsohle fallen. Der Berg bietet auch an dieser Stelle Superlative. Die tief eingeschnittene Schlucht schaut aus wie ein überdimensionierter Trichter, aus welchem alles Wasser abgelassen ist und in welchem sich eine weitere, aparte Landschaft auftut.
Erinnerungen werden wach. Phantastische Welten voller Trolle, Tatzelwürmer, Hobbits, Houderebäseler und anderen Fabelwesen, welche die Bergwelt bevölkern, öffnen sich. Wie von Schornsteinen ausgespuckt, die aus Bergwerken tief in den Felsen münden, breiten sich einige Wasserdampffetzen über dem Grund aus. In langen, schmalen, silbernen Streifen stürzen Wasserfälle glitzernd die Steilhänge hinab. Würden sich in diesem Himmel Paradiesvögel tummeln, glaubte sich Isidor in einer Elfenwelt.
Der Anblick der Talschaft, welche dem Werk „Der Herr der Ringe“ Pate gestanden haben soll, verschlägt Isidor die Sprache. Sein Urteil über die Landschaft ist eindeutig: umwerfend. Nicht nur er. Alle im Zug wollen sie eingehend begutachten und als Teil bedeutender Reiseerinnerungen in sich aufnehmen.
Doch auch andere Bilder lassen sich schiessen. Sportler und Sportlerinnen stürzen sich an dem Ort in den Tod, indem sie ihn zu überleben suchen und dabei einen Blick in die Ewigkeit wagen, der Sekunden nur dauert. Vom Himmel herab, aus dem Nichts geschossen, fallen Männer und Frauen wie Steine den steilen Felsen entlang hinab ins tief ausgeschnittene Tal und reissen im letzten Moment an der Leine des Fallschirms, der sie vor dem Tod bewahrt.
Wie Pilze, auf einmal belebt, wirken die fallenden, menschlichen Punkte, wenn die Schirme sich über den Springern mit einem überlauten Knall öffnen, der aus dem Nichts erfolgt und die Leute erstaunt aufblicken lässt, die nichts von dem wunderbaren Schauspiel der Basejumper über ihnen wissen. Diese landen sicher und fest auf dem Talboden, zu welchem jetzt Isidor im Zug hinab fährt.
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Die Passagiere zeigen sich begeistert ob der nun auch von Wäldern durchzogenen Zauberwelt – auch wenn ein paar Fahrgäste ermattet in ihre Sitze zurücksinken.
Das Gedränge an der Fensterfront des Wagens ist gross. Isidor muss all die zu Neugierigen, die sich über ihn in Position bringen, um das Schauspiel zu knipsen, dessen sie auf ihrer Talfahrt Zeuge sind, von sich drängen und zuweilen auch stossen. Sie nehmen ihm den Atem. Der ganze Wagen steht und preist, die Kamera im Anschlag, die Gegend, durch welche der Zug in die Schlucht gleitet.
Der Druck im Wagen nimmt zu. Menschenausdünstung macht sich breit. Die Temperatur steigt im Inneren des Gefährts, als ob der Zug auf eine Esse zu führe. Der vollklimatisierte Zugwagen gestattet es nicht, die Fenster zu öffnen. Die Klarsichtscheiben sind absolut sauber und gewähren Klarsicht auf die umliegenden Schneefelder hoch oben in den Gipfelbereichen der Bergriesen und auf die Schattenhänge in den Kluften. Wunderbare Fotos lassen sich durch diese nach ganz verschiedenen Richtungen offenen Scheiben schiessen. Die Passagiere zeigen sich begeistert ob der nun auch von Wäldern durchzogenen Zauberwelt – auch wenn ein paar Fahrgäste ermattet in ihre Sitze zurücksinken.
Mit jeder Drehung der Zahnräder, die sich, hochtechnisch kalibriert, der Mittelschiene entlang angeln, wechselt jedoch im Wagen das Thema der Gespräche zusehends und bewegt sich weg von den Bergen hin zur steigenden Temperatur, die sich im Wageninnern deutlich ausbreitet. Der vollautomatische Luftabzug des Wagens vermag nicht mehr Herr der Wärme zu werden.
Bergjacken werden geöffnet. In den dicht besetzten Wagenkasten sitzen die Leute nah beieinander. Viele Stimmen verstummen. Der Mund wird verstärkt zum Atmen gebraucht, zum Pumpen von Luft. Luft soll kühlen. Niemand korrigiert die Einstellung der Klimaanlage. Diese dient der Umwälzung von Luft und taugt nicht als Dampfabzug. Die Luftkläranlage schaufelt den Schweiss zurück in den Wagenkasten, statt frische Luft zuzuführen.
Ab und zu bleibt der Zug stehen. Mehr Leute steigen zu. Frische Luft drängt nach, die aber bald aufgebraucht ist. Die Wärme lässt sich nicht vertreiben. Als ob Fieber in der Luft wäre, bilden sich auf den Gesichtern Schweissperlen, bald auch Schweissfilter. Vom klarblauen Himmel brennt die Sonne, von keiner Store, keinem Vorhang aufgehalten, unbarmherzig in den Wagen hinein. Die Temperatur erhöht sich weiter. Die bequemen Fahrzeuge gestatteten ein hochkomfortables Schwitzen. Die Kleider kleben an der Haut.
In den Rahmen, welche die Fensterscheiben setzen, wechseln sich die Perspektiven ab. Berghotels aus Naturholz, versehen mit Wintergärten, ziehen als pittoreske Panoramawand vorbei an den Zugsgästen, welche der Zug in das Tal hinab befördert. Chalets, schmucke Gärten, die absolut gut gepflegt werden, Geranienbänke, Weiler in Waldlichtungen, Ausflugsrestaurants, auf und absteigende Wandersleute gewähren den Hinabreisenden Abwechslung in dem, was ihnen die vorbeiziehende Aussenwelt an Fotosujets bietet. Die Film- und Totogeräte sind nicht mehr im Anschlag. Die Innenwelten heissen die Passagiere ihre Kleider öffnen. Die Haut sucht nach kühler Luft.
Die riesenhaften, Frische versprechenden Wasserfälle rücken näher. Schluchten, die einen romantischen Ausblick auf alte, verwitterte Holzhäuser an steilen Berghängen, umgeben von Tannen, Föhren und Fichten, preis geben, lassen die unbewanderten Zugsbenützer in den Knien erschaudern. Viele möchten sich setzen. Isidor schätzt sich glücklich, dass er sitzt und der Schweiss ihm nicht in die Wanderhose tropft.
Die anhaltende Brutofenhitze im Wagen führt dazu, dass weitere Passagiere ihre Kleider öffnen. Isidor hätte am liebsten sein Hemd ausgezogen und mit diesem den Schweiss vom Gesicht gewischt. Frauen machen ihre Schultern frei, soweit es der Anstand gestattet. Einige Passagiere müssen sich denken, sie befänden sich in ihrer Heimat, den Tropen.
Isidors Nachbar drückt sich an ihn, als suche er Kälte. Sein Gegenüber versucht sich mit den Beinen etwas Raum zu schaffen. Der Zug fährt. Wie ein gut abgedichteter Behälter umschliesst er die Brut, die er transportiert und zu Tale fährt. Kein Gramm zu viel an Wärme dringt nach draussen.
Isidor kommt sich mit der Zeit immer mehr vor, als schmelze er, in eine Eisenrüstung eingepackt, vor sich hin. Als sei er den peinigenden Strahlen der Sonne, die unbeirrt herein brennen, in einer solchen Intensität ausgeliefert, dass ihm vorkommt, er sei in die Hitze eines Höllenofens geraten und jedes Eis sei von den Bergen weggeschmolzen.
Landschaften lassen sich wunderbar vermarkten. Besonders wenn ein derart markantes Gelände die Umgebung prägt, wie sie nach wie vor an den Wagenfenstern vorbei zieht. Die Werbeindustrie verspricht Frische und Kühle, frohe Gesichter und spielende Kinder, ein kaltes Getränk, erfrischende Brunnen, schattige Wälder. Wunderbar wird dieses touristische Angebot auf Papier und in Werbeblöcken im Netz und auf Smartphones propagiert. Weltweit. Millionenfach. Der Zug konterkariert Schrift und Bild.
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Manch einer hat in diesen Bergen, hoch oben in den Wildnissen, überlebt, obwohl er als verschollen gilt.
