Pendler zwischen Seine und Pernod

Eiseskälte kommt vom Wasser herauf, vom Himmel keine Wärme. Der Kanalwand in meinem Rücken mangelt es an aufmunternder Wirkung. Ischias und Rheuma geben sich die Hand. Es ist Winter. Oben auf der Strasse rauscht der Verkehr vorbei. Hier unten kann ich mir so viele Zeitungen und Decken um den Leib wickeln, wie ich will: Behaglich wird es an diesem Ort nicht. Ich sage mir: Es ist die richtige Stelle, um Roths Geschichte über Andreas fertig zu lesen – wobei ich die Lektüre eigentlich in der Totenkapelle Sainte Marie des Batignolles beenden sollte, wo Andreas den Tribut mit seinem Leben zollte, den er Therese schuldete.

Die Strassen der Stadt bieten den Raum für eine ganz besondere Liebesgeschichte. Sie startet am Kanal, in welchen die Seine gelegt ist, geht hinauf auf die Ebene öffentlicher Plätze, findet in den Bauch der Kneipen. Der Pernod fliesst schnell. Der Geldbeutel, sofern Geld vorhanden, sitzt locker. Man erkennt’s: Es handelt sich um Paris und die Seine, wo die Armut sich auf der Strasse offenbart und ein Stelldichein mit dem Reichtum liefert. In dieser Stadt wird die Armut nicht mit Ruten geschlagen, sondern gepflegt, weil sie zum Stadtbild gehört.

Ein solcher, der auf seine Art das Stadtbild mitprägt, ist Andreas. Seine Bleibe bilden die Ränder der Kanäle, sein Waschbecken der vorbei fliessende Fluss. Manchmal steigt er hinauf zur Stadt, die drei Meter über seiner Hause in grosser Nervosität pulsiert. Sein Aufstieg ist die Treppe, die zur Brücke führt, welche die beiden Ufer des Flusses verbindet: das Reich der Armen und die Stätten der Reichen. Andreas zieht es in die Cafés zu den billigen Spirituosen. Er trinkt sich mit der Stetigkeit, mit der die Seine durch die Stadt fliesst, durch den Tag. Das Weinen verbindet sich mit dem reichlich genossenen Pernod.

Den Frauen, die sein Leben kreuzen, weint er nicht nach. Sie kommen und gehen wie das Glas, das sich füllt und lehrt. Andreas weiss, dass er zurück gehen wird an die Stelle, wo sein Nachtlager ist und ich Joseph Roths Werk Die Legende vom heiligen Trinker, begleitet von tausend Tönen unterschiedlicher Intensität, zu Ende las. Dort beim Baum am Quai. Einige klamme Zeitungen liegen am Boden.

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