Weiches Wechselgespräch

Wohin will sie ihn befördern? Hinüber hinter das Tor? Hinauf auf eine andere Ebene? Völlig ungebeten mischt sie sich in seine Sache ein und rüttelt ihn mit ihrem Stakkato gehörig auf. Er ist durcheinander. Sie platziert sich zwischen ihm und dem Tor. Obwohl sie sich nicht von der Stelle bewegt, sich ihm nicht in Weg stellt, behindert sie seine Sicht auf den Eingang zum Bahnhof. Sie befindet sich nicht auf dem Vorplatz und dennoch füllt sie einen Teil der Fläche aus, so dass seine Sicht auf die Zukunft, so sein Eindruck, eine Einschränkung erfährt. Er fragt sich, ob sein geistiges Auge ihm eine Selbsttäuschung aufbürdet, deren Last er nicht beiseite zu schieben vermag; er überlegt, ob er die Frau an den übernächsten Tisch setzen soll oder sich selber noch einen Tisch weiter als den übernächsten, um sich dort niederlassend den Abstand zu ihr zu vergrössern.

Die untergehende Sonne zeigt ihm an, dass er sich nicht in einem geschlossenen Raum befindet, der, etwas weiter gefasst, aus Bahnhof, Pflaster und Gaststätte besteht. Die Fenster lassen Licht herein. Des sengenden Sterns sinkender Strahlenkranz senkt den Platz zunehmend in die abendliche Dämmerung hinab. Der voran und heran schleichende Schattenwurf der umliegenden Gebäude wird breiter und länger. Er erwischt sich bei der Überlegung, ob auch die niedergehende Sonne ihn in den Bereich von Halluzinationen befördert, so dass er der konkreten und sachlichen Wahrnehmung seiner Umgebung nicht mehr fähig ist.

Schlimmer droht es für seine ihn bereits gehörig strapazierende mentale Orientierungslosigkeit zu werden, wenn das geordnete Licht des Tages als ein völliges Durcheinander verschiedener Lichtquellen auf den Platz einfällt und dessen Konturen sich in unbestimmter Zusammensetzung mit anders ausgeleuchteten Strukturen zusammenfügen. Kommt erst der Mond und wirft sein mattes Licht über die Stadt, dann löscht er das Farbenspektrum, das tags dem Platz eine freudige, vitalisierende und präzise Ausstrahlung ermöglicht, völlig aus und verwandelt den Ort in ein nebelgraues, in Halblicht getauchtes Gebilde, welches der Vision sehr nahe rückt, die er sich vom finsternisbeherrschten, farblosen Totenreich macht, in welchem die Strassenlampen abgestellt sind und kein Scheinwerfer eines Fahrzeugs die Dunkelheit durchbricht. Der Bahnhofplatz durchwirkt seinen Geist in seiner ganzen Tristesse. Seiner Gedanken Aufbau wird immer hagerer. Ihm ist, als wären seine Vorstellungen bald nur noch fleischlose Knochen, an welchen die Kleider wie an einer Vogelscheuche als loses Halfter hängen, und als umfasse ein Lederband seinen Hals, das ihn gefangen nimmt und er, von unbekannter Hand gehalten, auf das Tor zugeführt wird. Der Mensch ist Sklave seiner Erde, wie Untertan er sich diese auch macht, wie stark er sie auch unterwirft. Nicht er führt den Planeten am Halseisen vor und hinter sich her und zwingt ihn in die Knie. Der Mensch ist es, der quengelt, raunzt und wehklagt, als liege er in Ketten und sei auf dem Bahnhofplatz der Zeit als Pranger ausgesetzt.

Niemand ist am Bahnhof an den Schandpfahl gebunden. Alle Menschen stecken im gleichen Topf. Sie streben auf den Ausgang zu, den er seit geraumer Zeit anpeilt. Die Frau Nachbarin ist interveniert. Will sie ihm andeuten, dass er sich zu stark auf das Tor fokussiert? Doch das Tor präsentiert sich ihm gegenüber als Realität, gelegen auf der anderen Seite der eindunkelnden Fläche. Des Tores arglistig ausgeübte und auf das Ende hin ausgerichtete Attraktion können weder er noch sie leugnen. Dessen ist er sich bewusst. Er stöhnt.

«Du quälst dich mit Gedanken. Ich weiss nicht, was für welche es sind», kommt es von nebenan. Und weiter heisst es: «Ich habe dir von einer Plattform gesprochen, die uns eine bessere Übersicht gewährt als dieser niedere Platz hier. Steig in das Geschäft ein, das dir nichts kostet. Droben werde ich mein Getränk selber bezahlen. Den Weg dorthin musst du selber gehen. Ich werde dich nicht tragen.»

