Friedrich Nietzsche: Endlektüre ohne Ende

Der ewig alles Hinterfragende Friedrich Nietzsche stieg den Weg nach Èze hinauf. Sobald er alles hinterfragt hatte, konnte er lachen. Das Lachen schlug vom bizarren Felsen der mächtigen, steil aufsteigenden Corniche, die ihn umgab, zurück. Er stürzte tief auf seinem Weg hinab, weil er nicht wusste, worüber er in seiner Umwertung aller Werte lachte und zudem auch nicht erkannte und wusste, was von seinen Gedanken, später oder sogar zur Zeit seines Lebens, selber hinterfragt werden würde. Gleichzeitig wusste er, dass er selber die eigene Philosophie hinterfragt musste, wollte er glaubhaft sein. Und tat er das nicht, stürzte ihn die eigene Philosophie des Hinterfragens den Wanderweg tief hinab zum unten liegenden Gestade am Mittelmeer. Dann konnte er seine Kraxelei den Berg hinan wieder in Angriff nehmen und gucken, welche Werte und Zwerge ihm diesmal über den Weg liefen und einen neuen Sturz aus seinem himmelblauen Geist provozierten.

Es ist kein Wunder, dass dieser Weg hinauf nach Èze mit all seinen Wendungen und Kehren Einfluss auf den Wanderer übte, der schliesslich, immer wieder seinen Berg hinaufsteigend, zur ewigen Wiederkehr fand. Der Weg hinauf mit seinen zahlreichen Spitzen wird den hektischen Denker zu diesem Gedanken ermutigt haben. In der festen Burg seiner Gedanken musste der kompakte, steinerne, bizarre und wunderschöne Ort zwischen Himmel und Meer mit all seinen Winkelgassen und kleinen Kehrungen geradezu eine wahre Schöpfquelle für seine Gedankenwelt gewesen sein, der mit seinem Buch über die Namensgebung für den Protagonisten den Stifter der Religion der Parsen, Zoroaster, ehrte.

Wenige Geraden führt der Weg, der nach dem Philosophen benannt wurde. Keineswegs überraschend ist, dass der Autor, geläutert bezüglich der Geraden, die nach Èze hinaufführen, in seinem Zarathustra schrieb: Alle Geraden lügen. Denn jeder folgt eine Kehre. Auch schrieb er in diesem Werk, im dritten Teil, den er in dieser Umgebung schuf, vom Ring der Wiederkunft. Der Weg nach Èze hat viele Kehren, die das Wieder als Erkenntnis bei jeder Kehre vor Augen führen. Der Blick zum Meer, zur Höhe, zur Tiefe, zu den Felsen, zum Weg, der auf und hinab führt, wiederholt sich. Eins mit Nietzsche denkt der Wanderer: Jede Gerade wird unterbrochen. Ein Ende gibt es nicht – wie im Fall von Goethes Faust. Geht man mit Nietzsche einig, so liest sich sein wunderbarer Zarathustra nicht fertig, weil er gemäss der Lehre des Meisters immer erneut hinterfragt werden muss.

Beim Nietzscheweg kommt man zu einem Ende, bei Nietzsche nicht. Der Zarathustra enthält keine Logik-Sätze, wie sie Emanuel Kant in seine Bücher gesetzt hat. Eigentlich beinhaltet die hier präsentierte kleine Literatur-Serie mit dem Titel Endlektüren, dass das Buch vor Ort zu Ende gelesen werden muss. Beim Zarathustra mache ich wie beim Faust eine Ausnahme. Zwar habe ich in Èze, auf einem Felsen im Kakteen-Wundergarten sitzend, den letzten Satz über die Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt, gelesen. Aber: Legt man das Buch weg, so nimmt man es immer wieder in die Hände und blättert neugierig durch die Seiten nach dem Prinzip: Die Endlektüre ist ohne Ende.

Endlektüren Texte

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