Mit einem Ziegelstein bin ich nach Dachau gereist. Als ob es dort nicht schon genug Ziegelsteine gäbe. Das Krematorium besteht aus solchen. Als Mahnmal für eine absolut menschenverachtende Gesellschaft steht der Ofen nach wie vor da. Er ist rot. Mein Ziegelstein hatte als Inhalt nicht gebrannte Erde, sondern Papier und viel Text über Blut und Erde, die von Tränen getränkt ist. Ich trug ein total trauriges Buch an die Stätte des Grauens. Nein, bei dem Buch handelte sich nicht um Krieg und Frieden von Leonid Tolstoi, sondern um einen anderen dicken Schmöker. Der Autor soll einmal gesagt haben: Der zweite Weltkrieg endete für Russland nicht mit dem Tod Hitlers, sondern mit jenem Stalins. Das Buch, das aus der Sowjetunion stammt, trägt den Titel: Leben und Schicksal. Verfasst hat es Wassili Grossman. Beiden genannten Werken ist gemeinsam, dass sie in epischer Weise Katastrophen aufarbeiten, von denen Russland heimgesucht wurde und die Krieg heissen.

Wer nun meint, er müsse mit schwachen Nerven durch die Welt eilen und darum seine Augen vor all den Entsetzlichkeiten, die der Mensch begeht, verschliessen, der lese diesen Text nicht weiter. Grossmanns Erzählung ist ein Schock. Ich dachte, die Zeiten, die er aufarbeitete, sind vorbei. Endgültig! Bei weitem nicht. In gewissen Sätzen können die erwähnte Namen damaliger Henker und Politiker einfach durch aktuelle Namen ersetzt werden. Und schon ist Grossmann Leben und Schicksal absolut zeitgemäss. Aus diesem Grund habe ich auf eine Trigger-Warnung zu Beginn dieses kleinen Beitrags zur Serie Endlektüren verzichtet.

Denn der Mensch von heute darf sich nicht mir Scheuklappen ausstatten und daraufhin meinen: In dieser Welt ist alles in Ordnung. Bei weitem nicht. Wer sich ob der von Grossman geschilderten Grausamkeiten entrüstet, diesem Wahnsinn, den er aufgeschrieben hat, damit sie dem ehrenwerten, selbstgefälligen Publikum bekannt werden und dieses in seiner Zufriedenheit aufrüttelt, verschliesst die Augen vor der heutigen Wirklichkeit und den Verbrechen, die Amnesty International nach wie vor jedes Jahr in seinen Berichten dokumentiert. Dem Menschen ist nach wie vor viel zuzutrauen.

Rossmans Leben und Schicksal kann ich nicht in Russland fertig lesen. Sein Buch ist grausam aktuell. Das russische Reich wird wiederum von einem Tyrannen heimgesucht, der die eigenen Landleute dem Krieg opfert und was überlebt, Sibirien zuführt oder von Balkonen stürzt. Schlimmer noch. Wie andere Täter auch wirft der aktuelle Herrscher in Analogie zur Fabel der Gotenkönigin Tamora und dem Schicksal ihrer Kindern die Söhne des eigenen Landes den Waffen und somit dem Tod hin, der er selber herbei gerufen hat. Welche Gelüste treiben Herrscher zu solchen Taten an?

Rossmans Manuskript hat selber eine sibirische Geschichte. Jahrzehntelang lag es in der Verbannung. Der Staat wollte es totschweigen. Wie ein eigenes Verbrechen. Trotzdem wussten genug Leute von ihm. Schliesslich wurde eine Kopie des Werks mit Hilfe mutiger Menschen aus dem Land geschmuggelt.

Der Inhalt ist von ausserordentlich trister Gestalt. Weil die Reise nach Russland aktuell nicht möglich ist, erweist sich das KZ Dachau als geeigneter Ort, um Grossmans Buch fertig zu lesen. Die Kahlheit der Stätte öffnet den Blick weit über den Stacheldraht und die Wachtürme hinaus, die nach wie vor das Gelände umgeben. Nichts hat sich seit damals in der heutigen Welt geändert. Auch heute sterben aufgrund manischen Handelns gewisser Präsidenten und Staatschefs Menschen elendig an Hunger, Krankheiten, die im Grunde getilgt werden können, und an den Folgen von Kriegen. Das Grauen an den Fronten wird beschönigend Politik genannt. Wir sind nicht besser als jene von gestern, von damals, all jenen, die sich in schweigender Mehrheit der stillen Verschwiegenheit hingaben.

Ich hätte gerne gewollt, dass ich das Buch zu Ende lesen kann. Und dass somit Schluss ist mit dieser Geschichte. Aber die Aktualität holt die schrecklichen Inhalte immer wieder aus der Vergangenheit zurück und tischt sie unverfroren den Menschen auf. Ein Grossteil der Menschheit lebt, wie der aktuelle Zeitgenosse Franz-Stefan Gady sagte, in parasitärem Pazifismus, während einzelne politische Gestalten diese Welt auf den Kopf stellen. Oder gemäss dem selbstlos frommen Wunsch der Gutmenschen anders ausgedrückt: Lieber Sankt Florian, verschone mein Haus, zünd lieber andere an.

Ich habe das Buch letzthin nach München mitgenommen. Ich begab mich ins KZ Dachau. Im kleinen Park hinter dem fürchterlichen Krematorium, dort, wo auch die Asche von Tausenden von erschossenen Menschen in der Erde liegt, habe ich das Buch fertig gelesen und an die Abertausenden von Menschen gedacht, die heute das Opfer menschenverachtender Politiker bilden, sei es, dass sie durch Waffen umkommen, sei es, dass sie verhungern. Russischen Gefangenen, die in die Verbannung nach Sibirien mussten, steckten Freunde als Hoffnungszeichen und Zeichen des Lebens ein Getreidekorn in den Hosensack. Dieses sollte als neue Äre spriessen, wenn dann der toten Körper in der Erde Sibiriens verscharrt worden war. Das Dachauer Krematorium befindet sich in einem Wald. Grossmans Buch endet auch in einem Wald. Ist das alles, was vom Menschen bleibt: Bäume – und der Blick durch die Bäume auf die Hoffnung, dass es ein Morgen gibt?
