Stimmungen

Als hätte er das Tor als Joch gesprengt, so dass es als Tür nunmehr keine Angst mehr einflösst, beschliesst er, nicht mehr rückwärts zu blicken, zurück, als die Zeit wie ein Klotz an seinen Fesseln hing, sondern vorwärts, wo es keine Zeit gibt, aber als Wegweiser einen Weg, den er begehen kann, der ihn aus seiner Vergangenheit heraus führt, aber nicht in eine Zukunft, die ihm als Tor den Fortgang versperrt, weil er es nicht passiert. Vielmehr sieht er vor sich eine Tür mit menschlichem Antlitz, die, einmal geöffnet, ihm eine neue Welt offenbart, weg von den Gespenstern, die ihn befallen, hin auf einen Ausgang, der ihn aus der Trübsal lotst. Das spitzfindige Reden über Löcher, wie jenes, das als offenes Tor in den Bahnhof mündet, Lücken und auch Verluste, die ihm erstehen, weil er sich durch das Tor hinhalten lässt, statt die Gelegenheiten, die sich gelegentlich bieten, beim Schopf zu packen, verliert an Bedeutung und bestimmt immer weniger, wie der nun einmal begonnene Abend sich weiter entwickeln soll. Vielmehr liegt es an ihm, in den Zeitraum, der sich vor ihm auftut, alles hineinzustopfen, was er bisher allzu oft mit dem Resultat beiseite geschoben hat, dass er Abende lang vor einem Bier auf einem Stuhl von seinen Vorstellungen niedergedrückt wurde, anstatt dass er sich über die Herausforderungen, die kommen, freut, indem er sich ihnen zuversichtlich und wohlgemut stellt. Nun ist Neuerung angesagt. Das grüne Getränk, apfelgleich, stellt das geeignete Mittel dar, um in eine, wenn auch lose Beziehung zu gleiten. So schätzt er die Begegnung mit der Frau ein. Die Aussichten gestalten sich ganz anders aus als das gehäckselte Selbstverständnis der Welt, das aus Nullen und Einsern, Zeichen und Auslassungen besteht, welche in einer gewissen Weise als gelöcherte Texte daherkommen und den simplen, aber nachhaltigen Grundstock der Computersprachen bilden. Mit deren einfachen Logik werden die aktuellen Kommunikationsmittel generiert. Auf der Basis dieses modernen, dual geführten Leistungssystems will er keine mathematisch errechnete ChatGTP-Lösung als probates Utensil nutzen, um in eine auf der menschlichen Natur basierende, sich anbahnende Romanze einzusteigen. Befasst er sich mit der Sprache der Gefühle, die auf einer grossen Vielfalt von Bausteinen gründet und zurückgreift, darf er sich nicht in ein binäres System von limitierten Empfindungen einlassen, die sein Handeln auf die Dualität von Gut und Böse, Plus und Minus begrenzen und zwei entgegengesetzte Pole als Grundstein für ein menschliches Aufeinanderzugehen vorgeben. Die Eingeschränktheit der Technik, die den Menschen aus seiner Persönlichkeit löst, ihm als Allgemeingut ohne Selbstvertrauen den Stempel eines institutionalisierten, arithmetischen Wesens aufsetzt und von sich selbst entfernt, misst er keine massgebende Kompetenz bei, die ihm in Bezug zur Gefühlswelt ein sicheres Vorgehen geben könnte. Auch Extreme können fehlerhaft sein.

«Ich sehe, du knorzest noch immer an deinem Hirn herum und überlegst, wie dieses denken soll.»

Er bemerkt lediglich: «Ich tue mir Unrecht an, wenn ich den grünen Becher zurückweise.»