Die Höhen und Täler formen ein prospektives Reich für jeden unternehmungslustigen Investoren. Sein natürlicher Feind ist gegebenermassen die Behörde für Landschaftsschutz. Die Natur des Bergparks darf nicht angetastet werden. Sie soll belassen werden, wie sie von Alters her in die Moderne fand. Ihre romantisch verklärte Anmut und die aufgrund der aufwändigen, technischen Infrastruktur gut erschlossenen, pittoresk belassenen Dörfer und exquisiten Ausflugsziele finden Anklang. Zusätzliche Werbung ist nicht nötig. Die Besucher streben heran. Die Phantasie spricht auf die Gegend an, entzieht ihr tausend Geschichten von Leichenzügen, weissen Weibern, geheimen Schätzen und gescheiterten Knechten. Von unter Eis verborgenen Orten, die nicht mehr existierten, nachdem sich die Gletscher wegen der Erderwärmung zurückgezogen haben. Schreien in der Nacht, die vom Wind heran getragen werden. Tiere, die in den Felsen verschwinden und nie mehr gesehen werden, als ob es unter der Oberfläche andere Bergwelten gäbe.
Die Felsen erzählen an dem Ort viele wundersame Geschichten. Die Berge bergen Kraftorte, von deren Existenz nur Einheimische wissen und jene, die eingeweiht worden sind. Manch einer hat in diesen Bergen, hoch oben in den Wildnissen, überlebt, obwohl er als verschollen gilt.
Nun erzählen die Berge neue Geschichten: Von vollen Zügen und halb erstickenden Menschen; als seien über diese die schlechten Geister dieser wunderbaren Landschaft hergefallen, um sie an der Gurgel zu packen und zu würgen. Der Zug fährt weg, nimmt die Geister mit, kurvt mit der Kraft der Bremsen den Berg hinab. Der Wagenkasten knirscht. Isidor steht der Schweiss auf der Stirn. Die Belüftungsanlage muss den Geist aufgeben haben. Isidor wischt sich einen Schweisstropfen von der Nase. Ein Entkommen auf die umliegenden frischluftgefüllten Matten ist nicht möglich. Die Wagentüren halten dicht. Keine Mistfliege, wie klein sie auch ist, dringt durch eine Ritze herein, um sich am Geruch, der sich im Wagen breit macht, zu erlaben und an der Quelle des Dufts zu sättigen. Die Leute sitzen dicht gedrängt. Etliche müssen stehen, befinden sich zwischen Gepäckstücken eingeklemmt, welche die Wagendurchgänge versperren. Während der Fahrt ist zudem das Aussteigen nicht gestattet, obwohl sich der Wagenkonvoi nur langsam zu Tal bewegt.
Die Fensterfront, als Abwehrfront gegen das Aussen gedacht, lässt von der freien Aussenwelt nichts herein. Keine Kühle, keine erneuernde Luft. Nur jene Kräfte, welche den Leuten in den Leib steigen und aus diesem den Schweiss treiben. Die Leute schauen sich an und leiden still vor sich hin. Isidor quält es mit. Sein warmes Nass tränkt das Brusthaar.
Das technisch hochgerüstete Berner Oberland ist für touristisch hochstilisierte Überraschungen immer gut. Nicht nur die Berge verheissen spezielle Augenblicke. Auch die Bahn hält sich an das von der Werbung gepredigte Versprechen und verpasst den Reisenden Momente der Atemnot, dies nicht, weil die Landschaft als überwältigende Kraft über sie her fällt und ihnen schier den Atem nimmt, sondern ganz einfach, weil die gesunde Bergluft in den panoramisierten Wagen ausgeht und Luft zum Atmen Mangelware wird. Gegen einen Aufpreis gibt es im Zug frische Luft aus der Dose. Doch kein Bahnbeamter kommt, um das Angebot bekannt zu machen und einzukassieren.
Abhilfe kündet sich an, dringliche Nothilfe in der bedrückenden Situation. Nicht in Form eines Rettungshubschraubers, der kühlendes Wasser über den Zug giesst, sondern als Bahnhof, der den unteren Abschluss der Bergstrecke bildet. Endlich kann Isidor wieder Hoffnung schöpfen. Erleichterung kommt auch bei den Personen auf, die neben ihm und ihm gegenüber auf wenig Platz sitzen, eingequetscht zwischen Hitzeschüben fremder Becken und Schultern. Die Schmalspurbahn bietet in der Breite wenig Raum. Die Leute schauen hoffnungsvoll von oben hinab auf die Erlösung verheissende Häuseransammlung, voll Vertrauen wie ein Kind, das auf seine Modelleisenbahn blickt, mit der es so schnell wie möglich spielen will, nachdem das Geschenkpapier von der Schachtel weggerissen ist und die ersten Schienen ineinander gesteckt sind.
Der Zug fährt in Lauterbrunnen ein, der in der Talsohle gelegenen Endstation. Dort werden alle Passagiere geheissen auszusteigen. Beamte weisen das Hinaustreten auf das Perron. Das verheisst frische Luft. Rettung aus der Atemnot ist in Sicht.
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Hochofenhitze empfängt die aussteigenden Passagiere.
Lauterbrunnen verfügt über zwei ineinander verschachtelte Sackbahnhöfe, die gemeinsamem einen Umsteigebahnhof bilden. Dies hat einerseits damit zu tun, dass die Spurweite der Bahnen wechselt, die Bergbahn schmaler als die Talbahn gespurt ist. Die Talbahn benötigt zudem nur an wenigen Stellen Zahnräder, um die Höhenunterschiede des Trassees zu bewältigen.
Der Umsteigebahnhof bildet ein zierliches Miteinander aus wenigen Häusern und einigen Schuppen. Die Anlage liegt in einer der engste Stellen im Tal. Die Sohle der Bergflanke befindet sich nahe dem Fluss Lütschinen. Der Bahnhof: zwei, drei Perrons – je nach Zählweise – und einige Abstellgeleise. Das alles auf engem Raum. Die Übersicht über als Areal ist gewährleistet.
Der zahnradgesicherte Zug, der mit Hunderten von Passagieren von Wengen herab gekommen ist, entlässt die Leute auf das Perron. Unter ihnen Isidor.
Die Lütschinen, obwohl Gletscherwasser führend, bringt dem Tal an dieser Stelle keine Kühlung. Hochofenhitze empfängt die aussteigenden Passagiere. Isidor blickt sich um, machts nirgends einen feuerspeienden Drachen oder die Schlote einer unterirdischen, von Zwergen betriebenen Stahlesse aus.
Isidor nimmt die Hitze zur Kenntnis und blickt als Erstes zur Informationstafel, die, zur Weiterfahrt, den Zug nach Interlaken, einem Ort zwischen zwei Seen, dem Thunersee und dem Brienzersee, einem weiteren Umsteigebahnhof, ankündigt. Doch auf dem bezeichneten Geleise steht kein Zug. Isidor sagt sich: Da wird noch einer kommen.
Auf dem Perron stehen viele Dutzend Leute, die sich, wegen der Herunterfahrt von der Kleinen Scheidegg, in arge Atem-Not gebracht und von Schweissausbrücken gequält, die Stirn wischen mit den Stoff, der ihnen in die Hände kommt, und die Ärmel ausschütteln, welche von Schweiss kleben, um Kühlung in die Kleider zu bringen. Auch Isidor empfindet es als äusserst unangenehm, wie ihm nach der Fahrt im vollklimatisierten Wagen die Schweiss getränkten Kleider am Körper haften, über den Schultern hängen und Oberarme und Schenkel einengen.
Der Tag ist warm. Der späte Nachmittag auch. In Lauterbrunnen gewährt das Wetter keine Kühlung. Das Schwitzen geht nach der Fahrt herunter vom Berg auf dem Perron erst recht weiter. Viele glauben zudem an eine Halluzination, bewirkt durch den Hitzestau im eigenen Kopf, wie sie, aus den Lautsprechern im Bahnhof verkündet, hören: „Gleis zwei: Der Regionalzug nach Zweilütschinen-Interlaken Ost. Abfahrt 16 Uhr 33. Plattform two: Regionaltrain to Zweilütschinen-Interlaken Ost. Departure: 16:33.“
Einige Beamte der zuständigen Bergbahngesellschaft eilen auf dem Perron hin und her. Auch sie rätseln darüber, wo der Zug steht, der sich laut der Laufsprecher am Bahnsteig befindet, um die Leute aufzunehmen. Dies schliesst Isidor aus der Antwort, welche er von einem Uniformierten erhält. Isidor hatte seine Frage an ein Set herumstehender Bahnhofangestellter gerichtet.
