Josephine Belladanza

Diesen Weg will er sich ersparen. Er sticht erneut in den Tatar hinein und hofft, dass dessen Blut ihm frische Farbe und Kraft gibt, ihn auf diese Weise auf einen Ausweg aus seinem Schicksal hinweist und ein neues Terrain vorbereitet, das er betreten kann, so dass er dem Tor auszuweichen vermag und nicht durch dieses hindurch muss. Er vertilgt mit grosser Freude die Stücke seiner Mahlzeit. Nachdem der Teller leer, das Fleisch und die Beilagen verzehrt und fein säuberlich im Magen verstaut sind, blickt er auf und einer Frau am Nachbartisch direkt in die Augen. Er betrachtet das Gesicht. Das Alter hat ihr die weiblichen Züge genommen. Androgyn, sagt er sich. Etwas Haar wächst unterhalb der Nase und auch am Kinn. Sie wirkt nicht, als sei ihre Haut epiliert. Er versucht das Antlitz, das sich ihm bietet, zu durchschauen. Er blickt verwirrt auf die Haut. Die Frau könnte durchaus, aufgrund des Erscheinungsbildes, auch jung sein. Die feinen Härchen promulgieren zu Borsten. Er schrickt zurück. Wird seine Sicht der Dinge unterbewusst aus der Warte geführt und geleitet, die er für sich als Reaktion und Abwehr der Schatten der Projektion, die das Tor auf ihn richtet, um sich eingerichtet hat? Ihre Haut wirkt weitherum schmiegsam. Hat die Frau an ihrem Aussehen herumgewerkelt?

Die Frau fragt: «Planst du eine Abreise?»

Detailversessen und festgefahren in die sich wiederholenden Betrachtungen und Analysen seiner schlecht ineinander verzahnten Eigenerörterungen zu seiner gegenwärtigen Situation, der Abende füllende Versuch einer aktuellen Standortbestimmung sowie die auf das Tor fixierte Denkweise, in der er fleissig kramt: Diese ganze Äufnung an im Kreis verlaufender Selbstdiagnose verhindert, dass es ihm gelingt, eine Antwort auf die ihm überraschend gestellte Frage zu finden. Statt mit einigen wenigen frechen, aber nicht grobschlächtigen Strichen ein einfach strukturiertes, aber fröhlich ausstrahlendes Gemälde wie zur Zeit seiner wilden Jahren zu schaffen, hingeworfen im Überschwang, aus welchem er aus dem Vollen schöpft, um aus seinem Ideenreichtum die gesuchte Replik auf die Wortmeldung der Frau zu klauben, verbleibt er in seiner Selbstsinnigkeit und schweigt.

Ihm ist nicht nach Reden zumute. Das Mal hat ihm gemundet, das Fleisch ihm eine klare Botschaft von kraftvollem Leben vermittelt. Seinen Abend will er sich nicht durch einen ungebetenen Gast verderben lassen. Er schaut auf die Tischplatte vor der Frau. Das matte Getränk, das sie für sich bestellt hat, verheisst kein gutes Gespräch. Irgendetwas in Technokratensprache, befürchtet er, ein mühsames Alibigeplänkel, das sich ohne Elan an genormten Redewendungen sättigt und ohne Phantasie abendübergreifend aus dem dahergebrachten, geschlossenen Fundus gesellschaftlicher Platituden nährt.

Keinen Bock auf Unterhaltung hegt er. Die Umgebung spricht ihn nicht an, obwohl er in dieser seit geraumer Zeit verweilt und immer wieder zurückkehrt. Eingedenk des Widerspruchs, dass er den Ort widerwärtig findet, weil er ihn an die Aufgabe des stet präsenten Tores erinnert, müsste er sich bewusst sein, dass die Lokalität, ihm abweisend gegenüber, sich nicht als Raststätte für die langen Abende eignet und er darum die entsprechende Konsequenz zu ziehen hätte. Andererseits zieht die Stätte ihn gleichzeitig an. Eingehend hinterfragt er, warum er genau dieses Umfeld für seine täglichen Aufenthalte auswählt, obwohl er das Gefühl hat, es sei ihm widerwärtig. Er blickt erneut zur Seite hin. Das Getränk am Nebentisch lockt ihn nicht. Es liefert nicht den Grund für seine Immerwiederkehr in diese Raststätte, parkiert gegenüber dem Bahnhof. Die Farbe der Tunke vor der Frau erinnert ihn an einen wertneutralen, alkoholfreien Rotwein, der mit einer namenschweren Etikette versehen ist, die aristokratisch tropft und ebenso gut für einen Etikettenschwindel geradestehen kann wie für die Qualität des Produkts; an einen Wein, in welchen jede Traube beliebig gesteckt und mit einem klingenden Namen geadelt wird, so dass das Angebot als Flasche Bestand hat.

Er denkt an die Gesellschaft, die Gemeinschaft der Menschen, die ihn umgibt, und die Etiketten, mit welchen sich diese ausstatten, um aus sich eine Identität zu formen, die sie sich selber geben, und sich danach nach dem Bild gestalten, das sie von sich haben. Der Geschlechter sind heute viele, denkt er. Über die aktuellen sexuellen Anschauungen und Orientierungen hat er keine Übersicht mehr. In dem Bereich klingen viele neuen Bezeichnungen an: Liebesmuffel, pansexuell, queer, sexuell-unkonnotiert und auch ammonit-dimorphistisch-neutral. Die Frau liefert keinen Anhaltspunkt, der ihm aus seinem verfahrenen Anschauungsmodus auf die Gesellschaft hilft und gestattet, die Dame genderquotiert einzuteilen und zu klassieren; sie und sich selber als heterosexuell zu platzieren, damit das Haben und Soll im sentimentalen Gefüge der Menschheit gesellschaftsrelevant erfüllt wird, so dass genügend Knaben und Mädchen gemäss einer undefinierten und undurchschaubaren Planung der Natur geboren werden und die Menschheit weiterhin existiert.