Er späht wieder eindringlich zur Frau hin. Zwischen den ersten sich abzeichnenden Falten in ihrem Gesicht erstrahlt die Jugend. Ihr Anblick durchflutet seine Haut und ergänzt seine plötzlich auftretende innere Erregung mit einer für ihn überraschend entstandenen Neugier. Er imaginiert, dass er auf einmal wie ein oranges Nashornzebra auftritt, das im Überschwang auf ein noch nicht gemachtes Terrain hinaus springt, um seinen frühlingshaften Jungkräften in einer unverbrauchten, von Regeln, Vorschriften und Pflichten verschonten Natur freien Lauf zu lassen, dabei die Ohren spitzt und Apfelsinen isst. Er verzehrt sich in aufkeimenden, neuen Stimmungen und empfindet gleichzeitig eine grosse Freiheit. Der Hofplatz, der den Bahngeleisen vorgelagert und von diesen durch eine Mauer geschützt ist, lockt ihn mit frischen Reizen. Die gegenüber liegende Fassade schimmert kirschrot. Er schwitzt Hoffnung. Einfache Gedanken versetzen ihn in ein Vorgefühl kommender Hochfreude. Das sich anberaumende, überwältigende Gefühl überzieht ihn als eine Vision, sagt er sich, die aus dem gegrünten Glas gestiegen ist. Er fühlt sich glücklich, dass er sein Gegenüber, die Frau, nicht mit seinen Vorurteilen misst, sondern sich selber Farbe gibt, so dass er auf sie abfärbt und sie ihm nicht mehr mit der Bemerkung beikommen muss, er müsse Farbe annehmen. Farbe bekennen ihr gegenüber kann er längst nicht mehr. Sie durchschaut ihn. Das weiss er und erfüllt ihn mit Freude. Im aktuellen Lokal, den Tisch teilend mit seiner neuen Bekanntschaft, muss er nicht als Schauspieler auftreten.

«Die Ehrlichkeit ehrt die Absicht derer, deren Redlichkeit beredt unter Beweis gestellt wird.» Er ist stolz auf diesen Satz.

«Der Rede nicht wert», lässt sie verlauten. «Es genügt, wenn du redest, und die Redlichkeit wird sich unter Beweis stellen, sofern das Reden den Inhalt wert ist, den du vorträgst. Für den Wert musst du selber einstehen, indem du ihn unterstreichst, mit dem, was du vorbringst. Schweigen ist Gold. Reden ist mehr wert, ist Platin.»

Die Aussage veranlasst ihn zur Antwort: «Ich weiss nicht, was Platin wert ist. Ich bin kein Geschäftsmann.»

Sie gibt keck zurück: «Das muss nicht jeder Mann sein. Diesen Part im gesellschaftlichen Leben kann auch eine Geschäftsfrau einnehmen. Auch nicht jede Frau ist vom Fach des Geschäfts, obwohl sie das Geschäft, das ihr am wichtigsten ist, das Leben, meistert und so ihren Wert mehrt.»

Ihm steigt, wie sie solcherart über sich und die Frauen spricht, das Blut hochrot ins Gesicht. Eine Anzüglichkeit hat sie nicht geäussert, aber ein Satzgefüge vorgelegt, das ihn berührt und seine Denkanalyse beflügelt. Ihre Äusserungen sind verschwenderisch ausgeführt wie ein verschwurbelter, vielfältig ausgestalteter Baumnusskern, der geheimnisvoll wirkt und in seiner sybillinischen Verschlungenheit einem naturbelassenen, geäderten Gehirnkuchen ähnelt. Das Hirn gewährt tausend Möglichkeiten. Die Aussage seiner unverhofft aufgetauchten, neuen Beisitzerin ist angetan, hätte er sich in einer schlechten Verfassung befunden, ihn wieder in sein Sinnen sinken zu lassen. Doch das in den Kopf geschossene Blut belehrt ihn eines Besseren und verhindert den Rückfall in seine bierdusselige Grübelei und Glückseligkeit.

«Titan, Platin, Plutonium, das ist alles Gleiches und einerlei, was uns zwei betrifft.»