Lautsprecher haben keine Augen, moniert eine Frau, die sich neben Isidor aufgestellt hat und ebenfalls auf den Zug wartet. Die Bergbahnvertreter werden von neugierigen Passagieren weiter bedrängt und danach gefragt, was es mit dem Zug auf sich habe, der gemäss der Lautsprecherdurchsage am Perron stehe. Die Situation wirkt irreal.
Die paar Bahnangestellten, weiblichen und männlichen Geschlechts, erweisen sich als völlig überfordert. Was die Eisenbahngesellschaft über die Lautsprecher verkündet hat, ist selbst ihren eigenen Beschäftigten, welche unterbeschäftigt wirken, weil der beschäftigungsgebende Zug nicht auf dem Geleise steht, eine Knacknuss, die sie nicht aufschlüsseln können. Der Zug, der auf dem Geleise steht, ist nicht vorhanden. Stirnrunzeln allüberall. Hibiskus, denkt Isidor nur. Er habe vermutlich zu viel von dem berauschenden Getränk, das er zudem in zu starker Dosierung anfertigte, aus der Thermosflasche getrunken, frotzelt Isidor über sich. Das nächste Mal wird er für einen Trip in die Berge weniger von dem Gesöff mitnehmen, das in ihm allem Anschein nach Wallungen hervor gerufen hat. Jetzt ist ihm heiss. Er hätte gern etwas getrunken. Auch etwas Heisses. Der Früchtetee ist aber längst alle. Nun könnte er ihn brauchen.
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Einsehbar ist auch, dass die Durchsage bezüglich des fehlenden Zuges nicht in allen Sprachen getätigt werden kann.
Die wartenden Touristen aus aller Herren Länder, die eine hohen Preis für die Bergfahrt zur Kleinen Scheidegg und noch weiter hinauf gezahlt haben und auch für die Rückbeförderung ins Tal, übersehen diskret die Nichtanwesenheit des Zuges und gehen davon aus, dass rechtzeitig auf die Abfahrt des Zugs ein solcher eintreffen werde und zwar rechtzeitig, so dass genug Zeit bleibt, um in diesen zu steigen und das Gepäck in die dafür vorgesehenen Abteile ordnungsmässig zu verstauen. Isidors Nachbarin führt nur einen kleinen Koffer mit. Isidor seinen Wanderrucksack.
Die auf den Zug wartenden Passagiere aus vielen fremden Ländern gehen davon aus, dass sie die Bräuche und die Sprache nicht verstehen, welche in diesem engen Tal gepflegt werden. Sie vertreten aus Unwissenheit, entgegen der Einstellung jener Passagiere, welche diese Strecke in die Berge bereits mehrmals gefahren sind, die Auffassung, dass es mit rechten Dingen zugeht, wenn der Zug entgegen der Durchsage nicht auf dem Perron steht. Als Fremde darf man sich nicht an den Gepflogenheiten des Gastlandes stören, auch wenn man für den Service zahlt. Der stolze Preis, der für die Fahrt zu begleichen ist, wird ein Obulus an die Landschaft sein, welche die Bergler nicht geschaffen haben.
Einsehbar ist auch, dass die Durchsage bezüglich des fehlenden Zuges nicht in allen Sprachen getätigt werden kann, welche die wartenden Passagiere reden. In allen Sprachen wenden sich diese hingegen an die wenigen Beamtinnen und Beamten, die auf dem Perron anzutreffen sind und aufgrund ihres Kleides als Angestellte der Bahngesellschaft ausgemacht werden können, und halten ihnen ihre Smartphones mit dem offenen Fahrplan unter die Nase. Informationen gibt es jedoch keine. Niemand weiss, was zu sagen. Achselzucken ist die hauptsächliche Kommunikationsform.
Die Bahnmitarbeiter sind hingegen nicht nur wegen der ausstehenden Zugskomposition herausgefordert, welche die wartenden Passagiere aufnehmen soll. Geradezu überfordert erweisen sich die uniformierten Leute wegen der herrschenden Sprachenvielfalt. Zudem wächst der Menschenansturm auf dem Warteperron mit jeder Wartesekunde weiter an, welche die Uhr näher an die Abfahrtszeit heran rückt. Die Felsen spucken weitere Leute aus. Sie kommen von allen Seiten.
Menschengruppen beginnen sich aus dem Massenansturm heraus zu kristallisieren. Isidor muss etwas zur Seite treten, um Raum für eine Schar aus Hinduistan zu lassen, welche sich unsicheren Schrittes irgendwohin auf dem Perron zu bewegt. Weitere Asiaten drängen nach, die mit schnellem Fingertippen auf ihren Handys heraus zu finden suchen, was es mit dem Zug auf sich hat, der zwar im Fahrplan steht, aber nicht auf dem Perron.
Wartende blockieren den Weg einer Familie, die mit einem schreienden Kind einen freien Platz sucht, wo die drei Personen, gemeinsam stehend, auf den ausbleibenden Zug warten können.
Leute aus Arabien. Die Männer schauen sich an. Die Frauen tuscheln miteinander. Die Kinder kümmert der ganze Betrieb oder vielmehr Stillstand nicht, ausser einem, das müde an der Mutter hängt. Niemand versteht etwas von dem, was diese Leute untereinander reden. Die Harrenden schauen nach der Anzeigetafel, nach der Uhr auf dem Perron. Die Tafel zeigt unbeirrt die Abfahrtszeit. Der Zug soll in einer knappen Minute losfahren. Niemand steigt ein. Ein Gespenst hat keinen Boden, der trägt. Auf den Isidor seinen Fuss setzen kann. Auch in den Alpen nicht.
Unter den sich Geduldenden befinden sich einige Einheimische. Sie tragen feste Bergkleider. In den Bergen stehen sie sicher auf ihren Füssen. Auch sie schauen sich ratsuchend an. Die ihnen vertraute Welt kommt ihnen etwas kurios vor. Fremdes muss sich in ihrem Umfeld eingeschlichen haben. Sie tun ihre Unmut murmelnd untereinander kund.
Eine grössere Gruppe von Juden, aufgrund ihrer schwarzen Anzüge, Hüte und Frisuren unschwer als solche auszumachen, schwatzt. Einige von ihnen sind offenbar des Deutschen mächtig. Sie starren hinauf zur Anzeige und dann wieder zum Geleise und schütteln die Köpfe. Isidor bekommt einige Worte ihres Gesprächs mit.
Die Anzeigetafel über dem Perron hält nicht, was sie verspricht. „Gleis zwei: Der Regionalzug nach Zweilütschinen-Interlaken Ost. Abfahrt 16 Uhr 33. Plattform two: Regionaltrain to Zweilütschinen-Interlaken Ost. Departure: 16:33“, verkündet nun der Lautsprecher erneut. Jene, welche die Ansage verstehen, blicken sich verdutzt an und gucken auf das leere Geleise: Keine Spur von einem Zug. Jene, welche des Deutschen unkundig sind, gehen davon aus, dass soeben die Ankunft des Zuges verkündet wurde.
Der Ruf des Lautsprecher entspricht jenem eines Vogels hoch oben vor den Mauern des Gebirges. An diesem prallt der Schrei ab, weit hin gehört als Echo, das vom undurchdringlichen Berg zurück gewiesen wird und auf sich selber zurück geworfen, sehr schnell geschwächt, ohne Erfüllung verhallt als Schrei des Einsamen, der in der unwirtlichen Wildnis allein gelassen ist. So ungefähr kommt sich Isidor in der Menschenmasse vor, die auf dem harten Boden des Perrons, der starren Wirklichkeit, verharrt und sich dort – noch nicht – den Kopf anschlägt.
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Vom befreienden Gefühl hoch oben auf dem Wanderweg ist auf dem Perron nichts mehr zu spüren.
Erhitzt haben die Passagiere den schlecht klimatisierten Wagen verlassen, der sie vom Berg herab geführt hat. Das Perron bietet keine Kühlung. Brunnen befinden sich weit und breit keine, die erfrischendes Bergwasser bieten würden. Solche stehen vielleicht im Dorf. Doch: Wer verlässt schon den Bahnhof, wenn jederzeit der vorgesehene Zug eintreffen kann!
