Der Taubenhauch

Jonathan Noel sieht eines Tages das Leben am Boden. Eine eingeschüchterte Taube als Spiegelbild seiner selbst erwartet ihn, wie er sein Zimmer verlässt und auf den Etagengang hinaustritt. Wie er ist das Tier von seiner Umgebung gefangen gesetzt. Die Taube drang durch ein Fenster in das Haus ein und weiss nicht mehr, wie hinaus. Hinaus kommt Noel zwar. Er bewegt sich jedoch in einem klar abgegrenzten Geviert der Stadt, das aufgrund der von Jonathan selbst bestimmten Geschlossenheit an ein Gefängnis erinnert. Das Quartier ist voller Fresstempel. Diese sind Jonathan einerlei. Er, der sich selbst von der Gesellschaft absondert, begnügt sich damit, draussen auf einer Bank in einem Park, ansichtig weiterer Tauben, sein Mittagessen einzunehmen.

Sein Geist ist in diesem Geviert eingesperrt, auch wenn die Strassen überaus belebt sind. Sehr viele Menschen verbringen in der Rue du Bac, der teuren Einkaufsstrasse, und in der Rue Saint-Placide ihren Alltag, ihre Freizeit, ihr Leben. Doch Jonathan hat ein Brett vor dem Kopf. Wen wundert es darum, dass Patrick Süskind seinem traurigen Helden als Wohnort eine Mansarde in der Rue de la Planche verpasst. Wenige Leute passieren diese Strasse, parkierte Fahrzeuge säumen das Trottoir. La Planche steht für ein Brett, auf welchem keine Tauben leben.

Das Brett befindet sich in der Metropole, Paris. Jonathans Lebensrevier erweist sich als klein und eingeschränkt. Als Lohnbezieher verbringt er seine Zeit in der Funktion eines Türstehers auf drei Stufen, die zum Eingang eines Bankinstituts führen. Er zählt in seiner Lebensqual die Augenblicke, die er vor dem Geschäft verbringt, und hofiert dem Bankmeister, der mit einem teuren Auto vorfährt, anstatt dass er sich selber in eine geistige Limousine setzt.

Um mit den Lebensgefühlen des Herrn vertraut zu werden, habe ich mich in den Square Boucicaut begeben, dort auf eine Parkbank unter die Tauben, die nicht miteinander reden, gesetzt und wie Süskinds spannender Held ein Sandwich verzehrt. Ich machte mich auch an die letzten Seiten Der Taube heran. Die Bänke stehen weit auseinander. Jonathan Noel ist sich sicher vor Kontakten. Die Tauben treten ihm nicht zu nah. Vom Schluss des Buchs, dem Schluss, den Jonathan schliesslich zieht, werde ich völlig überrascht. Darum verlasse ich den Park, dem Impuls des Herrn im Buch folgend, und wechsle hinüber in den nahen Bon Marché, wo ich mir in der Gourmet-Abteilung des Geschäfts mit dem doppeldeutigen Namen einen Foie Gras, begleitet von einem Süsswein, genehmige.

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