Er nutzt das Wort Zwei, was ihn selber überrascht. Offensichtlich befreit er sich aus der traumatischen Enge, welche die Tür in ein Tor umgewandelt hat, und bewegt sich auf eine Pforte zu, die ihm den Weg in eine fröhliche Zukunft weist. Er fühlt stark. Die frohe Empfindung erweckt den Mut zu antworten, was ihm passt. Zudem ölt sein eigen verschriebenes Eingeständnis zur Zwei das Reden: «Die Edelmetalle und sonstigen Werkstoffe, die das Gebäude drüben zusammenhalten, sind für unsere gemeinsame Präsenz an diesem Ort bedeutungslos. Edelsteine, wenn man sie nicht am ersten Tag liebt, wird man es am zweiten Tage tun.»

«Von Liebe kann keine Rede sein. Niemand darf sich vorzeitig verkaufen. Die Liebe fällt nicht wie eine Münze auf den Bahnhofplatz, wo jedermann sie wie ein verloren gegangenes Stück Kreide aufheben kann, um jemanden anzukreiden.»

Er, perplex, versetzt: «Ich kreide niemanden an.»

«Du sprichst klare Worte. Niemand will Kreide fressen, wenn er jemanden kennen lernt. Obzwar Kreide das durchaus geeignete Mittel darstellt, um seine Gedanken auf einer schwarzen Tafel aufzuzeichnen und diese, sofern sie ebenfalls schwarz sind und somit auf der Wand nicht sichtbar, mit einem Schwamm auszuwischen, ohne dass es jemand merkt. Das ist das Wesen der Liebe, mein Freund. Du gestattest, dass ich dich so nenne, da wir bereits den halben Abend miteinander verbracht haben, ohne dass wir uns in die Haare geraten sind oder mit Kreide gekennzeichnet haben. Du hast mich geweckt. Das würde ich nicht sagen, sondern vielmehr: Ich habe dich geweckt. Dein Lächeln gibt mir recht. Und es deutet mir glasklar an: Mit uns geht es vorwärts.»

Tiefsinnig antwortet er: «Ein Nachzeitig gibt es in einer Beziehung nicht. Ist es vorbei, bleibt es dabei.»

«Jetzt tönt es auch noch ganz gescheit. Unsere gemeinsame Aktie steigt.»

Da kommt von ihm zurück: «Geld war nie meine Macht.»

«Macht war nie meine Ratgeberin. Wir sitzen hier, geniessen die Aussicht, das Gespräch und den Meinungsaustausch. Das stellt einen ganz grossen Fortschritt dar verglichen zum Vorabend, als wir, getrennt, sitzend an verschiedenen Tischen, auf die heransteigende Nacht sahen und du mich nicht betrachtetest. Die Situation hat sich gewandelt. Du schaust mich an. Die Nacht hat ihre Bedrohlichkeit verloren.»

Statt der Antwort folgt ein Zögern. Der Mensch, anders als das Tier, das bei Gefahr zubeisst, überlegt sich, nachdem er im ersten Augenblick nicht reagiert, ein zweites Mal, wie er auf eine Herausforderung, ihr stattgebend, einsteigen soll. Aufsteigend, wie er meint, in den ersten Stock, denkt er, erkennt er, vermeint zu erkennen, dass des Weges, den sie gemeinsam eingeschlagen haben, noch wenig zurückgelegt ist, vermutlich wenige Meter, wenn überhaupt schon einen solchen. Der Ast, auf dem er mit der Frau Platz genommen hat, könnte leicht brechen, fürchtet er. Stärke, auch wenn er sich erstarkt fühlt, hat er wenig noch gewonnen. Vom Überschwang der erwachten Gefühle und des frisch geborenen Vertrauens, möglichweise, darf er sich nicht voreilig vereinnahmen lassen.

