Carnac – Die Landschaft

er in der Bretagne vom Flüsschen „Le Jaudy“ durch den wunderschönen, pittoresken Ort Tréguier mit seinen zum Teil steilen, mittelalterlichen Gassen und der imposanten Kathedrale auf der Strasse hinauf zur Hochebene der Côtes d’armor steigt und weiter in Richtung des romantischen Badeortes Locquirec fährt, wird auf der D786 kurz nach Kerjean Huellan und noch bevor er vom Hochplateau nach Saint-Michel-en-Grève und somit zum Meeresufer hinab fährt, in einer Wiese zu seiner Rechten einen grossen Menhir entdecken. Dieser dürfte sich fünf Meter in die Höhe recken. Viele sehen ihn wegen der schnellen Fahrt gar nicht. Der auf diesem schnellen Streckenabschnitt hohen Geschwindigkeit wegen geht der weit hinauf ragende Zeuge der Urgeschichte am eiligen Zeitgenossen von heute wie ein Blitz vorbei.

Wer arbeitet, würdigt das Ungetüm aus Stein keines Blickes.

Die Fahrer der vorbeieilenden Fahrzeuge, Beifahrer und Mitfahrer, sofern sie den künstlich hoch aufgerichteten Felsbrocken überhaupt wahrnehmen, werfen nur einen kurzen Blick auf das urtümliche Gebilde. Wer die Strasse als Arbeitsweg benutzt, wird das steinerne Ungetüm aus der Urzeit wohl keines Blickes würdigen, denn man ist sich seines Anblicks gewohnt. Mit einem kurzen Blick stellt der einheimische Fahrer, wenn er wieder einmal diese Überlandstrasse benützt, lediglich ab und zu fest, wie um sich zu vergewissern: Da steht er noch.

Jene, die nicht um den Menhir wissen und von seinem Auftauchen überrascht werden, also die Touristen, denken wohl: Meine Güte, der sieht ja steinalt aus. Er stellt mit seinem Alter und der Ruhe, die er ausstrahlt, einen klaren Gegensatz zu unserem schnellen Auto, unserer schnelllebigen Zeit dar. Und auf einmal geht es dem betrachtenden Sinnenden deutlich vor den Augen auf, dass er unbewusst soeben in das Land der prähistorischen Wunder und Rätsel eingefahren oder, wenn er bewusst mit megalithischem Wissensdurst ins Finistère reiste, dort nun angekommen ist.

Der Mensch am Anfang der Zeit @ Georges Scherrer

Der derart in die menschheitsgeschichtliche Vorzeit zurück versetze Tourist wird über die Grösse des Menhirs an der D786 staunen und sich fragen: Was bedeutet der Stein?

Selbstverständlich weist er steil gen Himmel. Das wird etliche Leute von heute dazu ermuntern zu erklären: Dieser mächtige, steinerne Zeigefinger, der gemäss Forschungen der Prähistoriker bald 6000 Jahre in diesem Feld steht, symbolisiert den Schöpfer, der das Universum schuf. Quasi als Mahnmal Gottes, dessen warnender Finger den Menschen zu Demut und Gehorsam anhält. Der Stein demnach den Mittelpunkt einer religiösen Stätte bildete.

Ist der Schöpfer älter als das Universum?

Böse Zungen werden natürlich einwenden, das Universum sei älter als der Schöpfer, für den der Stein steht. Der Stein stehe also nicht als Mahnfinger Gottes in diesem Feld an der D786, sondern als Symbol für das Universum.

Steht der Stein als Zeichen für Rebellion?

Weitere Beobachter stellen zwischen dem Menhir und dem Universum eine andere Verbindung her. Aus ihrer Sicht weist der Stein auf die Sterne, die Sonne, den Mond oder die Planeten hin. Er diente dazu, irgendetwas zu messen, etwa die Grösse der Erde. Eratosthenes errechnete bekanntlich vor über zweitausend Jahren den Umfang unseres Planeten mit zwei senkrecht stehenden Stangen und viel Grütze im Kopf ziemlich genau.

Schuttsteine als Schutz @ Georges Scherrer

Möglicherweise wurde der Stein aber benützt, um präzise Informationen über die Jahreszeiten zu gewinnen, etwa über die Winter- oder Sommersonnenwende. Sein Schattenwurf kündigte an, wann die Tage im Jahresablauf wieder kürzer, wann sie wieder länger werden – kündigte also den Frühling an, noch lange bevor dieser in der von Wind und Wetter eisenhart heimgesuchten Gegend am nordwestlichen Rand Europas feierlich und bunt Einzug hielt. Denn der Winter ist ein zäher Bursche, der sich über etliche Zeit hinweg und mit ebenso vielen wütigen Stürmen und beissender Kälte seiner Vertreibung zu erwehren vermag.

Der Menhir von Lannion diente als Leuchtturm.

