
Er rückt ein Restaurant vor. Die Einrichtung unterscheidet sich wesentlich von den beiden bisher aufgesuchten Lokalen. Der Wechsel entspricht einer an sich erfreulichen Entwicklung. Der Ort gewährt grössere Transparenz als die vorherige Ebene. Er und sie sind gezwungen, eine Treppe hinaufzusteigen. Gewährsleuten, die er kennt und ihm das Etablissement hätten bewerten können, begegnen sie nicht. Oben angekommen und in den Gastraum getreten, macht er keine Person im Lokal aus, die ihm irgendwie vertraut, bekannt erscheint oder von der er denken kann, er sei mit ihr irgendwann zusammengekommen. Für ihn ist das erhöhte Gelände ein neues Feld. Das Lokal befindet sich im ersten Stock eines Gebäudes gegenüber dem Bahnhof. Die Frau wählt einen Fensterplatz und schaut, nachdem er sich gesetzt und sie ihm gegenüber Platz nimmt, den Mann an, runzelt die Stirn und verdreht die von schwulstigen Lidern eingefassten Augen leicht. Er reagiert antwortlos.
Der Platz ruht in Eintracht vor dem Haus. Beide haben sich so gesetzt, dass es für sie ein Leichtes ist, zum Fenster hinaus zu blicken. Die Sicht durch dieses bietet sich weniger sperrig an als jene, die das vorherige Lokal gewährte. Aus der Höhe wirkt die Bahnhofplatzarena luftiger denn vom Boden aus gesehen. Die metertiefe Leere, die sich vor dem Logenplatz auftut, erweitert den eigenen Horizont. Der Blick in die Tiefe vergrössert das Volumen des Raumes sowie jenes der Erkenntnis und eröffnet neue Perspektiven. Der Stauraum für Irrungen und Wirrungen wird grösser. Das bedeutet: Trotz der Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes vermag die Enge in seinem Hirn zu wachsen. Darum könnten, einhergehend mit der Horizonterweiterung, unbequeme Realitäten ans Tageslicht rücken, die der Mann so nicht wahrzunehmen gedenkt, die jedoch aus dem Pflaster des existentiellen Morasts, der die geplagte Gestalt heimsucht, herausdrängen, die Treppe ungeniert herauf steigen und so dem Davoneilenden aus der Tiefe der Keller nacheilen. Hervorquellen könnte auch etwas, das er bisher nicht ausgemacht oder schnöde bei Seite geschoben hat; etwas, das er als absolut obsolet betrachtet oder interpretiert, das sich jedoch durchaus aus dem gut einsehbaren Geschehen auf dem Vorplatz des Bahnhofs heraus destilliert und er noch nicht herbeigedacht hat. Aus dem Boden könnten betörende Dämpfe quellen, die das Darunter in das Darüber, aus der Tiefe in seine Höhe und somit Nähe heben. Fasziniert blickt er vom oberen Stock auf die untere Ebene, wo keine hervorquellende Schwade irgendetwas von einer anderen Welt verkündet, sei diese auch unter dem Strassenteer des Bahnhofplatzes verborgen. Nichts Trübes drückt durch das Platzpflaster in die offene Fläche vor dem Abfertigungsgebäude der Eisenbahn und bildet Blasen, die als Platzballen explodieren und die Leute mit unliebsamen Duftsegmenten eindecken. Eines erkennt er hingegen: Von dieser Höhe aus kann der Fall tief sein. Die langgezogenen, Lichtgirlanden führenden Züge, von oben besser fassbar als vom Aussichtspunkt im unteren Stockwerk, das ebenerdig gelegen ist, scheinen aus zahlreichen Wagenfenstern ihre eigene Botschaft des Reisens in ferne Länder, zu anderen Horizonten auszusenden und den Weitblick, den das Fenster im ersten Stock über das Gelände gewährt, zu vervielfachen und den Lichterkranz des Gebotenen zu vergrössern. Er holt tief Atem und lässt diesen langsam wieder aus sich heraus fahren.