Das Dämmerlicht des frühen Abends ist längst dem erhellenden, glitzernden Schummerlicht der angerückten Nacht gewichen. Der ruhige, vom verwirrenden und teils aufwühlenden Geschehen des Tages entstresste und gelöste Blick, der ihn einfasst, verfehlt in ihm nicht seine aufmunternde Wirkung. Sein eigener Blick verweilt interessiert auf dem immer näher vertrauten Gesicht. Gleich einem von einer Spinne gewobenen Netz legt sich sein Spüren um den Körper der Geschauten, aber nicht als myzelisches Geflecht, das sich weitflächig und versteckt ausbreitet und auf diese Weise verhohlen nach seiner neuen Bekanntschaft greift und sie schliesslich einnimmt; zudem als heimlicher Wirt in die andere Welt eindringt und sich dort als hungriger Parasit breit macht. Der gegenteilige Fall tritt ein. Er fühlt sich frei, weil sie sich frei fühlt. Er hat ein reines Gewissen. Die Kraft der Unternehmungslust bemächtigt sich seiner. Er schaut voraus. Seine neue Bekanntschaft erstickt nicht an ihm. Er vermag zu handeln. Seine Hände sind ungebunden. Das Glas befindet sich längst wieder auf der Tischplatte. Er muss sich nicht an ihm halten.

Sein Geist erhebt sich über die Tischplatte, steigt auf, hoch hinauf, stösst an der Decke an, nimmt das Fenster als Ausflucht, setzt draussen den Aufstieg fort, wird weitläufig und mondän. Alle Grenzen, die den Raum einschränken, lösen sich auf. Der Platz liegt wie aus der Vogelschau unter ihm. Er sieht verschiedene Reihen mit Menschen, die sich in diese Richtung, in die andere bewegen, frei aber scheinen von jenem groben Einfluss durch die kleine Tür. Nur ein kleiner Teil der Wesen unten auf dem Platz nimmt seinen Weg durch den Durchlass, den er in der Bahnhoffassade ausmacht. Wie ein Habicht zieht er über der Fläche seine Runden und Kreise, ohne Absicht, sich auf ein einzelnes Lebewesen, das über das Gelände trottet, wie auf eine Maus hinab zu stürzen. Er hat das Kleid der inneren Beklemmung abgestreift, gleitet weltgewandt durch die neue Sphäre, die ihn trägt, auch wenn sie nach allen Richtungen, nach oben und nach unten durch ein Fluidum gewirkt ist, dessen Gehalt, dessen Fasern er nicht zu einem festen Gewebe zu knüpfen weiss. Weltläufig kommt er sich vor, empfänglich für Gespräche hie und da, gewandt geführt, gewandt an andere Leute als sich selber, aufgeschlossen für Neues und darum rezeptiv unterwegs.

In einem gewissen Masse nimmt er sich als erfolgreich und sogar nachhaltig gestärkt wahr. Selbstvertrauen hat er gewonnen, das ihn aufrecht blicken lässt. Ihm kommt es vor, als könne er wieder den Oberkörper, den ganzen Leib strecken wie beim Pflücken eines Apfels, der hoch am Aste hängt, dennoch aber erreichbar bleibt am Baum, so dass er, ohne Schwierigkeit aus seiner Position mit flinker Hand gelöst, von beiden, indem er ihr das Präsent reicht, als Bissen geteilt werden kann, um die Magie der trauten Liierung zu starten. Je länger er ihre Augen anschaut, desto mehr klart ihr Gesicht auf und seine Ansicht über ihre gemeinsame Beziehung.

