Stücke in Brüchen

Unweigerlich drängt sich ihm der Gedanke an ein gebrochenes Herz auf. Die Steine wirken auf ihn, als seien sie zerbrochen. Woran? Er schaltet in seinen Überlegungen das Bild des gespaltenen Herzens auf und fasst es mit seinem Denken schlüssig ein. Er sucht nach Ursachen, die dazu führen, dass sich ihm das Bild dieses verletzten Körperorgans aufdrängt und in seinem Sinnen festsetzt.

Gebrach das Herz an sich selber, weil der Besitzer an sich selber zerbrach? Die gespaltenen Brocken des Tors erwecken in ihm eigenartige Gedanken. Ein zerbrochenes Herz gebricht an Festigkeit, für die jene Steinquader einstehen und die darum für den Bau des Tors ausgewählt wurden. Über die Zeiten hinweg müssen sie das Tor halten, den Durchgang gewähren für all jene, die am Leben zerbrochen sind, die in die andere Ebene hinüber wollen, dort, wo die Züge fahren. Er denkt zusätzlich an die Menschen, die aus freien Stücken in eine andere Welt wechseln, um das Neue zu finden.

An einem zerbrochenen Herzen ist schon mancher Mensch gestorben. Dieser nimmt den Weg durch das Tor und wird nie mehr gesehen. Er schaut die Leute an, die durch das Tor treten. Eigentlich macht er an ihnen nichts Sonderliches aus. Sie kommen daher wie ganz normale Reisende. Passagiere, die den Zug nehmen. Mehrere führen Gepäck mit. Dennoch fragt er sich, ob sich unter den Passanten und Passantinnen etwelche verbergen, die, nachdem sie das steinerne Tor passiert haben, in einen anderen Weg einbiegen als jenen, welche die Züge vorgeben. Auf den Abfahrtstafeln steht ihr Ziel nicht. Jenen Ort kennt niemand. Er hat keinen Namen. Dennoch gehen alle hin. Nachdem der Mensch das Tor durchschritten hat, legt er seinen Namen ab und sinkt ins Niemandsland ein, wo er erstickt.

Er schluckt leer, leert, denn er hat im Augenblick einen schnellen Zug, sein Glas und bestellt ein neues, stellt sich die Frage, warum er mit solcher Intensität auf das Tor starrt. Als ob in ihm ein bestimmtes Gefühl von einem nahen Ende wäre. Er ist auf das Tor, das ihn lockt, vorgerückt. Aber nur um ein Lokal. Er will dem Eingang nicht zu nahe treten, sondern vielmehr einen guten Abstand zu diesem wahren. Seine Zeit ist noch nicht nach. Er beabsichtigt zu leben und nicht in die ihm bestimmte Zukunft hinein gezogen zu werden, für die das Tor steht. Er denkt an jene Menschen, die wie er, so seine Ansicht, zu früh durch dieses steinerne Loch gehen müssen. Das ist nicht ihr Weg. Den haben sie sich nicht vorgegeben. Gleichwohl eilen sie hin, geführt von der harten Hand, die sie aus dem Dasein führt und ihr Schicksal rigoros steuert. Wer durch dieses Tor geleitet wird, hat keine Wahl mehr.

Er dreht sich um und guckt hinüber, zurück, zum Lokal, wo er am Vortag gesessen hatte. Soll er sich künftig wieder dorthin begeben, sich auf jene Ausgangsposition zurückziehen? Oder schon jetzt, an diesem Abend? Rückwärts, eingedenk seines vielleicht zu vorzeitigen Abgangs aus jenem Ort, der ihm eine sichere Stätte bedeutete? Zeit auf sein Sein gewinnen, indem er der Verlockung des Zurücks nachgibt, zurück weicht auf die Stätte seines Gestern und von dort aus von Neuem seinen Überlegungen darüber freien Lauf lässt, wie es mit seinem Morgen aussehen soll? Dem Lauf auf das Tor zu, den Bewegungen dorthin, seinen eigenen, Einhalt gebieten? Sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen? Widerstand leisten? So tun, so handeln, als sei er nicht um eine Gaststätte, dem Wartsaal zum Tor, vorgerückt? Über die Klarheit, die er vor sich als weit geöffneten Durchlass erkennt, den Schleier der Hoffnung legen? Den Rollladen des Selbstbetrugs vor sich herab ziehen, so dass er diesen als spanische Wand einsetzen kann? Als ob es hinter Scheuklappen keinen Raum gäbe, der ihn erwartet?

Ein verschleierter, gar abgeschirmter Blick schränkt die Wahrnehmung ein und somit die Breitenwirkung, die aus der Enge der eigenen Gedankenwelt führt. Zudem legt sich der Schleier wohltemperierend über das Gefühl, das den unmittelbaren Eindruck von Gefahr vermittelt. Das Tor verliert an Konturen, transzendiert er es in eine geistige Vision und löst er es auf diese Weise aus der Gegenständlichkeit heraus, die ihm scheinbar Halt vermittelt und davor bewahrt, vorwärts zu gehen. Der immer hungrige Durchlass erscheint ihm nur noch als mattes Gebilde, das ohne böse Schärfe ist und ihm nicht mehr als Mass gebende Orientierung zu dienen vermag. Er betrachtet das Tor und dessen Botschaft als Trug, er kann sich anderen Interessen zuwenden und wieder in den unkomplizierten und unverfänglichen Alltag hineinschreiten. Und Berge um sich aufbauen, die für all die vielen Vorsätze stehen, die zu erreichen, er sich vornimmt; für die Ziele, die er aufgeschüttet hat, trotz seines Drängens auf das Tor. Dafür muss er sich aufmachen und engagieren. Und dem Tor als deutliche Botschaft die Innenfläche der rechten Hand als klares Signal entgegenhalten: Stopp! Das Tor soll ihn nicht locken. Ein klares Wort für eine entschiedene Haltung, die ganz einfach heisst: Er will weiterleben.

Er steht nicht auf, schaut weiterhin den Leuten nach, den langen Reihen von lautlosen Schattengestalten, diesen Wesen, die auf das Tor zustreben und es durchqueren. Einige kommen heraus, als wären sie zu früh hingegangen. Es gibt ein Zurück. Die Beobachtung weckt in ihm Hoffnung. Das Tor verwirrt ihn. Die Verwandlung des eisernen Tores zu Stein, die sich vor seinen Augen abspielt, muss in einer Halluzination begründet sein, sagt er sich. Anders kann er sich die Bilder, die ihm der Bahnhof präsentiert und zuspielt, nicht erklären. Dass Stahl zu gesprengtem Gneis oder Marmor wird, kann nicht sein. Das Tor und die Lockung, die es aussendet, verlieren jedoch auch als Steinkonstrukt nicht an Deutlichkeit. Er baut seinen Sinn auf einer anderen Botschaft auf, die nicht in Stein gemeisselt ist, sondern aus einem Material besteht, das aus Träumen gewebt ist. Weisen diese vorwärts oder zurück? Er zögert mit der Antwort.

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