Ein Lichtwerk

Mit einem Gespenst, das Cecile heisst, wandle ich durch die Strassen Nizzas, durch die Rue des Ponchettes, wo er damals auch wohnte, und gehe entlang der Promenade des Anglais, setze einen Fuss vor den andern, die Frau, wie es im Buch Winter in Nizza heisst, am Arm haltend, damals, als sie Friedrich Nietzsche führte und darauf achtete, dass er nicht von der Strandpromenade – aus heutiger Sicht betrachtet – drei Meter tief hinab auf den Strand aus Steinen stürzte. Diese Cecile begleitet als Geist den exquisiten Philosophen und Eigenbrötler durch die Strassen der Stadt, steht ihm bei Bekanntschaften bei, die er macht, und schaut nach ihm, wenn er durch seine physiognomischen und tiefenpsychologischen Höhen und Tiefen geschüttelt wird, in welche ihn die Stadt, das Meer, das Licht, die Landschaft und sein geistiger Zustand versetzten.

Nietzsches Lichtgestalt in Nizza, deren Tagebücher selbstverständlich zur vertiefenden und weiterführenden Lektüre über die Abenteuer des Deutschen in der französischen Metropole am Mittelmeer zu empfehlen sind, formt eine kostbare Flamme im Buch, das Christian Schärf über den Philosophen verfasst hat und das er, reich mit Quellenmaterial versehen, zu einem anschaulichen Gemälde über den berühmten Denker gestaltete. Cecile geistert durch Schärfs Werk wie die Gedankenblitze durch die Bücher Nietzsches und sorgen für ein fulminantes Feuerwerk, das zu betrachten sich lohnt.

Die Lektüre des Buches enthüllt ein Bild des legendären und legendenumwobenen Philosophen, in welchem sowohl die heiteren wie auch die trüben Tage, gezeichnet von Hexenschuss und Geistesblitz, ausgeleuchtet sind. Nur mit dieser Cecile will es nicht stimmen. Wie kann diese umtriebige Frau an der Biographie des Buchnarren und unruhigen Weltenbummlers festgemacht werden? Die junge Dame verpasst jedenfalls der Erzählung einen charmanten Drall, möglicherweise jenen geheimnisvollen Drall, der den unruhigen Nordländer immer wieder nach Nizza zog.

Wer die Wahrheit wüsste! So gesehen ist Schärfs Buch ein verführerisches Schelmenstück, das tiefgründig durch das Werk Nietzsches führt und dieses auf eine menschlich nahe Weise interpretiert. Durch die Strassen Nizzas wandelnd, an einem Platz haltend, am besten an der Place Garibali, unter den Arkaden, um den Winter in Nizza fertig zu lesen, erhält das lichte, nuancierte schwarz-weiss Denken des Lichtphilosophen Farben.

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