Den Baum auf dem Bahnhofplatz sieht er vom Tisch aus. Er erkennt im Dunkeln dessen massive Baumkrone als eine grosse, amorphe Masse, von der er jedoch nur auf den unteren Saum Einblick erhält. Wegen der Finsternis, die sich über die Stadt gesenkt hat, entgehen ihm die Details der Äste. Der Baum steigt höher die Fassade des Gebäudes hinauf, als er zu sehen vermag. Obwohl das Fenster ihm Breitsicht und Einsicht gewährt, setzt ihm das gleiche Objekt aufgrund des vorgegebenen Rahmens klar Grenzen nach oben. Einschränkung gibt es nach unten. Er vermag dem Stamm nicht bis zu seinem Eintritt in das Erdreich zu folgen, wo dieser seine Wurzeln hinein schlägt, weil die untere Schwelle ihrer Aussichtsplattform die Sicht auf jene Stelle verstellt, wo der Baum aus der Erde steigt. Himmel wie Boden sind ihm verschlossen. Sein Platz ist im ersten Geschoss neben der Frau. Vom Stamm aus reckt sich der Baum in die Krone. Aufgrund der direkt angrenzenden Umgebung, in der er steckt, und dem dadurch eingeschränkten Gesichtsfeld bietet ihm die in der Nacht farblose Pflanze indes nur eine Teilansicht von sich. Nicht allein die Dunkelheit schränkt seine Wahrnehmung ein. Das Fenster als Auge in die Welt hinaus ist aufgrund des architektonisch ausgemessenen und bautechnisch ausgeführten Rahmens, in welchem es steckt, im Rundum-Blick massiv eingeschränkt. Schaut er empor, kollidiert sein Gesichtsfeld wegen der abgrenzenden Einfassung mit der Fensterstirn, jenem Balken oder Teilstück der Fensterumrandung, der die obere Grenze der Scheibe bildet, so dass er nicht erkennt, was sich über seiner Schädeldecke vor dem Haus in den Stockwerken darüber abspielt. Sein Blick fährt zur Seite und fällt auf die Dame. Er wendet den Kopf von ihr ab und wieder zurück. Zu den Seiten erkennt er analoge Einschränkungen wie über sich. Diesmal liegt es an den beiden Fensterschultern, die zur Rechten wie zur Linken ihrer beider Sitz klare Abgrenzungen setzen. Genauso handelt der Fensterfuss. Dieser schneidet als Schwelle, die das Glas in seinem unteren Teil hält, den Vorplatz deutlich entzwei in eine Hälfte, in der er ohne Mühe beobachten kann, was dort geschieht. Genau vor seinen Füssen, unter seinen Zehen, liegt hingegen die zweite Hälfte und somit jener Part, in welchen er wegen des unteren Abgrenzung der Scheibe nicht ausmachen kann, was im Eingangsbereich direkt vor dem Haus vor sich geht. Das Glas, welches ihm aus dem Haus heraus die Sicht auf alles ermöglicht, was sich vor seinen Augen abspielt, wie auch die Linsen, die das Licht für die Augen auf dem Weg in das Gehirn filtern, halten ihm eine ungebrochene Rundsicht vor. Sowohl die Fenster wie seine Augen sind jener Grenzziehungen unterworfen, die ihnen Natur oder Technik vorgeben. Stationär verharrend gelingt beiden der Blick um die Ecke nicht. Er sieht nicht hinter die Dinge. Er muss, auch was die Frau betrifft, darauf vertrauen, dass das Dahinter dem entspricht, was er vordergründig auf ihrem Gesicht ausmacht, will er Klärung über alles, was ihn und die Frau umgibt, erhalten. Da muss schon etwas Bewegung in die Sache kommen, soll ein Geschehen ausserhalb des gewährten Blickfeldes erfasst werden. Ortsgebundene Sesshaftigkeit ist in der Angelegenheit eine schlechte Ratgeberin. Seine Wahrnehmungsmöglichkeit ist doppelt behindert. Die Breite der Sicht und die Palette der Farben entpuppen sich als limitiert, weil Fenster und Nacht ihm das Diktat vorgeben; als hätte sich beides gegen ihn, sich einend, verschworen. Nun aber verfügt er, dessen ist er sich dank der neuen Bekanntschaft bewusst, über mehr Klarsicht und Durchsicht als früher am Abend, als er mit sich selber beschäftigt seinen mageren Einsichten nachhing und kein Fenster ihm erhellende Ansichten auf das Vor- und Hinter-Sich offenbarte. Nun ist ihm deutlich geworden, dass das Tor ihm nur eine bestimmte Richtung wies, er aber ganz verschiedene Routen gibt, die er einschlagen kann. Er braucht nur aufzustehen und einen anderen Weg zu nehmen als den, den ihm der Bahnhof weist. Er betrachtet neu, ohne dass er in einen Spiegel schaut, mit vier Augen die Welt, die ihn umgibt. Kein weiteres Gesicht mischt sich in seine Wahrnehmung. Er sieht nicht doppelt, er sieht nicht dreifach, er sieht nicht Mengen, er sieht nicht Scharen, er sieht nicht Löcher. Kein Antlitz droht vom Platz herauf, hebt sich empor, um das Fenster auszufüllen und ihn als geifernder, burlesk-grotesker, zahnloser Fenstersimskobold toxisch-hypnotisierend in die Mangel zu nehmen. Nichts von alledem schaut vom Platz herauf; auch keine geflügelte Lichtgestalt, Verkünderin von drohendem Leid, begleitet von einem funkelnden, richtenden Schwert, das sie in der Pranke hält, und ebenso wenig eine Norn.