«Wir müssen mit beiden Füssen auf dem Boden bleiben, wenn wir den ersten Stock überleben wollen», verkündet die Frau. «Der Fall über die Treppe hinunter ist tiefer als du denkst. Schlaf nicht. Erwach aus deinen Träumen. Lass das Wehleiden vergehen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du da oben sein darfst. Manch einer ist durch dein Tor gegangen, bevor er diese Treppe hinauf steigen konnte. Wenn der Kopf vor den Füssen unten aufschlägt, ist es sehr schlecht gedacht, wie du dein Gleichgewicht hier oben bewahrst. Dann findest du dich unversehens in einer weisen, tiefen Ewigkeit, in der du keine Fragen mehr stellen kannst. Dann ist es aus mit dir. Darum: Steh zu dir und bewahre Haltung. Mach dich als erstes nicht älter als du bist, auch wenn du nicht danach aussieht, als würdest du nach wie vor eine volle Samenschatulle mit dir herumtragen.» Er holt tief Luft.
Das Geschäft im ersten Stock erweist sich als gut besucht und äusserst belebt. Die Getränke werden in schnellem Rhythmus serviert. Im hinteren Teil des Gastraums sitzt eine Gruppe, die im Dauerlauf Shots hinunter stürzt. Der Shaker kommt mit dem Schütteln seines Mischbechers der Nachfrage nur schwierig nach. Was serviert wird, geht in den Grössen der Becher und Farben der Inhalte stark auseinander. In der Ecke steigt der Lärmpegel hoch, am Tisch der beiden hingegen herrscht Ebbe. Der Stand der Diskussion stockt nach wie vor, als stecke diese in einer zähen Flaute, hänge als Ebenbild eines langen Astes einer Trauerweide hinab vom ersten Stock ins Erdgeschoss und klatsche dort als schlaffe Schlacke einer kläglich versagenden Gesprächsromantik mit dem in die Höhe promulgierten Mann auf. Der Klang des hinteren Teils des Lokals dringt nicht belebend in die Eingeweide des am Fenster lavierenden Kavaliers. Dessen Zwerchfell hebt sein Herz nicht hoch, so dass sein Verstand endlich zu einem anregenden Diskussionsbeitrag findet.
Die innere Aufruhr im hinteren Teil des Lokals überträgt sich in keiner Weise auf das äussere Ambiente im vorderen Bereich und färbt nicht auf das am Rand zum Abgrund des Platzes sitzende Paar ab, das kein solches formt, weil es zu keiner Gemeinsamkeit findet. Das feuchtfröhliche Gerangel im Hintergrund führt nicht zu einem geistig-fröhlichen Niederschlag im Vordergrund, obwohl der neue Sitzort die ideale Stelle bildet, um aus luftiger Höhe neuen Ideen, die zu finden und zu bilden sind, auf die Spur zu kommen und das Gedankenepizentrum mit neuer seismographischer Kraft zu füllen. Einmal von den beiden aufgearbeitet, sollte das gemeinsam gewirkte Elaborat gleich einem Wasserfall über die Fensterbrüstung hinab auf den Platz sprudeln und auf diese Weise sämtliche Ängste hinweg spülen, die den Mann bedrängen und ihn in seinem Lauf in die Zukunft behindern. Das Fenster zum Platz eignet sich als Balkon, um in die Welt hinaus zu schauen. Der Weitblick öffnet sich in freudiger Erregung und wendet sich nicht einem Trugbild zu, etwa einem Kahn, der über die vor ihnen liegende Fläche zieht und in fremde Gefilde die schreckliche Kolonne führt, die er als Botschafterin für seine Endzeit erachtet, indem er sie in Verbindung mit seiner Interpretation des Eingangs zum Bahnhof setzt und betrachtet. Angeschaut von oben vereinigen sich die verschiedenen Lichterketten, die sich auf Strasse, Schiene und Platz fortbewegen, zu einem Gemälde von ganz besonderer Anmut. Die Flimmern und Glänzen flackert, blinzelt und leuchtet in unterschiedlicher Intensität und erfreut auf diese Weise in hohem Masse das Herz der Passanten und Passantinnen und herumstreifenden Müssiggängerinnen und Müssiggänger. Er schluckt an der sich selber verschriebenen Sucht, für deren Bezeichnung er im Grunde nur den Namen Tor wählen kann. Die Lichtkegel und Leuchtschriften durchstreifen und