Der Bahnhof liegt in der Talsohle des Lauterbrunnentals. Die Hitze des Tages hat sich am Boden gesammelt und steigt in die Körper der wartenden Leute. Einige Gesichter wirken glühend heiss. Die Frage bleibt offen, ob die Röte auf Wangen und Augenlidern als warnendes Anzeichen eines anstehenden Hitzschlages zu interpretieren ist oder als Ausdruck des Ärgers darüber, was die Informationsabteilung der Bahngesellschaft sich an Freiheiten heraus nimmt, indem sie die Passagiere eines ganzen Zugs ihrem Schicksal überlässt und darüber hinaus falsch informiert. Vermutlich genehmigt sich die diensthabende Belegschaft in der computergesteuerten Leitstelle nach getaner Arbeit verdientermassen einen kühlen Drink. Auch wenn noch nicht alle Leute vom Berg herunter geholt worden sind.
Vom befreienden Gefühl hoch oben auf dem Wanderweg ist auf dem Perron nichts mehr zu spüren. Die Erinnerungen an Bergluft, weiten Weiden und fernen Firnen sind weggespült durch die Wasser der Lütschinen, welche am Dorf vorbei fliesst und die Hitze in den Wartezonen des Bahnhofs nicht mit sich reisst, sondern in der Talsohle stehen lässt.
Neben Isidor warten viele sitzengelassene Passagiere stehend auf die Amtsperson, die auftritt und sagt, was Sache ist und wie es weiter geht mit dem Zug, der nicht auf dem Geleise steht. Ersatzbus, Getränkegutschein, Gratiswasser, um die Geister und Körper zu kühlen. Irgendein gutes Wort. Nichts von alledem. Auf dem Bahnhof herrscht Verständnislosigkeit und Desaster, das nichts bewegt und sich nicht bewegt.
Verschiedene Amtspersonen, die an ihrer Uniform unschwer als solche auszumachen sind, befinden sich auf dem Perron und formen gemeinsam mit den Passagieren eine Einheit des Frusts. Drüben beim Bahnhofshaus befindet sich ebenfalls eine Amtsperson. All die Beamten bilden jedoch einen geschlossenen Block, in welchen weder eine Information hinein, noch eine solche heraus dringt. All die Soldbezieher der Bahn können nicht erklären, was vor sich geht. In einer gewissen Verzweiflung blicken sie nicht hinauf zu den Bergen, wie wenn sie von dort Hilfe anfordern könnten, sondern auf die Anzeigetafel über dem leeren Geleise, welche im Verbund mit dem Sekundenzeiger auf der Bahnhofuhr die bald bevorstehende Abfahrt des Zuges signalisiert.
Der Bahnhofsvorstand – an diesem pittoresken Ort, Tourismus oblige, wirkt noch ein solcher; der Mann mit der schmucken Mütze gibt ein schönes Erinnerungsfoto ab – tritt aus der Tür seines Schalterraums, blickt um sich und zieht sich dann schnell wie ein scheu wirkender Waldmensch wieder in sein Kabäuschen zurück, bevor auch nur eine Person mit der Frage, die allen Wartenden auf der Zunge brennt, an ihn gelangen kann.
Das Peron füllt sich weiter auf. Noch immer stossen Leute zur wartenden Menge. Noch immer zeigt sich kein Zug auf dem Geleise, der beim zunehmenden Gedränge Abhilfe leisten kann, indem er wenigstens einen der Teil der Passagiere aufnimmt. Die Abfahrtszeit naht akut, ist imminent.
Niemand steigt in einen imaginären Zug. Der Leute warten zu. Niemand drängt auf die Tür eines Zugs, wo kein Zug steht.
„Gleis zwei: Der Regionalzug nach Zweilütschinen-Interlaken Ost. Abfahrt 16 Uhr 33. Plattform two: Regionaltrain to Zweilütschinen-Interlaken Ost. Departure: 16:33. Bitte einsteigen“
Kein Zug. Keine Tür, die geöffnet ist und Einlass gewährt. Doch ein Zug! Drüben auf dem Geleise drei befindet sich ein solcher. Er bringt jedoch keine Erleichterung. Der Zug, den man, von der Kleinen Scheidegg kommend, eben verlassen hat, wird doch nicht nach Interlaken zurück fahren, wohin man will und das in der entgegengesetzten Richtung liegt, aus der man soeben gekommen ist. Man will doch nicht wieder hinauf. Man will hinab zur Stadt zwischen den beiden Seen – Inter Laken. Isidor setzt das begonnene Gedankenspiel aus und konzentriert sich auf das Geschehen im Bahnhof
Die Verwirrung ist gross. Der kleine Bahnhof übersichtlich. Es stehen in ihm keine weiteren Züge bereit, die zu erwähnen gewesen wären, weil sie zum genannten Ziel hätten fahren können. Die Abfahrt des Zuges ist unmittelbar bevorstehend. Der Zeiger der Bahnhofsuhr springt sekundenpräzise auf den Zeitpunkt der Abfahrt. Es ist Abfahrtszeit. Doch nichts geschieht. Zur Zeit fährt an diesem Peron kein Zug. Nur der Zug, der keiner ist, fährt, weil ihn der Fahrplan zu fahren heisst. Einen Gedanken lang sehen die Leute einen wirklich davonfahrenden Zug. Die Fata Morgana hält nur einen Moment. Die Hitze bedingte Luftspiegelung dauert so lange, wie der Zeiger braucht, um über die Abfahrtszeit hinaus zu rücken. Danach verpufft die Erscheinung, wie sie aufgekommen ist. Und der Gedankenzug ist wieder weg.
Der imaginäre Zug rollt davon, ohne dass er auch nur einen einzigen Passagier mitnimmt. Die Leute stehen auf dem Peron, als ob bei der Abfahrt nichts geschehen wäre. Die Leute schauen sich an. Die Worte gehen ihnen aus. Der Zug ist gefahren. Von der Tafel über dem Perron verschwindet die Anzeige zum eben abgefahrenen Zug, der nie angekommen ist. Die Lautsprecher schweigen und zeigen damit an, dass der Zug sich wirklich entfernt hat. Alles hat sein Ordnung. Alles hat sich an dem Ort gegen die Passagiere verschworen, die nach wie vor auf dem Perron verharren und nicht wissen, warum sie immer noch, wie vor die Säue geworfen, an dem Ort weilen. Die Antwort lautete ganz einfach: Es ist kein Zug gekommen. Die Perlen rollen davon.
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Der Beamte vertraut den Computern.
Die wartenden Bahnangestellten sprechen miteinander und können dennoch keine Auskunft geben. Sie wissen nicht, was mit dem Zug ist, der nicht angekommen ist, und sehen ein, dass kein Zug abgefahren ist. Die Leute warten, stehen sich auf die Füsse und entschuldigen sich. Wiederholen, was sie sich schon mehrmals gesagt haben. Kein Zug fährt aus noch ein, kein Zug wartet, keiner hat sich entfernt. Die Leute zeigen sich ratlos. Sie wirken wie festgenagelt und wissen mit dem Gepäck, das sie zum Teil mitführen, nicht weiter.
Denken: Wär ich doch im Hotel geblieben, müsste ich nicht in einer Sache mit ungewissem Ausgang in dieser Bruthitze verbraten; wird dort, wo kein Zug abgefahren ist, überhaupt noch ein Zug kommen? Isidors Gedanken gehen leicht durcheinander. Er schaut die Leute an. In der Talsohle sammelt sich weiter Hitze an. Die Wärme verdichtet sich, als ob sich das Perron in einem geschlossenen Eisenbahnwagen befände. Steigt wie gestautes Wasser. Die Leute verspüren zunehmend Durst. Sie wagen nicht, das Perron zu verlassen, um drüben, auf der anderen Strassenseite, dort in jenem fernen Spezereiengeschäft etwas einzukaufen. Zwischenzeitlich könnte der Zug eintreffen und wieder abfahren, bevor ich zurück bin, denkt Isidor; ist, sofern noch nicht los gefahren, bereits mit eingestiegenen Passagieren verstopft, bis ich zurück bin.
Niemand weiss, wie in einem Flüchtlingslager, etwas, wo Menschen gestrandet sind und nicht mehr weiter kommen; Informationssperren und weitere Blockaden das Weiterkommen verhindern. Hoffnungen zerstört werden. Der Mensch mit den Füssen getreten wird. Dieses Gefühl steigt in Isidor auf.