Wovon spricht die Frau? Er sitzt zwischen ihr und dem Tor wie zwischen zwei Stühlen und vernimmt den Ruf beider. Seltsamerweise sieht er sich nicht dem Gefühl ausgesetzt, er werde von diesen beiden Polen hin und her gerissen, sei einem unziemlichen Seilziehen unvertrauter Geister und fremdeigennütziger Interessen Opfer geworden, die seine Gedanken einmal nach dieser Seite ziehen und dann wieder nach der anderen. In seine persönliche Erörterungen sticht das Bild des Hampelmanns schmerzend hinein, eines Gesellen, der seine Hände dorthin und hierhin verwirft und den Kopf nach allen Seiten schaukelt, wenn Fremde oder der Puppenmeister an den ihn zusammenhaltenden und leitenden Schnüren ziehen. Er bewahrt auf seinem Stuhl Fassung und neigt, irgendeiner Schnur nachgebend, die seine Gelenke lenkt, das Haupt nicht nach einer Richtung hin und auch nicht in die andere.

Die Frau hat von einer Erhöhung gesprochen, aus der ihm, wie aus einer transzendenten Sphäre, droben, eine Übersicht gewährt wird – wie er sich diese nur erhoffen kann, überlegt er. Wobei, Erhöhung, Weitsicht – entsprechen diese Zielvorgaben seinen Wünschen, seinem Wollen? Er zögert, den Gedanken weiterzuführen. Durchsicht auf das, was sich hinter dem Tor verbirgt, strebt er an. Diese Transparenz gewährt ihm keine der bisher gewonnenen Einsichten aus konkret Gegenständlichem, das ihm Antwort gibt. Die Frau ist bezüglich der Details wage geblieben.

Im Lokal gehen die Deckenlichter an. Er erkennt, dass sie ihre Fingernägel pflegt. Sie hat sie angemalt. Möglicherweise sogar emailliert. Lampenlicht fällt auf jene Hand, die auf der Tischplatte unweit des Getränks regungslos liegt. Rot sind die Nägel eingefärbt, karminrot, die Farbe der edlen Überheblichkeit jener Gestalten, die sich mitunter mit hinterhältigen Absichten in Fremder Angelegenheiten mischen. Jene Herr- und Frauschaften pflegen aufgrund der Position in der Rangordnung, welche ihnen von Gesellschaft oder Vereinigungen wie Parteien und Glaubenseinheiten verliehen wurde, anderen Menschen selbstherrlich Anordnungen wie Präservative überzustülpen. Er beschliesst, sich wieder ihrem Gesicht zuzuwenden, und fragt sich auf den Augenblick hin, ob sie ihm, wie er schaut, dem Tor gleich, ihre Zähne entgegenblecken werde, schwiege er sich weiterhin aus und liesse er ihre Fragen und Bemerkungen unbeantwortet. Was ist von der nagelgefärbten Frau zu erwarten? Führt sie einen Hund mit, der auf die Namen Cerberus oder Garm hört und im Verborgenen, um die Ecke, seiner wartet und verhindern soll, dass, einmal gegangen, er zurück ins Leben findet? Wes Natur ist das Wesen zu seiner Seite überhaupt? Stammt sie aus seinen Erinnerungen und damit verbundenen Lektüren von Büchern unterschiedlicher Kulturen, müsste also von ihm gekannt, erkannt werden? Ist sie letztlich eine der Mythologie entstiegene Metapher, Staude, Blume oder Kaktee, die sich seiner bemächtigt?

Er verliert sich erneut ins Sinnieren und windet sich – vielleicht auch auf dem Stuhl – innerlich, als hätte ihn ein Dorn gestochen oder der Reisszahn eines Caniden erwischt. Das ganze Wissen eines Lebens dringt in den Verstand und wühlt seine merklich bereits bewegte, aufgeraute Ideenwelt zusätzlich auf. Er darf sich nicht gehen lassen, muss einen klaren Geist bewahren. Er sagt sich darum: Wer das Tor passiert, erscheint ihm als Mensch. Was falsch gedacht ist. Er greift sich geistig an die Nase. So klug seine Überlegung daher kommt, so krumm stelzt sie daher. Wer durch das Tor gegangen ist, ist nicht mehr Mensch. Mit jedem Schritt auf das Tor hin, legt der Mensch ein Stück seiner Essenz ab und lässt diese zurück. Erreicht er das Tor, ist er nicht mehr sich selbst. Betritt er das Tor, wechselt er in die Wesenheit der Natur zurück, aus der er geschaffen wurde. Einen Ausweg aus seinem Dilemma könnte darin bestehen, dass er erkennt, Mensch und Natur einen sich in einem Wechselspiel, aus welchem der Mensch immer wieder zu sich selber zurück findet, wenn er gegangen ist. Er erwägt etwas wie die ewige Wiederkehr auf das eigene Selbst zurück, nachdem er geschieden ist, und sieht auf diese Weise die Ewigkeit als ein fortwährendes Sitzen vor einem Bier in seinem Lokal. Doch findet der Mensch seinen Weg wieder zur Erde und dem Leben, das auf ihr gedeiht, wenn er in der Natur aufgegangen ist und sich das Selbst, das er sein Leben lang kannte, aufgrund der Kompostierung des Körpers, der das Ich trug und als Herberge diente, aus der Existenz verabschiedet hat? Vermag der Mensch erneut Mensch zu werden, nachdem er sich aufgelöst hat und erloschen ist? Er schaudert wegen der Gedanken, die er ausführt, weigert sich aber, diese als Mumpitz abzutun.

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