Vor dem Fall

Er rafft sich auf und baut eine zweites Mal eine Brücke zur Frau, indem er ihr gewährt, Einsicht in seine Gedanken zu nehmen. Er führt darum aus: «Die Linien laufen von hier gerade auf den Bahnhof zu. Wenn in den Linien eine Störung entsteht, dann erfüllen sie die ihnen aufgetragene Aufgabe der direkten Geraden zum Bahnhof nicht mehr. Die Verbindung bricht ab. Meine Beobachtung kann auf die Linearität einer Programmiersprache übertragen werden, welche in ihrem Bau den Zeilen in den Büchern als sprachlich korrekte und intellektuelle, verstehbare und fassbare Sukzession von Buchstaben entspricht. Fällt im Programm ein Element, fällt die ganze Struktur. Ist es noch nie geschehen, dass ein Buch unleserlich wurde, nachdem es zu hart geschüttelt, zu oft von einem Bücherschrank in einen nächsten verschoben wurde und darum Buchstaben verlor? Genau der gleichen Gefahr sind Computerdateien ausgesetzt, die zu oft von einem Computerelement in ein anderes kopiert werden. Bei jedem Transfer gehen Daten verloren. Der Abrieb am Programm entspricht der natürlichen Abnützung von Gegenständen wie einem Buch, das zu viel den Platz wechselt. Auch dem Menschen, der zu viel hin und her geworfen wird, geschüttelt durch Schicksalsschläge, gehen Teile ab. Er verliert an Substanz. Er verliert seine Konsistenz. Die Zusammenhänge, die sein Leben regeln, geraten durcheinander. Seine inneren Einstellungen sind einer Deregulierung ausgesetzt. Der Mensch kann keinen Resett durchführen.»

Die Frau fasst sich. Die neusten Äusserungen beeinträchtigen sie nicht in der Wahrnehmung der Situation, der sie ausgesetzt ist. Darum meint sie: «Du wirst von seltsamen Ängsten geplagt. Du sprichst bohnern. Hör zu. Du wirfst unbedacht alle Bohnen, die du nach Farbe aussortierst, in den gleichen Topf. So ist nicht klug gehandelt. Gleichzeitig bringst du zudem Kraut und Rüben durcheinander. Kurz: Du bohnerst. Damit kommst du nicht weit. Mich erstaunt nicht, dass du deine Zeit damit verbringst, auf den Platz zu schauen.»