durchbrechen mit grosser Kraft das Dunkel, das die Nacht bringt, und erhellen auf diese Weise, was sich als Finsternis über den Tag legt und ihn verscheucht. Er beobachtet mit zurückhaltender Aufmerksamkeit das Lampenspektakel. Das Zusammenspiel der verschiedenen Lichtformationen erweckt den Eindruck und stärkt die Illusion, der ganze Platz sei in Fluss, die Welt um ihn herum in steter Bewegung und auf diese Weise einem ständigen Werden unterworfen. Der für künftige, persönliche Ausrichtungen fruchtbare Wechsel führt Neues herbei und spült Altes, Verbrauchtes, Aussortiertes, Überholtes hinweg. Er hingegen biestert nach wie vor herum und sucht nach Ausflüchten, um nicht vorwärts zu kommen. Aus seiner Sicht bietet das Schauspiel zu viel Bewegung auf. Das ununterbrochene Hin und Her-Wogen, das Sichverschieben des Lichtermeers enthüllt nicht, was das Tor bereits verschlungen und der endgültigen Entsorgung zugeführt hat. Weg ist weg. Das intensive Spiel der differenziert erzeugten Strahlen steht in Widerspruch zur klaren Aussage des Tores. Er starrt Löcher in die Luft und macht diese so zur Wand, die zu überwinden ihm nicht gelingt. In der von ihm geschaffenen, künstlichen Mauer verkeilt sich das Licht. Es dringt nicht an ihn heran, wird von den Löchern, die er aufbaut, verschluckt. Wie kann dieser Hemmnis Abhilfe geschaffen werden? Bedarf es eines jungen, frischen und geistig unverbrauchten Menschen Unterstützung, der ihm aus der Kippe hilft, und nicht der Ausstrahlung einer Stadt, um ihn aus der Hocke in die Senkrechte zu hieven? Viel Jungvolk flaniert auf dem Platz, das die Frau hätte heraufrufen können, um ihren unbekannten und albernen Begleiter zu neuen Freuden zu führen. Aller Alter Leute machen die beiden vor ihrem Fenster unten auf dem Pflaster aus. Jugendliche Menschen eilen kessen Körpers und mit elegantem Schritt über die Fläche hinweg und lassen ausser ein paar neugierigen Blicken von Leuten, die ihnen nachgucken, nichts Bleibendes zurück. Eine Spur legt über den Platz ein Paar, das in trautem Beisammensein seinen Weg hinüber zu einer anderen Strasse sucht und gar keinen Wert darauf verwendet zu verstecken, dass es ein Mann und eine Frau sind, die sich umgarnen und umarmen, als sie bei einem der tragenden Elemente des Bahnhofdachs inne halten und, angelehnt, für einen Augenblick an der Säule verweilen. Auch dieses Paar, heterogen zusammengesetzt, verschwindet, ohne dass es von dem von ihm gelegten Trasse eine Spur hinterlässt. Skaterinnen und Skater ziehen trotz der abendlichen Stunde und der wegen der Dunkelheit etwas eingeschränkten Sicht Runden durch das Areal. Auch sie verschwinden.
Das Tor tilgt jede Spur derer, die es betreten. Ganze Massen von Menschen schluckt es, ohne sie wieder auszustossen, ohne sich zu verschlucken, zu husten oder einen Gluckser von sich zu geben. Er erschauert und gefriert in seiner Haltung. Seine verkrampften und gehärteten Züge lassen in ihrer Spannung jedoch in wenigen Augenblicken wieder nach und gestatten, weicher geworden, ihm, erneut etwas zu sagen. Er meint: «Die Nacht ist voller dunkler Löcher, Aussparungen im Licht, das der Mensch dank seiner Fertigkeit erzeugt. Lichtaugen sind es, die nicht vom Glanz des Lebens innerlich erleuchtet sind. Sie haben den Glanz von Fett, frittierten Fettaugen, glasige, und blicken darum mit matter Kraft auf uns. Diese blinden Lichter, die strahlen und nicht sehen, stehen für jene Menschen, die durch das Tor müssen. Die Welt ist eine riesige Ansammlung von Löchern, fehlenden Buchstaben und beschädigten Informationstabellen, die ihre Aufgabe nicht erfüllen, weil in ihrer vorgegebenen Zahlenfolge unerwarteterweise nicht vorgesehene Angaben in Form von Lücken geraten sind. Der Mensch ist nichts anderes als eine unvollkommene Kopie der Generationen, die ihm