Er denkt an die Frau, die Nähe zu ihm herstellt. Mit welcher Beschriftung soll er sie versehen? Verspricht die Anschrift, der Aufdruck gleichviel Gewähr für den Inhalt wie beim Wein? Sie könnte – ja, was könnte sie sein? Ist sie ein Mann? Muss er für sich präventiv eine Triggerwarnung aussprechen, damit er gewappnet ist, falls die Frau ihm etwas Unschickliches entgegenhält? Er kennt die Dame nicht. Ist sie selbstverliebt mit sich selber verheiratet und darum geschlechtlich egoautark? Ins Auge fasst er diskret ihren Ringfinger, ob dort genderneutral zwei Eheringe stecken. Das tun sie nicht. Kein Ring schmückt die Hand. Dennoch: Sie könnte für ihn zur Gefahr werden, ein Unwohlsein bei ihm hervorrufen, indem sie ihm zu nahe kommt, wenn nicht schon ihre Präsenz bei ihm Kopfweh auslöst, weil er ein Unbehagen empfindet wegen der eingetretenen Situation, die nicht zu seiner Vision von Leben passt. Neue Bekanntschaften mit Menschen sind immer mit einer Gefahr verbunden und gefährden das eigene Gutwohlsein und somit das Selbstbefinden. Er könnte sich vor den eigenen Kopf stossen, wenn er sich zu neugierig auf sie einlässt; ihr vor den Kopf stossen, wenn er in seiner Antwort das falsche Wort einsetzt. Er muss den Woke-Schalter aktivieren, damit er ihr nicht mit einem von Soziologie, Ethnologie und Politik geächteten Wortwurf auf den Fuss tritt. Der Mensch gefährdet den Menschen. Nein, er muss sagen: Der Mensch kann den Menschen gefährden. Er weiss nicht, was er von dem Wesen, das unweit, in Wortnähe, von ihm sitzt, halten soll. Sie ist für ihn ein unbekanntes Land. Wie quer denkt sie? Vorsicht ist angebracht. Sie könnte nicht so denken, wie er es tut. Solches könnte ihn beschämen.

Er hat keine Idee und sagt sich: Im Grunde sind diese Fragen müssig. Vor dem Tor löst sich die Vielfalt auf. Die Identität wird zu einem Zeitvertreib. Er wendet selber gegen seine Überlegungen ein: Das Geschlechtliche ist ein gesellschaftliches Spiel. Er hat an diesem teilgenommen in der Gestalt, die er sich gibt, die ihm von Geburt an gegeben wurde. Er nimmt seine Geschlechtseinteilung an. Was ist mit der Frau?

An seinem eigenen Aussehen werkelt er nicht herum, lässt die Natur frei an seinem Körper walten und diesen aufgrund seines Alters wandeln. Aber dennoch gibt er jenen recht, die ihr Geschlecht nach ihrem Wunsch leben. Jene, die ihrem Genus ihre eigene Prägung aufsetzten, wenden sich mit dem Entschied gegen die Etikette, die ihnen die Gesellschaft aufgrund traditioneller Wunschbilder verpasst. Diese Gesellschaft besteht aktuell aus der Frau, die ihn ansprach.

Sie blickt ihn nach wie vor an. Er lässt sich nicht beirren und nimmt sich vor, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. Die Frau hält nicht still. Von ihrer Seite kommt die Bemerkung: «Hübscher, du siehst ganz danach aus, als würdest du bald in den Bahnhof gehen.»

Die Aussage erschüttert ihn. Was weiss sie von ihm, dass sie einen derartigen Satz wagt! Vor sich hat er keinen Spiegel stehen, der ihn über sein aktuelles Aussehen aufklärt und ihm klar und unmissverständlich sagt, wes Alters er ist und ob sein Gesicht oder dessen tagesaktueller Ausdruck, angepasst an seine Tor-Neurose, die Frau zu ihrer Bemerkung anregte; und auch nicht darüber orientiert, ob er mit einer Gesichtsmaske auf die Bemerkung der Frau reagiert. Das Alter spielt im Grunde eine geringfügige Rolle, wenn es darum geht zu eruieren, welche Menschen das Tor passieren. Er schaut den Gestalten nach, die den auch ihm bestimmten Weg eingeschlagen haben. Zu ihnen gehören junge Leute, die sich aus Kummer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit oder gezeichnet von einer Krankheit oder Sucht auf den steinernen Durchgang hin zu bewegen. Sie zögern beim Schreiten nicht. Das Locken des Tores ist unmissverständlich und die Anziehungskraft gross. Legt sich das dunkle Laken des trüben, des letzten Tages über die Gerufenen, erweist sich jeder Widerstand als sinnlos. Die jüngeren Menschen weisen ein anderes Kraftgefüge auf und schreiten, als ob noch Kampfgeist in ihnen wäre, schneller voran als jene, die altersgeschwächt, gegen ihre inneren Widerstände oder im anderen Fall selbstbewusst, des Schicksals einsichtig und darum erhobenen Hauptes dem erlösenden Ende entgegentaumeln. Der letzte Tag im Leben ist ein Besonderer. Dem letzten Tag mangelt es an Klarheit. Die eben angestellte Überlegung erscheint ihm inkohärent. Er zweifelt einmal mehr an dem, was in seinem Geist als wahrhaft daherkommt und er mit dem Wirklichen verbindet.