Um das Perron ist ein Maschendraht des Schweigens gezogen. Niemand gibt Auskunft. Niemand entflieht. Nur kommen, wie bei einer Reuse, die Zutritt gewährt und anschliessend niemanden mehr rauslässt, weitere Leute herein. Der Leute werden auf dem Platz langsam zum Ersticken viele. Das bewegt die Lautsprecher weiter nicht. Sie schweigen. Mut macht den Wartenden die Bahngesellschaft nicht. Die Zeiger der Uhr rücken vor. Neuankömmlinge staunen ob der Anzahl Personen, die, wo doch gerade ein Zug abgefahren ist, im Bahnhof warten, und man eben jenen abgefahrenen Zug nicht nehmen wollte, weil er möglicherweise schon vollgestopft war und man, als jemand, der kurz vor Abfahrt des Zugs auf dem Bahnhof eintrifft, eh keinen Platz im gefahrenen Zug gefunden hätte, wie ein Neuzugestossener Isidor erklärt. So viele Leute, dass es ganz danach aussieht, als sei schon lange kein Zug mehr gefahren, ergänzt der Sprechfreudige; als würde sogleich einer kommen und die Leute könnten einsteigen und auf dem Perron würde endlich Raum geschafft. Als würde im nächsten Augenblick ein Zug einfahren.
Isidor hört hin, gibt keine Antwort, keine Erklärung, kratzt sich am Kopf ob der Wirklichkeit, in welche er geraten ist. Und er findet nicht heraus, wie er seines Schweisses Herr wird. Die Hüfte schmerzt. Er möchte sich setzen, auf den Boden. Doch da ist zu wenig Platz. Zudem steigen überall um ihn herum Berghänge auf, die verhindern, dass die vielen Menschen auf freie Plätze rund um den Ort des Geschehens ausweichen können. Das Gefühl der Platznot erfasst ihn. Er fasst sich kurz an die Gurgel. Er darf nicht umfallen, nicht von den Menschen zertrampelt werden, falls sich die Menge in Bewegung setzt, weil der Zug eintrifft, und diese auf die geöffneten Türen zu drängt.
Kein Mann, keine Frau hilft Isidor. Er hilft niemandem, steht auf sich selbst gestellt in der Masse. Achtet darauf, dass er nicht übervorteilt wird. Er sieht, dass es den Anderen auf der Rampe am Bahngeleise nicht besser ergeht und alle die Bahngesellschaft, die Tourismusgesellschaft, alle, die sie in diesem Hinterland alleine lassen, verwünschen. Niemand wird informiert. Der Bahnhofvorstand, der sich kurz gezeigt hat, wird sich in seiner Kabine verbarrikadiert haben, um so schnöde und feige dem aufsteigenden Zorn zu entgehen, der gerechtfertigt ist, weil es der Gesellschaft, die den Stau auf dem Perron zu verantworten hat, nicht gelingt, diesen abzubauen oder Linderung zu verschaffen.
Der Bahnhofsvorstand ist anscheinend nicht Manns genug, um sich der Leute, die im Grunde nur wenige Fragen haben, zu stellen. Er erweist sich offenbar zu sehr als Beamte, der die Verantwortung, die ihm aufgetragen ist, nicht bis in ihre letzte Konsequenz wahrzunimmt, das heisst, in einer Notsituation unter die Leute geht und ihnen beisteht. Der Sold stimmt, die Kabause hält die Leute fern und das Sandwich frisch. Der Beamte vertraut den Computern. Die werden ihre Sache schon recht machen.
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In gewissen absurden Situationen werden Worte überflüssig.
Die Bahnangestellten, die, vermutlich zufälligerweise, unter die wartenden Passagiere gemischt sind, können nach wie vor keine Auskunft geben. Das Tal entwickelt sich zur Mühsal. Einige Angestellte entfernen sich, drängen durch die Leute, verlassen den Bahnhof und begeben sich hinüber auf die Landstrasse. Dort werden sie womöglich von jemandem erwartet. Sie geniessen den Einheimischenvorteil, können gegebenenfalls über das Smartphone Hilfe anfordern. Verwandte, Bekannt helfen ihnen, vom Bahnhof wegzukommen. Die Bahnangestellten kassieren den Vorteil der Vorortbevölkerung ein. Das Nachsehen haben die Gäste.
Wenn man nichts weiss, dann braucht man auch nicht zu bleiben, sagt sich Isidor und schaut den Angestellten nach, die sich entfernen. Diese haben Feierabend und wollen gehen. Wollen ihre Ruhe. Der Rucksack mit dem Tagesbrot und dem Wetterschutz ist geschultert. Die Pflichtarbeitszeit geleistet. Der Dienstschluss verpflichtend.
Nicht so die wartenden Passagiere. Sie haben noch einen weiten Heimweg vor sich. Auch Isidor. In Interlaken muss er einen Anschlusszug nehmen. Auch viele andere, die auf den ausstehenden Zug warten. Auf dem Perron stauen sich weiterhin Rucksäcke, Koffer und Taschen von stecken gebliebenen Leuten, die nicht weg können. Einige jüngere Pärchen sitzen auf dem Boden, lehnen sich an ihr Gepäck. Haben dafür gesorgt, dass sie auch die Beine ausstrecken können.
Wer nicht mehr die Behändigkeit der Jugend besitzt, steht sich die Beine in den Leib. Das tut weh. Besonders, wenn die Schenkel, Waden und das Schienbein nach der langen Wanderung und vielen Meilen Schreitens ermüdet sind und der Entspannung bedurft hätten. Solches kommt wegen der angespannten Lage vor Ort nicht zum Zug.
Das Gedränge auf dem Perron überbietet die Schmerzgrenze dessen, was Passagieren zugemutet werden darf. Kein Zug fährt vor, dessen Sitze und auch die Lüftung Linderung verschafft hätten.
Von den Stirnen rinnt Schweiss. Bei einigen Leuten geht der Atem schwer. Leute wischen sich über das Gesicht, mit dem Handrücken, mit einem Taschentuch, mit einem Stück Papier, das sie in einer Tasche gefunden haben. Die Papierfasern werden gehörig nass. Reissen und kleben an den Nasenflügeln fest. Niemand verlässt den Platz, seinen Platz. Ein Zug könnte einfahren. Den will man nicht verpassen. Das Gedränge wird grösser, die Menschenansammlung dichter. Das Leiden schreibt sich in der Mehrzahl. Die Enge auf dem Perron nimmt stetig zu. Von irgendwo her stösst eine neue Touristengruppe in das Gewühl der Wartenden hinein. Die Neuen gliedern sich ein. Verzahnen sich mit Fremden. So gut es geht. Soweit das Gepäck es zulässt, Raum lässt. Irgendjemand stolpert über eine Tasche, rappelt sich auf. Fremde Hände haben ihn aufgefangen. Die Besitzer schieben die Tasche an ihren Platz zurück.
Von Seiten der Beamtenschaft kommen keine Neuigkeiten. Sie ist auf sich selbst gestellt, von der Befehlszentrale abgekoppelt und darum ohne Worte. Ein Beamte weiss genau so viel und wenig wie die stehende und ausharrende Gästeschar. Keiner gibt Auskunft. Der fehlende Zug gibt die Auskunft. Niemand weiss, was zu fragen. In gewissen absurden Situationen werden Worte überflüssig. Da versagt selbst der Galgenhumor. Die Leute verharren ratlos. Die Auskunft schweigt, die Lautsprecher schweigen.
Werden trotzdem Fragen gestellt, versuchen die befragten Beamten zu lächeln und antworten irgendetwas, das nicht im Zusammenhang steht mit dem Zug, der gefahren ist oder kommen soll. Geben sich Mühe, die Leute zu beruhigen, mit einigen Worten die aufsteigende Nervosität einzudämmen: Für das Flugzeug in Genf werde es sicher reichen. Gleich werde ein Zug einfahren. Ironie des Geschehens. Niemand glaubt es.