Der Bahnhofplatz glitzert als ein vielpunktiges und fleckenreich schimmerndes, aber schattenloses Lichtermeer ins Rechteck, das das Fenster formt. Das Schauspiel ist faszinierend und nimmt ihm als grandiose Darbietung schier den Atem. Was er sieht, herrscht ihn nicht an, sitzt ihm nicht auf, bringt ihn nicht aus der Fassung. Das Fenster hält im Rahmen, den er nicht zu sprengen gedenkt. Wie sollte er auch Gewalt anwenden wollen! Er weiss sich nicht allein, kennt den Weg, den er zu gehen beabsichtigt. Der Nacht ist ein schlechter Wegweiser. Sie zeigt ihm nicht einmal den Baum in seiner vollen Pracht. Erst in einigen Stunden, wenn der Tag erwacht, wird das Gewächs in seinem Grün und Braun auferstehen, erneut an Leuchtkraft zunehmen und in seinem prunkvollem Kleid und seiner ganzen Schönheit erstrahlen. Bis dahin ist es zeitlich noch ein Stück Weg, den er nicht vorzeitig begehen will. Er lässt den Blick fahren, nimmt sein Interesse weg von der singulär auf dem Platz stehenden und undeutlich wahrgenommenen Pflanze und wendet sich erneut der Frau zu.

Der Taten sind mehr als Worte, auch wenn er sich kaum rührt und sein Tun sich darauf beschränkt, zu sitzen, und er sich bemüht, die für ihn doch so überraschend eingetretene und darum nach wie vor heikle Situation nicht durch eine ungeschickte Äusserung zu gefährden. Als fahrlässiger Liebhaber gedenkt er nicht an dem Ort Wurzeln zu schlagen, sondern vielmehr die ihm gegebene Chance beim Schopf zu packen, um im ersten Stock dieses Etablissement weiterhin einkehren zu können und wie ein Baum seine Krone in den Himmel zu recken. Hinan ist er gestiegen, hinab will er nicht. Seines Schicksals Glück will er nicht nach den Regeln des pythagoreischen Bechers verspielen. Vielmehr nimmt er sich ein Beispiel an den Vasen von Bagdad, die mit leichter Kraft, Energie galvanisierend, grossen Entwicklungen den Weg bahnten, welche in der unsichtbaren Form der Elektrizität den Menschen massive Erleichterungen bringen und Fortschritt bedeuten. Mit ihm soll es vorwärts gehen. Ihm fällt ein und auf, dass er ganz vergessen hat, hinüber zum Tor zu spähen. Er lässt sich zu solchem Gebaren nicht verleiten. Der Zug der Leute geht an ihm vorbei. Das ist ihm einerlei.