Die Frau hat sich ihm jetzt in den Weg gestellt. Als ob es bei ihm etwas zu holen gäbe! Auch einer anderen Aussage fehlt der Realitätsbezug: Ihn als Schönheit zu bezeichnen, entspricht nicht seinem Wunsch, und ob er sich als solche bezeichnen soll, ist ihm egal. Andere Sorgen plagen ihn angesichts des Tors und des Trosses, der durch dieses zieht. Es nimmt ein Geschiebe von zahlreichen Menschen, Leichen noch nicht, wahr, die, zur Stosszeit, als habe sich eine Seuche viraler Herkunft oder psychisch-pandemischer Natur der Menschheit bemächtigt, das Portal ausfüllend, in den Bahnhof hinein wollen. Wie ein breiter Pfropfen presst sich die Meute in das Loch und lässt sich willenlos tiefer in dieses hineinschieben von den Leuten, die nachdrängen. Das Gemenge ist gross und unordentlich, wie bei einem Ablauf, der an Verstopfung leidet. Niemand reiht sich in Kolonnen ein. Der Gang erscheint frei wie zugleich aufgezwungen. Das Tor ordert nicht wie ein Oberbefehlshaber zur Parade. Der Durchgang durch das Tor gilt nicht als Feier. Das Leben ist ein Saugglocke, welche, nachdem sie das Wasser aus dem Siphon herausgezogen hat, dieses mit grosser Kraft wieder in das Rohr zurückpresst und hinweg spült, so dass der Durchlass wieder frei ist für alles, was die Menschheit entsorgt, um Platz zu machen für jene, die nachkommen.

Er macht weitere Personen auf dem Platz aus, die offenbar nicht zur Parade des Bahnhofs antreten. In der Nähe von Bahnhöfen hängen meist Leute herum: Solche, wie er, drinnen, andere draussen. Sie stehen herum, sehen aus, als würden sie, unschlüssig wie er, auf einen Abschied warten und gleichzeitig nicht wissen, wer ihnen diesen Abschied geben wird, wen sie verabschieden und wovon sie sich eigentlich trennen wollen. Sie verweilen und überlegen, als ob ein Zug ihrer harre und sie sich nicht entscheiden können, ob sie diesen auch wirklich nehmen sollen. Als spähten sie nach jemandem aus, der kommen soll; als verweilten die in ihrem Vorwärtskommen Stockenden wie jemand, der unterwegs ist, gleich aufbrechen will und nur darauf bedacht ist, die Abfahrt des Zuges nicht zu verpassen, den Wechsel auf den Fahrsteig hinüber trotzdem für die Länge einer Bedenksekunde aufschiebt, bis zum letzten Augenblick wartet; nicht wie er, der, standhaft sesshaft, in seinem Café weilt und so aussieht, als könne er sich nicht entscheiden, ob er nun in den Bahnhof treten soll oder nicht; jemand, von dem angenommen werden kann, er hadere mit sich selber und dem Entscheid, den er vor sich her schiebt, und doch genau weiss, dass er ihn nicht endlos auf die Seite stellen kann, sondern, dass der Moment kommen wird, der ihn heisst, zum Bahnhof zu gehen. An vielen Menschen müsste er bei einem Aufbruch vorbeigehen. Das Verweilen vor dem Bahnhof entspricht einem müssigen Halt beim Gang auf diesen hin. Die Leute hängen rum in Träumen, haltlos über dem Boden schwebend. Der Leiermann hat seine Sachen gepackt und ist gegangen.

Er ist frei zu tun, was er will – noch. Er beschliesst, trotz seiner Bedenken, ausgehend davon, dass ein Gespräch ihm möglicherweise Erleichterung und auch Ablenkung verschaffen wird, auf die freche Bemerkung von nebenan zu reagieren. Doch die Frau kommt ihm zuvor und erklärt noch bevor er den Mund öffnet, indem sie auf die Menschen auf dem Platz weist: «Wandersleute, das sind alles Wandersleute.»

Eine derartige Aussage entspricht dem Dolchstoss in den vernünftigen Beginn einer Diskussion über die Wesenheit des Seins. Wandersleute! Solche Leute haben ein Ziel und wissen: Sie kehren nach ihrem Ausflug an ihren Ausgangspunkt zurück, denkt er. Doch der Mensch, wohin geht er? Die unbekannte, zudringliche Lady will ihn hoch nehmen. Es ist schon genug damit, dass ihr Anblick sich auf ihn zurück wirft und ihn mit der Frage konfrontiert, in welchem Zustand er sich selber befindet und als was für eine Erscheinung – ein Pendent zur Dame nebenan? – daherkommt und was wohl die Leute von ihm denken, schauten sie ihn an, wie er die Frau ansieht und sich dabei überlegt, was er von ihr hält? Eine Vettel! Das ist es, was er in ihr sieht. Was sehen die Leute in ihm?

«Ja, mein Freund, auch junge Leute tragen die Spuren des Alterns», fährt sie fort. Sie spricht einen Gedankengang an, den er soeben selber für sich ausgeführt hat, und verknüpft auf diese Weise ihrer beiden Denken. Hat sie – unbewusst, zumindest – in seinen Gedanken gelesen? Ihn schaudert. Nicht nur das Tor greift nach ihm, sondern auch seine Frau Nachbarin, von der er so viel hält wie von jenen, die durch das Tor gehen. Er befindet sich in einer Sackgasse, in welche er sich mit seiner Phobie für das Tor hineinmanövriert hat, die nur über einen Ausgang verfügt: Das Tor – oder einen zweiten: die Frau.