Und doch ist die Ankündigung nicht falsch. Der Segen kommt nicht von unten, vom Tal, wo das ersehnte Ziel liegt und die Anschlusszüge warten, sondern von oben. Von der Kleinen Scheidegg her naht ein weiterer Zug. Bringt mehr Leute noch auf das Perron. Die Wagen halten. Die Türen öffnen sich. Die Mechanik der Fahrzeuge arbeitet einwandfrei. Die aussteigenden Passagiere stossen zu jenen vor, die warten, und mischen sich, so gut es geht, unter diese. Die Erlösung erweist sich als das Gegenteil von dem, was ihr eigentliches Ziel ist. In Isidor kommt überhaupt nicht das Gefühl auf, dass der Zug Befreiung gebracht habe.
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Die Leute atmen auf. Andere durch. Kräftig.
Das Perron fasst viel Volk, erstaunlich viel, ohne dass von diesem etwas aufs Geleise fällt. Die Leute stehen bis satt an den Gehsteigrand. Trotzdem stolpert niemand auf den Geleiseschotter. Die Menge hält dicht zusammen. Wäre jemand wegen des Drucks, der vom Perroninneren nach Aussen will, auf das Geleise gestürzt, ihm wäre wieder auf die Füsse und zurück in die Masse geholfen worden, sofern nicht eben in dem Augenblick der ausstehende Zug in den Bahnhof eingefahren wäre und das Geleise für jede Rettungsaktion blockiert hätte. Niemand will schliesslich auch im Gedränge sein Leben riskieren.
Der von oben herab gekommene Zug hat sich geleert und wird weg gestellt. Die zuständigen Bahnangestellten veranstalten ein Kommen und Gehen. Die Entfernung des Zuges muss ordnungsgemäss über die Geleise gehen.
Es wird ein Zug kommen. Das gewiss. Die Abfahrtstafel ist mit einer neuen Ankündigung aufgefahren und zeigt bereits den nächsten Regionalzug nach Interlaken Ost an. Von diesem ist indes nichts zu sehen. Über die Lautsprecher folgt die nächste Durchsage. Deutlich und klar. Sie meldet die bevorstehende Ankunft des Konvois.
„Nächste Zugseinfahrt Gleis zwei: Der Regionalzug nach Zweilütschinen-Interlaken Ost. Abfahrt 17 Uhr drei. Next arrival plattform two: Regionaltrain to Zweilütschinen-Interlaken Ost. Departure: 17:03.“
Die Leute atmen auf. Andere durch. Kräftig. Einige nicht zu fest, obwohl die Bergluft gut tut und von den Düften ablenkt, die über dem Perron zwischen den Leuten hindurch schweben.
Auf dem Perron haben die Personen den Geruch der Nachbarn in der Nase. Schweiss liegt in der Luft. Zudem kann Isidor die Brust nicht sehr aufblähen. Ein zu starkes Weiten des Brustkorbs hätte mit Bestimmtheit die Person vor ihm vom Perron auf das Geleise gedrückt. Die Leute verharren im Warteareal des Bahnhofs eingepfercht wie Vieh im eingezäunten Schauraum eines freien Auslaufs. Die Frischluftzuführung scheint fast ganz eingestellt. Kein auch so kleiner Windhauch rührt die gestandene Luft auf.
Den Leuten steht der Sinn nicht nach guter Aussicht, Gletschern, Felsengebilden, Kühen und Weiden. Die sollen im Hintergrund bleiben, dort, wo niemand sich hindreht. Die Augen dienen im Augenblick dazu, auf dem Perron seinen Platz sicher zu wahren, um so, von den Umstehenden von allen Seiten bedrängt, nicht in eine gefahrvolle Position gedrängt zu werden.
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Isidor fragt sich, wo die Beamten, welche die Masse Mensch abfertigen sollen, stecken.
Derart abartig hat sich Isidor seinen Rückzug aus den Bergen nicht vorgestellt. Erholung versprechen die Tourismusbroschüren. Das Perron dagegen bietet das untrügliche Bild einer bissigen Karikatur der propagierten freien Landschaft.
Ein sauberer Gedankenfluss ist an diesem Ort und in dieser bedrängenden Situation nicht möglich. Von der durch die Werbung angepriesenen Bilderbuchlandschaft, welche das Gemüt vorteilhaft anspricht und stärkt, fehlt jede Spur, wie auch vom Zug, der gemäss Anzeigetafel in zehn Minuten den Bahnhof verlassen wird. Dann wird sich Isidor auf seinem sicheren Sitzplatz befinden, sofern er sich unter den ersten Personen befindet, die in den Zug gelangen. Die Minuten bis dahin müssen ausgestanden werden.
Bis dann gilt es die Pille zu schlucken, die das hiesige Bergvolk, das seinen Reichtum von den Bergen schröpft und daran nicht gesund wird, den Gästen verspasst; die Touristen wie eine Herde Kühe ohne Weideland sich selber überlässt. Dann, wenn es sicher sein wird, dass er in den Zug steigen kann, wird Isidor die Pille ausspucken und wie einen Abschiedsgruss als Scheisserchen auf dem Perron zurück lassen. Das nimmt er sich vor.
Isidors Blick geht nach rechts, nach links . Ob sich da jemand vordrängen wird, um für sich einen Vorsprung zu sichern, indem er andern den Weg schneidet? Wer wird die Ellenbogen einsetzen oder seinen Fuss vor einen fremden Koffer setzen, so dass dieser nicht in Richtung Zug geschoben werden kann? Auf dem Bahnhof klingt die Ferienzeit aus. Auf dem Boden stehen zahlreiche Koffer und Rucksäcke. Die Leute wollen nach Hause. Die Leute wollen weg. Doch wie, wenn kein Zug sie fahren will?
Nur nicht über eines dieser Gepäckstücke stolpern. Man hätte sich wehtun können. Den Dingern ausweichen, so gut es geht, sobald man auf die Wagentüren zu drängt.
Wie gehabt es sich mit jenen, die aus dem ankommenden Zug heraus drängen werden? Nur nicht daran denken, wie sie in die aufgestaute Massen stossen. Mit Ellenbogen und weiteren Reisetaschen. Der Zug lässt auf sich warten. Der Moment steht noch bevor. Dann, wenn es so weit sein wird, wird der Augenblick das Handeln diktieren. Dann wird es an der Zeit sein, sich mit derartigen Fragen zu beschäftigen. Sich nur nicht abdrängen lassen. Das steht bereits fest. Der Zug hat eine begrenzte Anzahl Plätze.
Die Bahngesellschaft wird schon wissen, wie sie die aus Interlaken eintreffenden Passagiere gefahrlos aus dem Zug und sicher vom Perron weg bringen wird. Sie weiss, wie sie dem Aus- und nachfolgenden Einsteigen Meisterin wird. Die Bahnleute sind geschult, um mit solchen Situation fertig zu werden, und verfügen, gewiss, über Erfahrung, wenn es darum geht, einen Zug zu leeren, um ihn danach wieder mit Leuten zu füllen, auch wenn dies bei einen riesengrossen Gedränge vor sich gehen wird und sich das Ganze ohne Aufregung und Unfall abspielen muss. In sechs Minuten würde der Zug abgefahren sein.
Isidor fragt sich, wo die Beamten, welche die Masse Mensch abfertigen sollen, stecken. Er macht sehr wenige Uniformen aus, äusserst wenige. Viele Bahnangestellte sind von ihren Leuten abgeholt und weggefahren worden. Die Mannschaft verlässt das Schiff. Das Wort „sinkende“ klingt nur im Hinterkopf mit, denkt Isidor.
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Niemand vermag dem Lautsprecher Einhalt zu gebieten, der die Wartenden mit Hohn und Spott übergiesst.
Er blickt auf die wartenden Passagiere. Deren Augen schauen wie bei einer gut abgerichteten Kompanie von Soldaten, die paradiert, in die gleiche Richtung: In jene, hin zur Stelle, wo der Zug in den Bahnhof einfahren soll. Da tut sich jedoch nichts.
Die Bahngesellschaft hängt ihre Gäste wie Wäsche an einer Leine auf und lässt sie im Leeren baumeln. Wie Federvieh, dem man alles Geld aus dem Leib gezogen hat. Bei dem nichts mehr zu holen ist. Die Entsorgung ins Schlachthaus der Grossstädte, die neues Touristenmaterial liefern werden, muss noch sichergestellt werden. Doch das kann warten. Wichtigeres, von dem niemand von den Wartenden auch nur eine Ahnung hat, muss zuvor geleistet werden. Der Zug bleibt aus.