vorausgegangen sind und derer Fehler er wiederholt. Die Erfahrungen werden als Löcher von Generation zu Generation weitergegeben. Jede Generation muss die Löcher von neuem stopfen. Der Mensch gibt sich weiter von einer Generation zur nächsten und nimmt dabei Verluste in Kauf. Beim Kopiervorgang gehen allenthalben Elemente weg. Der Mensch gehört von seiner Natur aus zu den Informationsträgern, die ihre Gene weitervererben. Den Bauplan für seinen Körper gibt er an seine Nachkommenden weiter.» Er folgert aus seinen Überlegungen die Frage: «Wird die Dna des Menschen den Menschen überleben oder sich mit etwas anderem verbinden, wie es der Fall bei den Neandertalern war, die sich als Spezies auflösten und deren Gene von einer anderen Gruppe Lebender übernommen wurde, aber nur als Randbemerkung im neuen Gen weiterbestehen? Auf diese Weise überlebt ihre Dna in reduzierter Form im Menschen. Wird mit dem Verschwinden des Menschen dessen Dna weiter existieren oder gar in einem anderen Lebewesen qualitativ besser werden? Das Tor ist in seiner Antwort unerbittlich. Weg muss jener, weg muss jene, weg müssen jene, denen Elemente abhandengekommen sind und die darum nicht mehr weiter streben können. Dem Menschen wird die Erde weggenommen werden. Was ist dann? Die Welt holt sich alles, was gegen sie nicht bestehen kann. Nichts besteht gegen sie. Auf diesem Platz sehe ich tausend ausgebrannte Lichter, die auf das Tor zustreben. Dahinter, hinter dem Tor, wartet nicht ein Eigentor, das der Mensch aufgrund der fehlenden Daten sich selber schiesst und als Fehler umgehend übersehen, wieder gut machen, wegstecken und vergessen kann, um sich mit neuen Elan in andere Aufgabe zu stürzen. Was sich dort hinten verbirgt, ist schlimmer. Das Tor wartet als unbestechlicher Scharfrichter auf uns. Er tarnt sich als Eteignoir, das auf der Lauer liegt, als Deckel, als jener kupferne Trichter, der über eine Flamme gestülpt wird, um sie zu löschen. Die kupferne Klappe erstickt jede Lohe und gibt auch der letzten Glut den Rest, legt das Vergessen über die Gegangenen. Das herzlose Werkzeug besteht aus einem langen Stil und seinem lieblosen Hut, der allem Lebenden über den Kopf gezogen wird, sodass jedes atmende Geschöpf seines Sauerstoffs beraubt wird. Was atmen muss, verröchelt jämmerlich und geht erlöschend in Rauch auf. So lautet die Botschaft des vermeintlich harmlosen Kerzenlöschers. Der Bahnhof ist ein riesiger Schornstein, der erloschenes Leben abfertigt. Als Kandelaber, die beidseits des Weges auf schwarzen Stützen stehen, begleiten die Lichter vor uns das Menschenmaterial auf seinem letzten Gang, erweisen ihm die Ehre und geben das Geleit. Sie liefern dem Bahnhof das Leben, damit über diesem der Qualm nicht einen Mangel an Nahrung erfährt.»
«Poetisch», kommt es zurück, «hast du dich ausgedrückt und mit Rauch hast du deine Gedanken gemischt, den du aus dem Bahnhof heraus gedrückt hast.» Sie bestellt, ohne zu fragen, ein grünes Getränk. Dieses wird gebracht und vor die beiden gestellt. Er schluckt, als ob ihm Galle serviert werde. Im Saft in den Gläsern lauert ein goldener Schimmer, der von vielen Lichtquellen auf dem Vorplatz genährt wird. Das Getränk liegt nicht wie livides Harz im zart-gläsernen Behälter, sondern glitzert wie ein durchsichtiger Kristall, in welchem sich die umgebenden Gegenstände und Formen als Spiegelbild in verschieden schattierten Facetten brechen. Sobald die beiden auf das bauchige Glas sehen, erkennen sie sich als verzerrte Fratzen, die über die Glaswölbung ihre Betrachterin und ihren Betrachter erfassen. «Du musst dein normales Gesicht wiederfinden. Das wird dir nur gelingen, wenn du das Glas leerst und so auch deinen Kopf, damit er frei wird für neue Gedanken. Du wirst dich nicht mehr als Fratze sehen, wenn du auf das Glas siehst.»