«Ungeheure Mengen an Daten werden jeden Tag transferiert, so viele, dass sie sich gegenseitig im Weg stehen und den Durchgang verstopfen, durch den sie hindurch müssen. Ein Teil der Daten geht im Gedränge verloren. Ein anderer Teil wird während der Überführung, die sie zur nächsten Aufgabe bringt, die sie zu erfüllen haben, zerquetscht und zerdrückt oder verändert und dadurch unbrauchbar. Tag täglich werden riesige Mengen von Menschen hin und her geschoben. Sie müssen rechtzeitig an dem Ort sein, wo nach ihnen verlangt wird, wo sie im Einsatz stehen. Der Mensch ist ein Informationsträger in den Arbeitsketten, welche die Computer in ihren Abläufen bestimmen und leiten und an die Arbeit binden. Der Mensch formt ein Zeichen, stellt als eigenständiges Wesen ein Element im Rechenprogramm dar, das den Ablauf der Wirtschaftsprozesse strukturiert und nach den Regeln der Kunst und den gesetzten Vorgaben abwickelt. Die Zahlen in den Programmen geraten jedoch durcheinander, wenn eine Zahl aus dem Programm fällt. Der durch diesen Ausfall verursachte Sprung überträgt sich von einem Gerät auf das nächste. Der Ausfall pflanzt sich fort. Ein Sprung im System behindert, verhindert sogar den weiteren, ungehinderten und reibungslosen Produktionsprozess. Dann geht nichts mehr. Die Geräte beginnen zu hinken, zu stottern, zu kollabieren. Ich beobachte diesen Platz und die Ausfälle, die er verursacht, indem Menschen nicht durch das Tor gehen, sondern einen anderen Weg nehmen, umkehren, weil es für sie noch zu früh ist für ihren Durchgang und somit Abgang. Ihr Ausscheren aus dem Plan, der auf diesem Platz vorgegeben ist, generiert einen Unterbruch im reibungslosen Ablauf des Geschehens vor meinen Augen. Indem sie sich umdrehen und in die Gegenrichtung der ihnen vorgegebenen Richtung ausweichen, stehen sie den anderen Leuten, die den richtigen Weg einschlagen, im Weg und versperren zudem den Durchgang, der ihnen die Richtung weist. Was zu einem Stau führt, der die Arbeits- und Denkkanäle verstopft und das Gelingen der gegebenen Aufgabe verhindert. Ein Aussetzer hemmt die Funktion der massgeschneiderten Abfolge eines Programms. Woher nimmt sich der einzelne Mensch das Recht, das Ganze zu beeinträchtigen und einen Stein in das Getriebe zu legen, so dass dieses blockiert? Woher nimmt sich das Ganze das Recht, den einzelnen Menschen zu gängeln, als sei dieser im Getriebe ein Zahn an einem Rad? Zu Recht frage ich mich darum: Über diesen Platz schieben sich Ketten von Menschen, die in den Apparat eingebaut sind, der die Gesellschaft in Schwung hält und macht, dass die Wertschöpfung der Wirtschaft zu ihrem Erfolgsresultat gelangt. Was geschieht, wenn es in dieser Kette zu einem Bruch kommt? Die Leute müssen eilen, sonst kommen sie zu spät. Verweilen sie, kommt ihnen die Zeit abhanden und sie verpassen ihren Einsatz. Sie müssen laufen, gehen, ohne zu zögern, durch das Tor hindurch. Wenn sie zu spät kommen, wird ihnen das Tor als Kontrollmechanismus die Zeit, die dem Menschen zur Verfügung steht, anrechnen und auf ihr Ende umrechnen, so dass diese vorzeitig auf ihren Gang durch das Tor geschickt werden. Das bedeutet: Am Menschen wird ein Abzug vorgenommen und umgesetzt, der ihn zu einem vorgezogenen Abgang zwingt. Der Mensch ist in das Prozedere eingebunden, das ihm vorgibt, was er zu tun hat. Tut er es nicht, ist er vorzeitig out. Die Botschaft des Tores ist unmissverständlich. Das Tor bleibt offen, bis alle Menschen hindurch gegangen sind. Jeder Mensch endet, wie sehr er auch eilt. Leute, denen die Zeit abhandengekommen ist, gehen durch dieses Tor. Vielen Leuten ist ihre Zeit abhandengekommen. Sie haben nicht mehr die Übersicht über ihr Leben und verzweifeln. Sie sehen nur noch ein Ziel, konzentrieren sich auf dieses, auf das Tor. Es verschleiert nichts, nennt eine klare Botschaft, auch wenn die Klarheit durch die Masse an Menschen und ihr unkoordiniertes Gehen in Frage gestellt wird. Die Menge der Passierenden auf dem Bahnhofplatz ist unregelmässig, manchmal sind es mehr, manchmal weniger. Zu einer solchen Instabilität kommt es in einer Datenbank, wenn Daten verloren werden: Abhandengekommen. Der Mensch verändert sich, wird zu einem Fake, dem nicht mehr vertraut werden kann. Dem ganzen System ist nicht zu trauen, weil immer wieder Teile aus ihm herausfallen. Wird eine Bibliothek gezügelt, gehen Bücher verloren. Das ist auch das Schicksal des Menschen. Etliche bleiben auf der Strecke liegen. Dennoch müssen sie durch das Tor. Das Leben kennt kein Erbarmen. Alle müssen durch, wie das Zahlenmaterial in einem Computerprogramm durch das Rechenzentrum des Geräts hindurch muss. Geschieht das nicht, gibt es eine Störung. Zuweilen stottert das Gerät. Dennoch muss es seine Arbeit  verrichten und seine Sache leisten. Sonst wird es ausrangiert. Einmal sind es mehr Menschen, die zum Tor gehen, dann sind es weniger. Aber nie wird ihre Zahl geringer. Denn immer neue Menschen folgen nach. Auch die Datensätze der Computer werden immer neu gefüttert, um die Löcher zu stopfen, die bei Transfers in Arbeitsprozessen entstehen oder aufgrund von Fehlinformationen, weil sich die lädierten Programme tückisch selbst reparieren und auf diese Weise eine geänderte, neue, ihnen nicht einprogrammierte Botschaft aussenden, die nicht der Realität, unserer Realität entspricht. Zusammenfassend kann ich sagen: Ein Buch, das einen Buchstaben verliert, ist ein Tragödie.»

Sässen die Beiden bei offenem Fenster und allein am Rand des Bahnhofplatzes, würden sie den Aufschlag einer fallengelassenen Nähnadel auf dem Pflaster hören. Das Tapsen der Schuhe der Leute, die den Platz queren, verhindert als Laut, dass sie den Ton einer aufprallenden Nadel als Quelle für ein Geräusch wahrnehmen. Vom Bahnhof her ertönt, wie aus der Ferne, eine Lautsprecherdurchsage. Das schrille Horn eines Busses und auch der durchdringende, dumpfe Warnton einer Lokomotive mischen sich in den Schallpegel über dem Platz. Wenn an dem Ort ein Buch zerrissen worden wäre, der Schrei der gewaltsam getrennten Blätter wäre bis an den Tisch gedrungen. Über die Stadt zieht ein Flugzeug. Nur der Mond, der über den Häusern sichtbar wird, zieht lautlos seiner Bahn.

Die Manifestation einer Vision, die auf die eben beschriebene Art dem Votum gefolgt wäre, erwirkt im Aussenbereich des Hauses als eine adäquate Antwort auf das ebene Vernommene, erreichte die Beiden – versteinert, sie wie eine Statue, weil ihr das Blut in den Adern gefriert und die Haut erblasst, er, weil er dem Gesagten nichts beizufügen beabsichtigt – nicht einmal in Gedanken. Die potentielle, gespenstische Szenerie ginge an den Schweigenden vorbei wie eine Fliege, die nicht vorbei geflogen ist, also wie ein Nichts. Das fest Glas schützt die zu Stein Erstarrten vor den Einflüssen von aussen.

Kein Ton ist am Tisch zu vernehmen. Das Fenster schliesst fest. Die beiden sitzen am Rand des Bahnhofplatzes hinter einer Mauer des Schweigens. Im Lokal ist die Stille hörbar. Die Laute, welche vom hinteren Teil des Raumes nach vorne dringen, sind abgesondert, prallen an der Barriere, welche sein Vortrag um die beiden gezogen hat, ab. Die Frau atmet, um diese zu durchbrechen. Sie schaut hinaus.

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