Die Anzeigetafel schreibt nichts von einer Verspätung, kündigt unverblümt die Abfahrt des nächsten Zuges an. Dieser muss kommen. Rechtzeitig. Auch wenn ihm nur noch wenige Minuten bleiben. Er müsste längst am Perron stehen, damit der Passagierauswechsel in einem geordneten Rahmen stattfinden kann. Doch hier wird offenbar im Sekundentakt umgestiegen.
Niemand schaut danach aus, ob weitere Leute auf das Perron drängen, ob ein weiterer Zug den Berg hinab kommt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den nicht vorhandenen Zug. Die Blicke stossen ins Leere. Verspätungen und Zugsausfälle können vorkommen. Deutlich über vierzig gestandene Minuten warten viele Leute bereits, dass die Bahngesellschaft ihnen endlich Informationen liefert, die Hand und Fuss haben. Nichts von alledem. Der Lautsprecher meldet wie eine Technik, die Amok läuft:
„Gleis zwei: Der Regionalzug nach Zweilütschinen-Interlaken Ost. Abfahrt 17 Uhr drei. Plattform two: Regionaltrain to Zweilütschinen-Interlaken Ost. Departure: 17:03.“
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Die Technik gerät zum Selbstläufer, dem der Mensch nicht Einhalt gebieten kann.
Niemand vermag dem Lautsprecher Einhalt zu gebieten, der die Wartenden mit Hohn und Spott übergiesst. Er spricht allen Ernstes von Einsteigen, als ob ein Zug auf dem Gelände stände. Die Posse der Fehldurchsage wiederholt sich, als ob sie ein Spiel wäre, und die Passagiere Zinnfiguren, die nach Belieben bewegt werden. Nicht aber auf dem Perron. Dort herrscht Bewegungsverbot. Zu nahe befinden sich die Menschen am Geleise. Eine Bewegung zu viel hätte sie vor den einfahrenden Zug befördern können und somit in den sicheren Tod. Zerquetscht vom Kuhfänger.
Mit der Technik will irgendetwas nicht richtig stimmen. Sie treibt ihr Spiel weiter. Die Leute schauen sich an, zum Teil mit einem nun etwas müden Blick, der nichts mehr von der Bahngesellschaft hält. Offenbar ist der Automatismus, der die Lautsprecherdurchsage steuert, defekt. Irgendwo hat die Technik einen Zug gestoppt. Die Lautsprecher hingegen sind nicht zu bremsen, verkünden unverdrossen die Wahrheit des Fahrplans, ohne auf die Wirklichkeit Rücksicht zu nehmen. Die Technik gerät zum Selbstläufer, dem der Mensch nicht Einhalt gebieten kann. Der Fahrplan ist längst aus dem Ruder gelaufen. Die Lautsprecher geben die Daten des Kursbuchs wieder mit der Sturheit des Hinterwäldlers, der nie von seinem Berg herunterkommt und die Welt, dort unten, weit weg von dem, was er kennt, für jenseits jeglicher gesunden Vernunft hält.
Vom Zug fehlt jede Spur. Die Abfahrtszeit verstreicht, ohne dass ein Gefährt auftaucht. Von der Anzeigetafel verschwindet der Zug, der nicht abgefahren und nicht angekommen ist und nicht auf dem Perron steht. Die Zeit verstreicht. Die Uhr rückt weiter, in Richtung des Zeitpunkts vor, an welchem der nächste Zug fahren wird. Ein Zug fährt nach dem anderen, doch keiner kommt an, so dass keiner fahren kann. Dem Versagen der Technik ist der Mensch schutzlos ausgeliefert. Die Szenerie wirkt wie eine schlecht moderiertes Game, dem sämtliche Bezüge zu Realität abhandengekommen sind.
Das Warten wiederholt sich. Die Gedanken verfangen sich, kommen nicht weiter als bis zum Zug, der aussteht; rotieren in der Hitze durch das Hirn und taumeln zuweilen, so dass Isidor mehrmals physisch aus dem Gleichgewicht gerät, mitschwankt und sich auffangen muss, um nicht in einen Nachbaren zu kippen. Der Stillstand unter der Dusche des Hitzedrucks bekommt ihm nicht. Auch nicht den Nachbarn und Frauen, die um ihn ausharren, schweisstriefend, sofern die Haut nicht schon fast alles Nass abgesondert hat, dessen er zum Kühlung des Körpers bedarf.
Die Gedanken rollen nicht auf dem Geleise weg, weit in die Räume der Träume, zu welchen die Reisen hinführen, auf den Geleisen, die zukunftsweisend vorwärts gerichtet sind, sondern bleiben an den Schwellen hängen, als ob sie dort angekettet worden wären.
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Der Allmacht des Schweigens sind alle ausgesetzt.
Aus dem ausstehenden Zug werden mehrere ausstehende Züge. Wohin soll das führen? Wohin führen diese? Alle Wartenden zeigen sich ratlos. Die Beine steht sich Isidor bald eine geschlagene Stunde in den Bauch. Wie lange soll die Quälerei noch dauern? Kein Mensch weiss es. Isidor kommt sich vor wie in einen Suppentopf gesteckt und in Stücken minestroniert und aufgesudet. Der Fluss des Schweisses, der über die Schläfen fliesst, hört nicht auf. Isidor spürt jede einzelne Stelle des Körpers. Das Ohr schmerzt ihn. Die Nase tropft. Niemand weiss etwas. Die Lautsprecher schweigen. Die Bahnangestellten schweigen. Der Zug von der Kleinen Scheidegg hat neues Personal herunter gebracht. Dieses erweist sich nicht als besser informiert als ihre Bahngenossen, welche in geringer Anzahl ratlos bereits unter das wartende Volk gemischt sind, sofern sie nicht schon längst Fersengeld gegeben haben.
Der Allmacht des Schweigens sind alle ausgesetzt. Sie liegt schwer über dem Plateau. Kein Wind trübt in dieser Jammerhitze die Lautlosigkeit. Kein Blatt raschelt. Drüben stehen die Eis bedeckten Berge. Von ihn kommt keine Kühle. Hier verwandelt sich der Bahnhof in einen überhitzten Brutkasten.
Wie ein Keil schlägt sich die Technik in die unversehrte Modelllandschaft, zu welcher die Menschen aus allen möglichen Ländern her reisen, um Kraft, Frische und Schönheit zu tanken, und spaltet die Gefühle, die bis anhin voll von erhabenen Eindrücken geprägt waren und sich nun in einem allerkleinsten Kreis drehen und nicht aus dem Herz herausfinden. Eine Bitterkeit schleicht sich in das Denken ob so vieler Menschenverachtung, welche die Bahnbetreuer in geradezu anstössiger Weise vor Ort an den Tag legen.
Im Tal werden die Schatten länger. Kühlung bringen sie nicht. Die Schatten wachsen in den Köpfen der Menschen weiter, die sich gedanklich aus der Gegend verabschieden und mental Zuflucht an gastfreundlicheren Orten suchen. In diese Bergumgebung reisten sie voller Vorfreude, haben den Tag genossen, Herz und Sinne mit vielen guten und beeindruckenden Gefühlen und Eindrücken gefüllt. Und nun dies! Auf die Seite gestellt und nicht abgeholt wie eine fallen gelassene Geliebte, drängen sie sich in Scharen im engen Warteraum des Bahnhofs, hoffen, dass sie endlich aus ihrer Lage befreit werden und blicken sich enttäuscht an. Sie haben Geld gebracht, sie können gehen. Das ist der Landsleute Lohn.
Kein Wort. Keine Erklärung. Nur Versagen. Die Bahnangestellten, die den Mut haben, zu bleiben, stieren wie Kühe vor sich auf den Boden und vertrauen offenbar auf das Prinzip: Ratlosigkeit, der Computer wird es schon richten. Doch, keine Bahngesellschaft interveniert. Keine Verkehrsleitstelle informiert. Nur das Warten wiederholt sich. Jene Leute, welche die Bahnhofskommunikation verantworten, sitzen weit weg. Irgendwo. Unbeschadet und immun gegenüber den Menschen, die sich nicht vor einem Bildschirm befinden, sondern vor einem leeren Geleise ausharren.