«Quatsch schon mal etwas. Das wird dich befreien», sagt sie nun. «Du sitzest da wie ein kastrierter Stier, keine Kraft in den Lenden. Was soll aus dir werden?» Er denkt sich: Das sind recht tiefer gehende Gespräche, die sich ankündigen. Nur hat er bisher kein einziges Wort zur Konversation beigetragen. Der Sog, der die Menschen durch das Tor spült, inspiriert ihn nicht zu Gedanken, die er äusseren oder gar veräussern kann in der Hoffnung, er werde aus dem, was er sagt, Gewinn schlagen. Er kann noch lange hinschauen, der Worte werden daraus nicht. Das Tor lässt ihn sprachlos zurück. Reagiert er auf einen Appell seiner Vernunft, wenn er sich ihm nicht mit Worten in den Weg stellt? Das fragt er sich. Wenn er zur Sprache zurück findet, denkt er und dreht seine Gedanken um, wird der Abstand zu diesem Tor wachsen und er wird leben. Der Worte muss er wieder Herr werden und das Richtige der Frau entgegen halten.

«Du denkst zu viel und verpasst das Leben», ergänzt sie. «Das tötet dich.»

Das rechte Wort finden, um ihr zu antworten. Das ist nun sein Bestreben. Er rückt den Blick weg vom Tor, kommt aber dem Wort, dass er sucht, keinen Schritt näher und diesem schon gar nicht auf die Spur. Sie blickt ihn erwartungsvoll an, er schaut in Erwartungshaltung zurück. Er darf nicht zulassen, dass sie ihn mit einem weiteren, deftigen Spruch zuvorkommt und ihm wieder eine schiere Ungeheuerlichkeit an den Kopf wirft. Darum sagt er, fragt vielmehr: «Schmeckt der Wein?»

«Dumme Frage», kommt es zurück . «Ab einem gewissen Zeitpunkt im Leben ist der Wein ohne Geschmack und dient nur noch dem Trinken. Und der Trank Bier dem Trunk. Trunken kommst du mir vor, berauscht vom Anblick des Eingangs in den Bahnhof. Nicht Stier bist du, stierst aber.» Die Frau erkundigt sich zudem keck: «Schaust du den jungen Mädchen nach oder den Burschen? Sie haben schöne Körper. Was sich bei dir unter dem Tisch vor dem Bauch rundet, weil du dich zu wenig bewegst, wölbt sich bei den jungen Menschen an ganz anderen Stellen.»

Er hält sich seiner Ansicht nach für das Alter, das er jeweils bei Amtsstellen anzugeben pflegt, gut. Um seinen Bauch ist es nicht so schlecht bestellt, denkt er.

«Um meinen Bauch ist es nicht so schlecht bestellt», antwortet er darum.

«Stark stützt er den Tisch nicht», kommt es zurück. «Das spricht für dich. Du scheinst dich doch noch irgendwie und etwas zu rühren und auf irgendeine Art so zu halten, dass man dich anschauen kann, ohne gleich zu denken, du seist in einem absolut schlechten Gesundheitszustand. Wie du sitze ich viel zu viel hier und schaue den Leuten nach. Doch dir scheint es der Bahnhof ganz besonders angetan zu haben. Das Tor, das du anhimmelst, ist eine Passage in eine andere Welt als jene, die durch diese Gaststube gegeben ist. Hier will man Menschen begegnen. Dort will man gehen. Wohin willst du?»

Ihr kann es gleichgültig sein, warum er sich an dem Ort aufhält und wohin sein Blick zielt. Er betrachtet den Aufenthalt im Lokal als seine private Angelegenheit. Niemanden geht es etwas an, womit er sich beschäftigt. Die Sicht auf das Portal des Bahnhofs kann ihm keine neugierige Nummer, und sei diese auch eine Frau, nehmen. Er bezeichnet seine Situation als sein eigenes Schicksal, in welches keine andere Person ihre Finger legen soll. Auch ihren Finger will er nicht auf sich gerichtet wissen. Er ist Herr über seine Identität und seine Freiheiten, sofern diesen nicht durch eben dieses Tor eine klare Grenze gesetzt wird, die ihn nicht zurückweist, die er aber zu überschreiten hat. Wie soll er mit der plauderhaften Frau über genau diesen Grenzpunkt in seinem Leben reden? Einer Unbekannten soll er sich anvertrauen, weil sie sich frech an ihn gewandt hat? Ihn schaudert ein weiteres Mal. Er streicht mit dem Blick über den Platz, der vor ihnen beiden liegt. Die geteilte Sicht auf den Vorplatz des Bahnhofs bildet ihrer beider einzige Gemeinsamkeit, ihrer zwei alleiniger Beziehungspunkt, abgesehen davon, dass sie das gleiche Lokal für ihren allabendlichen Ausflug ausgewählt haben.

«Ich sehe keinen Grund, warum ich wandern soll», sagt er schliesslich und blickt hinüber zum Tor. «Die Gegend ist nicht geeignet dafür.»

Wandern! Solches kommt ihm nicht in den Sinn. Soll er zur Belustigung aller Vorbeieilenden, die ihn sonst nicht beachten, vor dem Haus hin und her gehen als einer, der nicht aus noch ein weiss? Als einer, der die Strasse macht! Als ein Philosoph, der peripatetierend nach einer verlorenen Münze sucht, mit der er sein Leben berappen kann. Innerlich muss er lachen. Vielleicht verzieht er auch leicht den Mund. Über die Bewegung ist er sich nicht ganz im Klaren. Hat er bewusst den Lippen eine andere Form gegeben als jene des Missmuts oder, mit Sicht auf sein eigenes Befinden, der Ironie? Oder entgleitet ihm die Kontrolle über sein Gesicht und dessen Ausdruck?

