Verbrecherjagd im Geschwindigkeitstourismus

Als Einstieg in das Bild, wie die Stadt Brügge sein könnte, eignet sich das Buch ‚Die Vierte Form Satans‘. Der Beginn des Kriminalromans von Pieter Aspe ähnelt meiner Ankunft in der belgischen Stadt. Totale Unübersichtlichkeit erwartet den Leser wie den Besucher. Weil mich der bestellte Krimi erst kurz vor dem Start zur Reise erreichte, beschloss ich, für die Serie Endlektüren nicht den letzten Satz zu lesen, sondern bei meiner Ankunft in Brügge den ersten.

Der erste Satz lautet: ‘Sie waren zu zehnt im Raum: fünf auf einer Seite, fünf auf der anderen. Zwischen ihnen führte ein Weg hindurch.’ Zahlreiche Wege führen durch Brügge. Lebensgefährlich ist es, als Figur in einem Kriminalroman zu hausen. Ebenso gefährlich ist es für Touristen, wenn sie im belgischen Tourismuskultort eine Strasse überqueren. Kohorten von Kutschen stehen bereit, um für gutes Geld das für ein oder zwei Tage angereiste Volk durch den Ort zu tragen. Wer eine solche Kalesche bucht, wird im Eiltempo durch die Stadt befördert. Die Pferde eilen im Trab auf die Touristenströme zu und bahnen sich auf diese Weise einen Weg durch die dichten Menschenmassen, welche der historischen Stätte aufwarten und sich beim Nahen der schnellen Kutsche eiligst teilen.

Wie im Krimi ‚Die Vierte Form Satans‘ Kommissar Van In etliche Male seinen Kopf riskiert, um verschiedene Verbrechen aufzuklären, so musste ich mich weiss ich wie viele Male, um mein Leben zu retten, vor den tödlichen Hufen der Kutschenpferde in Sicherheit bringen. Es ist auch mir vollkommen klar, dass in einen Krimi die Story auf Trab gehalten werden muss, sonst schlafe ich als Leser ein. Darum ist für mich ersichtlich, dass in Pieter Aspes Stadt die Pferde vorwärts machen müssen; nicht aber, um die Spannung aufrecht zu erhalten, sondern um dem Motto gerecht zu werden: Zeit ist Geld. Und auch, um die irre Nachfrage nach Kutschenfahrten zu bewältigen. Overtourismus lautet das Schlagwort, das auf in die Stadt einschlägt. Will heissen: Die Leute stehen für den Kutschenritt Schlange. Dieses Ungetüm windet sich durch alle Strassen und Gassen des Zentrums. Kein Wunder also, dass Kommissar Van In bei so viel Menschenpräsenz im Mordfall, den Pieter Aspe in seinem Buch auslegt, mit seinen Nachforschungen kaum vorwärts kommt und dreihundert Seiten benötigt, um sich durch alle Facetten menschlicher Boshaftigkeit hindurch zu schreiben.

Aspes Krimis lesen sich im Schnellzugtempo, den Brügges Pferde hinlegen. Das Ambiente, das der Autor in seinen Büchern kreiert und beschreibt, machen eine Reise nach Brügge durchaus wert. Mit seinem Lob auf die Stadt steigert der begnadete Schreiber die Gier des Overtourismus nach der Beute. Dieser findet seine ausgeprägteste Form in jenen Pöbelrestaurants, welche sich an Plätzen von grosser touristischer Bedeutung und entsprechender Nachfrage situieren. Die zeitaffine Massenabfertigung der Gäste durch gestresste Kellnerinnen und Kellner in den Gasthöfen und auf den Terrassen, die der schamlosen Geldmehrung dienen, schliesst jede Form vernünftiger Gastfreundschaft aus. Im Doppelpack fördern Gewinnmaximierung und Effizienzoptimierung deren Degenerierung. Die Effizienz entspricht der Schnelligkeit und Nonchalance, welche die Pferdekutschen auf den mit kruden Pflastersteinen ausstaffierten Strassen an den Tag legen.

Ich eile im Brügger Pferdetrab über die Seiten hinweg und folge Kommissar Van In dicht auf den Versen in seiner Jagd nach Verbrechern. In seiner Hatz wälzt er die Nomenklatura des Ortes durch den Kot von Politik und Kriminalität. Ich achte darauf, dass ich mich im Denksystem, das der Autor zur Aufklärung der Schandtaten über die Buchblätter legt, nicht verliere. Zwecks Klärung meiner Gedanken habe ich mich weg von den durch die Fremdenführer propagierten Stätten der Geldmaschinerie Brügge in Seitenstrassen geflüchtet, in welchen der Kloakenstrom des Dominanztourismus als Massenausstoss nicht gespült wird. In den Wegen abseits des Zentrums bestimmt nicht der Kommerz den Puls des Herzens. Dort habe ich mich in ein Café gesetzt. Fernab der stark frequentierten Ess- und Trinkbatterien an den Urlaubs-Hotspots vertiefe ich mich in einer gemütlichen Umgebung in Aspes Werk und lese, ungestört von Hatz und systematischer Hektik, den Roman weiter.

Endlektüren Texte

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