Die Verkehrsleitstellenleute verschieben Züge auf grossen Bildschirmen, welche mit Zugsnummern versehen sind, die sich bewegen und ändern. Die Menschen tragen auf diesen Bildschirmen nicht einmal mehr Nummern. Niemand muss darüber benachrichtigt werden, woher, wohin, wofür die Züge fahren. Die Leute auf der Verkehrsleitstelle haben den Überblick, geben ihre Informationen aber nicht weiter. Denn sie sind ihr Besitz. Sie zu teilen, würde heissen, Macht abzugeben. Das müssen all jene zur Kenntnis nehmen, die nicht in der Verkehrsleitzentrale sitzen. Wissen ist Macht. Die teilt nicht jeder gerne.
Auf der Zentrale haben sie die Menschen vergessen. Die Züge müssen fahren. Der Betrieb muss laufen. Der Zug braucht nicht darüber aufgeklärt zu werden, was der Mensch will. Er muss Menschen transportieren. Mehr muss der Verkehrsleitstellenbeamte an ethischem Verantwortungsgefühl nicht intus haben. Seine Tätigkeit ist ihm ins Blut geschrieben. Zahlen dirigieren Züge. Die Technik ist ihm über den Kopf gewachsen. Er bedient die Tastatur. Mit dieser wirkt der Schaltbeamte auf seinen Computer ein. Der Mensch ist ihm eine verschiebbare Masse. Ein Faktor, der dem reibungslosen Ablauf der Fahrpläne nicht im Wege stehen darf. Eine Körperheit ohne Gewicht. Eine Zugsnummer, mehr nicht. Die Züge sind solide gebaut. Sie halten das Gewicht aus, das der Mensch in die Wagen hinein bringt, wenn er in diese steigt. Der Mensch ist dem Zug keine Belastung.
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Dort sitzt ein Mensch und steuert das Gerät.
Die Leute auf dem Perron warten ratlos ab, was geschehen soll. Fragen wiederholen sich, Antworten durchbrechen den Kreislauf nicht. Anderswo stehen Züge parat, die man verpassen wird. Das gilt auch für Isidor. Der Blick fixiert die Stelle, wo der Zug auftauchen soll. Doch, da, auf einmal, vernimmt das Ohr, nicht aus dem Laufsprecher, von fernher, einen Ton, einen Pfiff, nicht wie von einem Vogel, einem Raubvogel, der über dem Bahnhof fliegt und nach Beute ausschaut, um diese in seinen Gebirgshort zu bringen, sobald sie gefangen ist, sondern von einer Lok. So musste es sein. Isidor schöpft Hoffnung und Kraft. Er horcht noch einmal genau hin. So muss es sein. Irgendwo, weitab, im Tal, befindet sich ein Zug. Möglicherwiese in der Anfahrt.
Alles atmet auf. Ein Wind geht durch die wartende Menge, die an Geist und Gemüt arg strapaziert in brütendem Licht auf dem Perron steht. Erstarrt in ihrem Warten. Das Wiederholen des Wartens erfährt einen Unterbruch. Die verhaltenen Bewegungen, zu mehr ist nicht Platz, wühlen die schwer lastende Luft auf. In einem Augenblick ist das Warten wie weggeblasen. Dort, wo das Geleise in den Bahnhof mündet, tauchen tatsächlich unfahrplanmässig die Stirnlampen eines Zuges auf. Es handelt sich um einen Zug, der zwischendurch vorbei kommt. Der, zu Besuch, vorbei schaut und gar keine Passagiere aufnimmt.
Die Blicke geht zur Anzeigetafel. Diese gibt keinen Zug an, der auf eine vorgegebene Abfahrtszeit starten soll. Lauterbrunnen verfügt über einen Sackbahnhof. Der ankommende Zug kann nicht weiter fahren. Es geht nicht anders. Er muss hier stoppen. Er muss zurück nach Interlaken, woher er kommt. Die Laufsprecher schweigen, sagen nichts von einem Zug, der ankommt und wieder geht.
Die Lokomotive fährt vor, langsam an den Leute vorbei. Sie schauen auf die Frontscheibe der Zugmaschine. Dort sitzt ein Mensch und steuert das Gerät. Die Masse machte das Gesicht eines genervten Lokführers aus. Er wirkt wütend. Er bedient die Technik. Der Zug hält. Eine ganze Reihe von Wagen steht zur Verfügung. Viele Leute steigen aus. Man tritt sich in den Weg, aus dem Weg, weicht Koffern und Kinderwagen aus. Da wo keine Bahngesellschaft mehr ist, hilft sich der Mensch selber. Als wäre es eine Apokalypse, bei der nichts mehr geht.
Niemand sagt etwas, die Aussteigenden sagen nichts, jene, die einsteigen wollen, schweigen die Aussteigenden an, halten sich zurück, drängen nicht vor. Das Gedränge ist immens, auch wenn sich niemand bewegt, noch nicht. Man hat aber auf einmal Zeit, da, wo ein Zug dasteht. Die Fahrplan ist ausser Kraft gesetzt. Die Menschen blockieren den Zug, der sich füllt, zusehends. Kein Bahnangestellter hindert die Leute am Einsteigen. Niemand tritt dazwischen, wie sich in den Personenwagen das Gepäck stapelt und auf diese Weise die Durchgänge verstopft. Der Zug ist eingetroffen, mehr zählt nicht.
Keine Lautsprecherdurchsage mischt sich ein. Auch nicht im Inneren des Zuges. Die Leute wollen gar nicht wissen, was war und jetzt ist. Sie nehmen die Hitze des Tages und des Wartens mit in den Zug. Die Berge und ihre Leute sollen bleiben, wo sie sind. Isidor will endlich aus diesem Tal weg. Nur weg. Hin zu den Menschen, die sich nicht der Technik verschworen haben.
Die Zeit hat keinen Raum. Wie viele der Wartenden auf dem Perron bleiben, nachdem der Zug wie eine Sardinenbüchse gefüllt ist, und weiter warten müssen, interessiert jene nicht, die einen Platz, sei er auch stehend, im Zug ergattert haben. Auch nicht Isidor. Der Zug steht dicht mit Menschen gefüllt. Der Fahrtwind wird Kühlung verschaffen. Doch auch in diesem Gefährt lassen sich die Fenster nicht öffnen.
Isidor hat es geschafft. Er steht Kinn an Kinn mit einem Fremden, der ihm den Atem ins Gesicht bläst. Ins Gesäss drückt eine Tasche. Aufrecht zu stehen, vermag Isidor nicht. Die Kniekehlen werden von einem Kinderwagen weggedrängt. Die Masse der Menschen und Waren, die sich um ihn stauen, verhelfen Isidor zu sicherem Halt. Isidor könnte absolut schief im Raum hängen, er würde nicht stürzen. Der satt zusammengefügte Knäuel an Menschenleibern verhindert jeden Fall. Wäre Isidor jedoch eine Kerze aus Wachs, er wäre geschmolzen. Er fühlt sich in einen zergehenden Alpenkäse verwandelt. Von verschiedenen Seiten dringen Gerüche auf den Käse ein. Die gesamte Wanderfrische ist gewichen. Von gesunder Erholung keine Spur. Statt gestärkten Muskeln nimmt er in sich lediglich lederschwache Kräfte wahr, die abfliessen wie ausgeschütteter Rahm.
Die Bergwelt hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Statt Felsenkraft dringt bittersaurer und schleimschlaffer Saft durch die Venen und Nerven. Isidor ist auf den Berg gekommen, um zum Hund zu werden, den man prügelt. Die grosse Freiheit, die Isidor droben in den Bergen gefunden hat, ist weg. Eingestampft und eingepfercht findet er sich wieder, in diesem Eisenbahnwagen ausgesetzt dem Druck von tausend Seiten.
Der ganze Wagen riecht, obwohl der Zug sich noch gar nicht in Bewegung gesetzt hat und die Türen offen stehen, recht bald viehisch. Derart viel Volk und Gepäck sind in den engen Raum gestopft.
Isidor wünscht sich immer mehr, dass er sobald wie möglich aus dieser beengenden Alpenwelt heraus kommt in die befreienden Ebenen des Flachlands, wo Raum und Platz ist und die Herzen grösser, offener und warmherziger daher kommen als in diesem schroffen Talkessel, wo Tierhalterei von Menschen praktiziert wird, die man für dumm verkauft und entsprechend behandelt, als ob ihnen der Anstand der Gastgeber Schnurz sei.
Irgendwann fährt der Zug ab. Wie ein Gespensterzug, von dem man weiss, dass er um Mitternacht fährt.
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