Er fixiert seine Gedanken und seinen Blick auf das Tor. Das Aus kennt er. Das Hinaus. Die Richtung bleibt vorgegeben. Eine Hintertür gibt es nicht. Hätte er sich aufgemacht, äugend links und rechts nach einem Ausweg, und auf dem Platz hinauf und hinab paradiert, er hätte dies als reine Makulatur empfunden. Die Zeit hat ihn überholt.

Also, warum sich unnötig selbstverleugnen und selbstherrlich als herumhüpfender Gockel sportlich profilieren, sich selber und den Leuten vorspielen, er sei nach wie vor mit jugendlicher Elastizität gesegnet und in seinen Gelenken geschmeidig wie eine Ballerina? Wandern, das ginge letztlich noch an. Viele Leute seins Alters gehen dieser Beschäftigung nach. Die Tischnachbarin könnte aber unerfreulicherweise der verrückten Idee verfallen und diese als seriös gemeinten Vorschlag anführen, ihn gar dreist auffordern, sich auf dem Platz vor dem Bahnhof aufzustellen als eine von vielen Figuren, die sich bewegen, und als Alternative zu deren Fortkommen vor Ort zu tanzen.

Er zeigt sich selber erstaunt über die seltsame Phantasie, die seinem Hirn entsteigt. Tanzen? Nein, ihm ist nicht danach. Auf eine solche, künstlerische Einlage in seinem Leben verspürt er nicht die geringste Lust. Ihn schwindelt. Auf einen solchen Vorschlag, einen sonderbaren, den die Frau an ihn herantragen könnte – ausschliessen kann er es nicht – muss er gefasst sein. Tanzen. Er vertraut seinem ausgezeichnet funktionierenden Kurzzeitgedächtnis, dem er ihre Vorschläge gegebenenfalls unterziehen kann, um sie danach mit ihren eigenen Worten zu parieren. Tanzen! Die Frau hat ihn eben angegangen. Wenn er sich mit ihr in ein Gespräch einlässt, kann dieses eine Wendung nehmen, die er zum aktuellen Zeitpunkt nicht zu erahnen vermag. Die Gefahr besteht, dass sie ihn zu einem Tanz anregt oder sogar, kontaktfreudig wie sie sich präsentiert, dazu einlädt. Nur, wo tanzen an diesem Ort?

Ihm steht es gut an, Abstand zu wahren und in seine Gedankenwelt nur die eigenen Ängste einfliessen zu lassen. Was kann die Frau zu seiner Seite von dem wissen, was er fühlt, befürchtet und erwartet? Der Hoffnung hat er den Laufpass gegeben. Er beabsichtigt nicht, sich auf die Jagd nach frischen Lorbeeren aufzumachen. Das Tor, das die Frau als Passage betrachtet, liefert eine deutliche Aussage, spricht nicht um den Brei herum und setzt all seinen Überlegungen einen klaren Endpunkt.

«Du brauchst dich nicht zu zieren. Du kannst reden. Du meinst, ich stinke, weil ich ein derartiges Aussehen habe. Dein Gesichtsausdruck ist eine Reaktion auf das, was du denkst. Ich schrecke dich, weil du nicht klar siehst. Wenn du dich als Gurke betrachtest, musst du nicht davon ausgehen, dass auch die anderen Gurken sind und ein Gurkengesicht ziehen und nach Essig riechen. Du täuschst dich. Geh in deinen Bahnhof. Dort wirst du im Wartsaal schmecken, wie stark der Mensch ausdünstet, wenn er als wartender Tross auf seinen Abgang mit dem Zug, feinsinniger ausgedrückt: auf den abgehenden  Zug wartet.»

Die Frau bringt irgendetwas auf den Punkt. Nicht, dass er sich an dem Tag nicht mit einer Dusche erfrischt hätte. Er riecht, um keine Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen, diskret an sich herum und zwar so, dass es wirklich niemandem auffällt. Am wenigsten soll sie auf die heimliche Überprüfung seiner selbst aufmerksam werden. Zudem stellt er sich die Frage: Ist er wirklich darauf erpicht, herausfinden, wie er schmeckt, was seine Eigenausdünstung im Geruchskarussell auf dem Platz und auch in der Geschlossenheit des Lokals, das er mit anderen teilt, beinhaltet? Welche Reize er aussendet? Ginge er hinaus unter die Leute und stünde mitten unter ihnen, um festzustellen, was seine Geruchsentwicklung in solchem Umfeld bewirkt, mitten unter seinesgleichen weilend, wie würde die Antwort lauten? Die Stadtlandschaft vor ihm sucht ihn nicht mit Gerüchen heim. Kein Duft umnebelt seinen Geist, obwohl eine solche Stelle wie ein Bahnhofplatz voll von Geruchsemissionen aller Art und unterschiedlicher Herkunft steckt. Auch wenn er mit all den Leuten, mitten unter ihnen, in diesem Lokal sässe, in einem geschlossenen Raum, bliebe die Frage nach dem Geruch offen. Seine Aura ist ebenfalls von ihrem Duft erfüllt. Letztlich schnuppert er nach ihr, die nicht weit entfernt von ihm sitzt, diskret, so wie er es für sich getan hat, bemüht, die Aufmerksamkeit von niemandem zu wecken. Er gibt mit seinem besonders streng aktivierten Sinnesorgan, das für die Geruchsaufnahme eingerichtet ist, seines Bestes, um auch olfaktorisch über das Faktotum kundig zu werden, das sich neben ihm befindet. Die Dame, will er es wahrhaben oder nicht, ist in eine Beziehung zu ihm getreten, deren Gehalt er nicht erfasst. Getrennt sind sie lediglich durch den Durchgang, den sowohl die Belegschaft des Hauses wie auch Gäste, die vorbeidrängen, nutzen; der Passage, die ihrer beider Tische trennt.