Wieder andere Interpreten vorgeschichtlicher Epochen zeigen sich überzeugt, dass der Menhir an der Bucht von Lannion beim heutigen Fischerort Saint-Michel-en-Grève in der Steinzeit den Steuerleuten von Booten auf dem Meer als Orientierungshilfe diente. An diesem schroffen, markanten Stein konnten die Seefahrer von damals ablesen, auf welcher Höhe der Küste sie sich befanden. Die Spötter, die das behaupten, haben jedoch nie überprüft, ob dieser Menhir auf der Hochebene vom Meer aus überhaupt eingesehen werden kann, geschweige denn von den Wasserläufen in den Tälern, die das Hochland umgeben.

Die Theorie der Spötter über diesen prähistorischen Leuchtturm, der tagsüber gesehen wurde, nachts aber, weil er über kein Licht verfügte, seinen Dienst nicht wahrnehmen konnte, findet darum keine Anhänger. Da nützt auch der Einschub nichts: An der Spitze des Steins hätte nachts Reisig gebrannt, am Tag sei mit Rauch auf ihn hingewiesen worden. Die rüden Stürme, welche die Gegend regelmässig heimsuchen, strafen solchen Vorschlag widerspruchslos ab.

Das Haus @ Georges Scherrer

Vielleicht diente der Menhir aber doch als Wegweiser. Die Frage ist: Wofür und wohin?

Eine andere Theorie setzt den Menhir von Saint-Michel-en-Grève in einen politischen Zusammenhang. Er, MHTOU1, wie die amtliche Ordnungszahl des prähistorischen Monuments lautet, diente damals den Menschen, welche die Gegend am Meeresrand bewohnten und von denen heute kaum weitere Spuren vorhanden sind, als politischer Versammlungsort, wo Recht gesprochen und Entscheide gefällt wurden, welche das Zusammenleben und den Zusammenhalt der Gemeinschaft betrafen. Der Menhir de Toul an Lann, so sein heutiger Name, nahm also die Aufgabe wahr, der zu einem viel späteren Zeitpunkt die Eiche bei den Germanen und anderen Völkern diente.

Ein Feind zögerte zwei Mal.

Noch eine weitere Hypothese wird von verschiedenen Wissenschaftlern vorgebracht, welche die Prähistorie erforschen. Die Menhire und somit auch derjenige von Saint-Michel-en-Grève zeugten vom Organisationstalent und somit der Macht, über welche diese frühen menschlichen Gemeinschaften verfügten, wenn es ihnen gelang, einen derartigen steinernen Brocken aufzurichten. Dies nach dem Prinzip: Je grösser der Stein, desto kräftiger die Gemeinschaft, die den Stein verantwortete. Ein Feind, griff er die Sippe an, konnte sich zu allererst einmal mit eigenen Augen davon überzeugen, wem er gegenüberstand. Der Angreifer überlegte sich zwei Mal, ob es angetan sei, an diesem Ort aktiv zu werden und sein Glück zu versuchen. Angesichts des künstlich versetzten und klar aufgerichteten Steins wandte er sich möglicherweise ab. Der Menhir erfüllte auf diese Weise eine Schutzfunktion, die nicht die Götter, aber menschliche Eindringlinge abwehrte.

Könnte sein.

Diese Interpretationen entbehren alle einer gesicherten und somit festen Grundlage, eines erklärenden Schriftbeweises aus der Urzeit und erweisen sich darum nicht wertvoller als jene der Spötter, die den Stein blind zum Leuchtturm erheben.

Die Wärme @ Georges Scherrer

Damals entstanden Tumuli, also künstliche Erdhügel. Auch Cromlechs, das sind Steinkreise. Ferner Dolmen und Menhire. Zudem Cairns, wie die gemauerten Steinhügel heute heissen. All diese Bauwerke fanden ohne Namen in unsere Zeit. Bereits in dieser namenlos-mythologischen Epoche fragte sich der Mensch wohl, woher das Leben, das Bewusstsein kommt, wohin er selber mit dem Tod geht?

Der Mensch erfand immer raffiniertere Erklärungsmuster.

Diese Fragen sind nach wie vor nicht beantwortet, auch wenn der Mensch im Lauf seiner Geschichte immer raffiniertere Erklärungsmuster aufbaute, um sein Sein zu begründen. Manche Erklärungsschablonen kommen auch recht plump daher und verbleiben auf sehr niederem Niveau, indem sie ihre Argumentationskraft auf Gut und Böse beschränken. Mit der Antwort auf die immer wiederkehrenden Fragen der Menschheit geht es einfach nicht vorwärts.

Cairn in Carnac @ Georges Scherrer

Damals, in der Prähistorie, verfügte der Mensch nicht über den Erfahrungsschatz im Angehen von denkerischen Problemen, die sich der Mensch im Lauf seines Werdens angeeignet hat, um Antworten auf seine verschiedenen Fragen zu finden. Bei der Suche nach Deutungen des Wohers und des Wohins schuf der Mensch mit seinem Denken, selber Schöpfer geworden, gewissenhaft und oft auch weniger gewissenhafte Interpretationsanläufe, um dem Antwort zu geben, was seinen Ursprung betrifft. Die Überlegungen führen zuweilen zu neuen Fragen, so etwa dieser: Was war zuerst – der Schöpfer oder das Universum?

Das Meer

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