Er sieht sich vom Elixier, das er grün genossen hat, gezeichnet. Der Trank verabreicht ihm, diese Erkenntnis gewinnt er, grosse, sicher bedeutende Energie, befreit ihn von seinem Selbstmitleid und bewegt sein Denken. Einem erneuten Stillstand darf er nicht zum Opfer fallen. Nun liegt es an ihm, der Frau gegenüber eine deutliche Marke zu platzieren und seinen Willen kund zu tun, was besagt: Er geht mit ihr vorwärts. Er dreht nicht mehr, auf sich allein gelassen und seiner selbst ausschliesslich treu, gebrandmarkt und geführt von einer nutzlosen Zielsetzung, Runden in den Spunten. Diese Kreise und das Kreisen um die Selbstgefälligkeit hat er mit fremder Hilfe durchbrochen. Wie gross sein eigener Anteil an dieser Leitung ist, vermag er nicht abzuschätzen. Er betrachtet sich selbst hingegen als Teil des Sieges über sich, den es zu feiern gilt, nicht mit einem weiteren Glas in Grün und nicht ein solches in Rot, Gelb, Orange oder Violett oder gar in Schwarz, dem rabenschwarzen Aas, Farbe des Tores. Auf einzelne Farben baut er für den Augenblick nicht. Sein Leben gestaltet sich erneut bunt. Das Freudenereignis drängt seine Trübsal zurück. Die Zeit hat er, haben sie mit diesem Sieg gemeinsam aufgehalten. Das Ereignis gebührend zu würdigen, taugt nur ein Markstein, den er in den Boden ihrer Beziehung einfügen kann, um die Zäsur in seinem und ihrem Leben zu markieren und als Wegmarke festzulegen. Die Begegnung mit ihr führt zu einem Bruch in seiner Zeit, hält sie auf, die unweigerlich dahin tendiert, mit ihm davon zu fliessen, unaufhaltsam, in die Weiten, Sphären, die ihm unbekannt sind – auf das Tor zu.

Er braucht nicht tief durchzuatmen. Der Entscheid fällt ihm leicht. Diesen muss er als ersten Schritt zur Selbstfindung unverzüglich umsetzen. Er kann die Zeit nur aufhalten, indem er ihr, sich einen Namen gibt. Einen Namen wie einem Kind, das, kaum geboren, mit einem solchen auf den Weg seines Lebens geschickt wird und das Neugeborene aus den Fängen der alldahinziehenden Zeit reisst. Er gibt sich den Namen, den er schon immer hatte. Diesen teilt er mit ihr. Sie spricht ihn mit seinem Namen an.

Ihrer beiden Namen fügen sich zu einer wunderbaren Streuseltorte zusammen. Diese wird mit herbeikullernden Worten fein ausstaffiert und textiert. Rote und blaue Beeren, auch tolle, dunkle und helle Kirschen schmücken die Torte fabelhaft aus und runden den fruchtvollen Kuchen vollendet ab. Gemeinsam teilen und konsumieren sie ihn. Kein trüber Abspann eines ungedeckten, abgestandenen, laschen Bieres sinkt als bitterer Rinnsal in den Rachen. Vielmehr legt sich ein süsser Geschmack auf seine Lippen. Als breites Band fliessen die intensiven Eindrücke auf ihn ein. Diese schwemmen die Lichter, die der Platz aussendet und die von den umliegenden Fassaden auf das Haus ausstrahlen, durch die Fenster auf den Tisch, wo ihr Schein als feines Feuer zwischen ihnen liegen bleibt. Immense Zuversicht macht sich in ihm breit. Das Möbel, auf dem das Glas mit dem grünen Saft steht, wirkt, als trage es einen Geburtstagkuchen noch ohne Kerze. Doch die Lichter der Umgebung illuminieren das frisch angerichtete Gericht und präsentieren es als reiches Buffet.

Er ist auf keinem Bein mehr lahm. Nichts hält ihn am Tisch der Selbstbemitleidung zurück. Aufbruch lautet das neue Gebot, jetzt, aber nicht vom Tisch, aber, danach, wenn er aufstehen wird und sich zur Treppe begibt, zu zweit, hinunter steigt, hinab, dort, wo er auf dem Boden wieder fest Fuss fasst.

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