Riecht er, der immer wieder seine Aufmerksamkeit, nach dem Tor gierend, auf dieses richtet, nach etwas, das ihn auf eine bestimmte Weise mit seinem Schicksal verbindet. Es fehlte gerade noch, dass ihm vom Tor her, aus diesem heraus, der Geruch von Verwesung entgegen schlägt und zwar in der Stärke, dass der scharfe Reiz durch das geschlossene Fenster bis zu ihm dringt. Nichts nimmt er aus der Richtung wahr. Er sitzt gut abgeschirmt von allem, was von jenseits der Scheibe an ihn heran will, und erweist dem Bahnhof seine Referenz aus einem sicheren Raum. Er will bei den Lebenden bleiben. Er als Mensch, Wanderer durch das Leben, Tänzer über alle Schicksalsschläge und bisherigen Lebenshindernisse hinweg, strengt nun, aufgrund einiger einfacher Bemerkungen einer Frau, die zufällig neben ihm sitzt, seine Gedankenwelt an, um mit der Nase heraus zu finden, in welcher Art der Mensch ausdünstet. Seine Einsamkeit muss gross sein. Dennoch ist er selber als Ziel gesellschaftlicher Neugier oder zwischenmenschlicher Zuneigung Interessen Fremder preisgegeben. Er vermag sich dem Zugriff der anderen Menschen nicht zu entziehen, auch wenn er das Gegenteil beabsichtigt.

Als ob sich der Fremdgeruch nicht mit der Eigenausdünstung vermischen würde! Als ob der Mensch Trennkost wäre, die sich in verschiedene Kategorien einteilen lässt, die heissen: nicht gewaschen, weniger gut gewaschen, gut gewachsen. Er verwirft diese Überlegung und sinkt erneut in sein Sinnen hinein. Er irrt in Illusionen herum. Doch: Das Tor ruft ihn. Es steht auf seiner Seite, unerkennbar mit ihm verbunden und schiesst dennoch nach ihm, unhörbar, will ihn wie einen Geliebten umarmen und mit sich ziehen. Er vermeint das Rollen anfahrender Züge zu spüren. Es gleicht dem Rumpeln von Bowlingkugeln, die über den Platz auf ihn zu steuern. Er, der sich als Kegel in der donnernden Geschosse Bahn befindet, muss den Herannahenden aus dem Weg gehen. Das Spiel, das sich anbahnt, behagt ihm nicht. Die Kugeln visieren die Menschen an, als ob die Projektile die Leute auf dem Platz als dankbare Ziele treffen und fällen wollen. Der Mensch befindet sich zeitlebens auf einer Kegelbahn, auf welcher regelmässig Kugeln geschoben werden. Er muss immer auf Fuss sein und diesen ausweichen, wenn die Geschosse direkt auf ihn zukommen. Der Bahnhofvorplatz entwickelt sich zu einem Vorplatzbahnhof, auf welchem statt der Geleise Kegelbahnen eingerichtet sind. Die Menschen eilen über diese hinweg und weichen aus, wenn eines der kullernden Ungetüme sich nähert. Sie stellen sich den Projektilen nicht entgegen, sondern ziehen es vor, sich durch das Tor in eine unbestimmte Zukunft davonzumachen und zu retten, statt von den heranrückenden Wurfkörpern niedergewalzt und niedergemacht zu werden. Schauderhaft ist es für jene, die, getroffen, fallen. Sind die Kegel umgestürzt, werden diese von der Bowlinganlage ohne Mitleid und brutal hochgerissen. Der Hals steckt sich, als läge er in einer Schlinge, die ihn wie mit einem Strick an die Decke hochzieht und wieder auf den Boden zurück setzt, wo der Kegel erneut Parade für das teuflische Spiel zu stehen hat. Sind die als Ziel gesetzten Hölzer wieder zurück auf die Bahn an ihren Platz gestellt, können die Kugeln erneut nach ihnen fahren. Er wehrt sich gegen diese gallige Betrachtungsweise von Leben. Der Mensch ist kein Kegel, auf den Kugeln und anderes Material geworfen werden darf. Er will kein Maschinenmensch sein, der an einem Seilgehänge befestigt wird und nach Bedarf aus dem gesellschaftlichen Betrieb hoch gehoben und wiederum abgesenkt wird. Den Launen von Spielnaturen will er nicht preisgegeben sein. Er riskiert nicht Kopf und Kragen für ein Spiel, das ihm nicht behagt. Einem Kugelkasten gleicht das Leben keineswegs, in den der Mensch hineingesteckt wird, um das Rollen von Kugeln als Stehaufmännchen auszuhalten, sagt er sich. Er gehört nicht einem Kegelset an, das im Tor steht und auf welches das Schicksal erbarmungslos und unverdrossen seine Geschosse schleudert. Als Widerhall auf diese klare Erkenntnis ertönt erneut die Stimme der Frau: «Du kommst auf den Geschmack. Du entwickelst den Riecher für ein gutes Gespräch.»

«Ich habe nichts gesagt», entgegnet er.

«Immerhin hat du jetzt etwas geäussert. Das heisst, ein Lebenszeichen nach aussen geschickt. Du rührst dich also. Das ist ein Fortschritt. Du bist entwicklungsfähig. In dir stecken Kapazitäten, die noch nicht frei geschaltet sind. Streng deine Nase an. Sie wird dir deinen Weg weisen. Ob es der richtige ist, das musst du wissen, nicht ich. Du gaffst auf das Tor.»

«Wandersleute, das sind alles Wandersleute», wiederholt er ihre Worte.

Er schaut die Frau kurz an, kreuzt ihre Augen, fährt mit den seinen über ihr Gesicht. Ihre Wimpern senken sich nicht im Gleichklang, wenn sie blinzelt. Er wendet sich wieder dem Platz zu. Auf dem der Öffentlichkeit vollausgelieferten Gelände trifft sich die halbe Welt. Verschiedene Länder haben über die Reisenden, die sie in andere Weltengegenden senden, etwa auf diesen Platz, ihren Einstand. Gepäck enthält aufgrund der unterschiedlichen Herkunft, die alle Himmelsrichtungen einschliesst, die überraschendsten Inhalte, welche neben Düften von der Kloake abgestandener und ungewaschener Kleider bis zum teuer erstandenen Rosenwasser alles einschliessen. Nur riecht er nichts. Das Fenster und die Mauern sind dicht. Er sieht sich wie von Glas eingeschlossen, dass kein fremdes Aroma an ihn heran lässt.

Er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Tor, um zu prüfen, ob die Leute Gepäckstücke mitführen. Die Menschen gehen schnell, als ob sie es eilig hätten und zur Arbeit sollten, bedacht, keine der wertvollen Minuten zu verlieren, die für den Erhalt der pekuniären Lebenssicherung, die Geldarbeit, abgegolten wird. Wer die Richtung des Hauses des Aides nimmt, bedarf keines Gepäcks. Niemand nimmt seinen Besitz dorthin mit. Wenig Gepäck tragen all jene auf sich, welche die Richtung ihrer Arbeitsstätte genommen haben. Ein Koffer ist zu viel der Umstände, um die notwendigen Habseligkeiten und elementaren Gebrauchsgegenstände zu befördern, die nötig sind, damit ein verantwortungstragender Angestellter oder eigenständiger Unternehmer einen gewöhnlichen Arbeitsalltag richtig gestalten und bewältigen kann.

Kein Gepäck führt er mit, ausser die ihm verbleibende Neugier, die sich auf das Tor hin zentriert. Diese wiegt nicht ausnehmend viel, verglichen mit den Ballast, den ein Auswanderer, ein Abwanderer, der sich für immer für einen Abschied von der ihm bisher heimischen Umgebung entscheidet, mit sich führt. Ohne Heimkehr. Wieviel Gepäck führt eine Person mit, die, freiwillig oder aufgrund von Unwägbarkeiten wählt, befindet, die Fremde aufzusuchen? Er stellt verschiedene Überlegungen an, bemüht zu bestimmen, was Kraft und Last an und für sich bedeuten, wenn sich jemand auf die Reise begibt. Die Neugier zu klären, was Kraft heisst und bedeutet, verfügt ihn, mit seinen Gedanken vorwärts zu streben. Die Last der Kraft der Neugier hält ihn nicht nieder. Die Kraft hat ihn bis in dieses Lokal geführt. An ihr mangelt es, wie er beobachtet und für sich schliesst, nicht. Kraftreserven darf er nach wie vor und fürderhin sein Eigen nennen und für sich verwenden. Das Lokal ist seine letzte Stätte nicht.

Demnach hätte sein Aufenthalt an dieser Stelle, die den Wert eines Zwischenhaltes aufweist, da er in seinem Leben weiterhin unterwegs ist, des Gepäcks bedurft, in welchem er all das verstaute, wessen er bedurfte. Eine Gepäckablage hätte das ihre getan, um für die Dauer der an diesem Ort eingelegten Pause seinem mitgeführten Hab und Gut als temporärer Stauraum zu dienen. Doch Gegenständliches, ausser des Allernotwendigen, das er in den Kleidern verstauen kann, trägt er nicht mit. Keine Zahnbürste, Ersatzwäsche und keinen Kamm. Das heisst nicht, dass er keine persönlichen Effekte, welche die neugierige Öffentlichkeit nicht einzusehen braucht, auf sich hat, etwa einen Schlüsselbund oder ein Taschentuch, um die Stirn abzutupfen. Um diese wenigen Gegenstände zu verstauen, bedarf es auch keines Gepäckstücks, das ihn begleitet. Ein grösseres Musikinstrument, ein sperriges, das für den Transport im öffentlichen Verkehr noch zugelassen ist, oder ein Tier befördert er nicht. Auch sind die Objekte, die er mitführt, nicht von der Sorte, die es nötig macht, sie vor den Augen der Anderen in einem Sack oder Pack oder plastinenen Rollkoffer zu verstecken. Es erweckt auch nicht den Anschein, als habe er einen Koffer in der Nähe stehen, der ihn als Reisenden auswiest; als jemanden, der, unterwegs von einem Stück Leben in ein anderes ist und im Lokal eine Verschnaufpause einlegt, um später weiter zu gehen. Nichts hat er bei sich, dass ihm an anderem Ort ermöglichte, eine relativ annehmliche oder sogar angenehme Lebensform zu pflegen.

Über einen Bahnhofplatz schleppen Menschen zuweilen merkwürdige Transporthilfen, die den reisenden Trägerinnen und Trägern gehörig in die Schultern gehen und den Rücken krumm biegen, als würden diese Personen bereits durch das Alter niedergedrückt, wie sie auf den Bahnhofeingang zu streben. Er ist wieder bei seinem Thema, seinem Interesse. Der Platz, der vor ihm liegt, wirft ihn auf seine gegenüber der Frau nicht geäusserten Gedanken zurück, von denen er nicht weiss, ob sie einer dumpfen, tiefen Ahnung entspringen oder eines anderen Ursprungs bezichtigt werden müssen. Die Begegnung der Frau hat ihn aus der Bahn – mehr noch: der Sicherheit, auf das Tor hin unterwegs zu sein, geworfen. Wie aus einem zuverlässigen und vertrauenswürdigen Geborgenheitsstollen.

«Lässt du mich an deinem Bildungseigentum teilhaben», fragt sie nun. «Teilen fördert das Wissen. Das ist eine tradierte Binsenweisheit, gedrechselt und gedreht aus Weiden, die seit den alten Zeiten die Gewässer säumen und mit ihren geschmeidigen Ästen den Menschen durchaus dienstbar sind. Mit ihren tief hinab hängenden Ästen nehmen sie Kontakt mit den Menschen auf, streichen ihnen über das Gesicht und führen sie im Schutz ihrer natürlichen, mit Zweigen und Blättern geschmückten Girlanden zusammen, die sie von ihren Kronen auf den Boden senken. Sie liefern das Material für allerlei Körbe. In diesen hat es viel Platz. Die kunstvoll geschaffenen Geflechte sind nicht eitel, nicht wählerisch, wenn sie sich zur Verfügung stellen, um die Inhalte aufzunehmen, die ihnen bestimmt sind. Also, mein Freund, mache dir auch das Schilf zum Vorbild. Es versteift sein Rohr nicht, wenn es das Gespräch mit dem Wind aufnimmt. Es biegt interessiert den Rücken zur Gesprächspartnerin hin. Tu das Gleiche, säume nicht, füll den Korb. Gib keinen Korb jenen, die einen solchen für dich bereit stellen.»

Da er nichts entgegnet, bemerkt sie: «Du scheinst stolz zu sein. Beuge deine Gedanken, damit sie elastisch werden und empfänglich für eine kluge Diskussion über die Schwierigkeiten, die dich schütteln. Du sitzt unbeweglich vor dem Tisch, aber vieles bewegt sich in deinem Inneren. Du riechst ganz danach.»

Nun bemüht er sich zu einer Antwort: «Ich rieche nichts. Es sind sowieso zu viele Gerüche auf dem Platz vorhanden. Sie lassen sich nicht auseinander halten und bilden einen festen Brei, der keinen Duft entweichen lässt.»

Noch vor wenigen Augenblicken beanspruchte er für sich gedanklich, dass keine Duftemission von draussen an ihn heran kommt. Die Fenster sieht er als feste, durchsichtige Wand, die Schein durchlässt, aber keinen Odem, der ihm von draussen ans Leben gehen kann. Sein Magen hüpft und schaudert.

Sie lässt ihm keinen Raum für langwierige Fenstererörterungen und bemerkt: «Ich wusste, dass du reden kannst.»

«Nicht einmal den Geruch einer Gruft nimmt man hier wahr.»

«Mit dir ist es tief hinab gegangen.»

«Zahllose Leute betreten den Bahnhof. Ich beobachte sie seit langem. Ich weiss nicht, ob sie wieder zurückkommen. Viele kommen nicht zurück. Wohin sind sie gegangen?»

Tiefmütig, den Blick auf den Bahnhofplatz als ein Reich gerichtet, aus dem es kein Zurückkommen gibt, das allem Ende den Anfang setzt, gebannt von der Furcht jener, die überzeugt sind, auf ihrem Weg zum letzten Gang der Ausweglosigkeit endgültig und unwiderruflich aufgeliefert zu sein wie ein ausgedienter Stier, der dem metzgenden Scharfrichter zugeführt wird, sich jedoch seines Schicksals nicht gegenwärtig ist, ganz anders der Mensch, der sein Ende ahnt, sitzt er, in sich gegangen wieder, schweigend, unweit der Frau.

«Bei dir ist wirklich aller Tage Abend», moniert sie sein Schweigen. Um gleich nachzuhaken: «Wo hat dich die Tarantel gestochen?» Im Gleichschritt geht ihr Reden weiter: «Ich habe beobachtet, dass du ein Lokal vorgerückt bist.» Sie walzt über seine anhaltende Stummheit hinweg. «Dein Sitzen dort entsprach der Position deines Gesässes hier.» Sie hält das Tempo bei. «Dein Herz sitzt nicht am rechten Fleck.» Ihrem Intervenieren setzt sie kein Ende. «Es ist in die Hosen gerutscht.» Ungestüm fügt sie an: «Mit dir soll es aufwärts gehen.» Er sackt ein. Sie stelzt weiter. «Ich gebe dir ein Ziel. Ich komme mit. Von der Höhe aus hast du den besseren Überblick. Ich schlage dir einen Aufstieg vor.»

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Ein Kommentar zu “Josephine Belladanza

  1. Es ist bemerkenswert, wie unsichtbare Barrieren zwischen Menschen entstehen können, auch wenn äusserlich keine Zeichen einer Bindung sichtbar sind, wie etwas Eheringe. Manchmal reicht allein die Anwesenheit einer Person aus, um Unbehagen auszulösen, weil sie eigene Vorstellung von Sicherheit oder Lebensplanung in Frage stellt.

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