«Das Ding wird mich vergiften», erklärt er. «Entgiften», kontert sie. «Nimm einen Schluck und es wird dir besser gehen.»
«Smaragdgrün und Samarkand. Das Getränk sieht wertvoll aus, wirkt heimtückisch und ich soll es trinken.»
«Gebildet bist du. Also kann man mit dir anders als nur dumm reden.»
«Das Nennen von Namen ist nicht der Beweis von Bildung. Namen tragen keinen Inhalt und taugen als Hülsen. Die Stabilität der Namen steht in keinem Verhältnis zu jener der Zahlen, die für klare Werte zeugen. Stösst man durch die Schicht der Buchstaben hindurch, stellt sich heraus, dass hinter diesen nichts ist.»
«Gleichwohl, du hast Namen genannt. Auch wenn es aus deiner Sicht Namen sind, so sind sie doch voller Inhalt wegen der Bilder, die sie assoziieren. Du hast die Namen vorgebracht. Nun lass dich durch diese verführen, so dass du leben wirst. Du musst dich von der Flüssigkeit vor dir beflügeln lassen, dann wirst du auch auf andere Stimmen aufmerksam werden, die dich rufen und nicht betören.»
«Wie die Smaragden von Samarkand. Schein und Trug. Sie marschieren da unten auf, um abzumarschieren. Mit einem Stromausfall, einem absoluten Ausfalls aller Elektrizität sind hier alle des Lichts beraubt.» In einem Augenblick wandelt sich der Platz und seine Umgebung in gänzliche Schwärze. Ihm schwindelt. Seine Klarsicht schwindet. Was bleibt, ist das Brummen der mechanischen Motoren, die aber keine elektrische Energie mehr liefern. Von Bahnhof her kommt Stille. Auch das lärmende Sprech- und Singorchester im Hintergrund des Restaurants schweigt. Schwarze Servietten werden den Leuten gereicht. Die beiden grün scheinenden Gläser wandeln sich in Kelche ohne Farbe. Sie verschmelzen mit der Umgebung, bis sie mit ihr fast eins werden. Er nimmt nur Gerüche auf, die vom Boden aufsteigen. Sie setzen ihm schlimmer zu als vormals die grüne Farbe aus dem Becher. Er befindet sich auf einmal mitten im Bahnhof. Die Halle präsentiert sich als eine riesige, still gelegte, schwarze Disco, die Leichenwagen als Abfahrtsrampe dient. Die Fahrzeuge kraxeln als Käfer, auf welchen die Toten gebunden sind, über den Boden. An den Seiten der Gruft liegen die Kleider der Menschen aufgebahrt und all die Gegenstände und Utensilien, die eine Gesellschaft benötigt, um zu funktionieren, sie reich machen und ihre Güte auszeichnen wie ausrangierte Unfallwagen, zerschossene Armeekleider, entsorgte Mullbinden, Lippenstifte, Kämme und Scheren, Bankkarten, Kreditscheine, Abfallwagen, Staatskarossen, einarmige Banditen und einachsige Elendstransportkarren aus den Gossengassen. Alles wandert weiter, hin auf einen riesigen Schlund, der sich am Rand der Halle öffnet, und in diesen hinein, der alles verschlingt und als endlos hungriger Mund einverleibt und sich öffnet wie ein All, das dunkel vor den Eintreffenden liegt und ohne Ende scheint; Tausende von Sterne, deren Zahl sich ins Unermessliche vervielfältigt, je tiefer das entsorgte Gut in dieses ansonst lichtlose Monstrum dringt, wachsen, je mehr die Schwärze sich weitet, in ihrer Menge. Die Leuchte der Sonnen und ihrer Begleiterinnen haucht dem Raum kein Leben ein. Ihre scheinende Kraft bleibt unerreichbar, der Flug durch das Nichts ungehemmt und endlos. Die Körper verteilen sich über die Flächen und Tiefen, werden eins mit diesen und erlöschen. Ein grüner Bogen zieht ihn an und er hört eine Stimme: «Wir sind nicht mehr im Alter, in welchem man sich über die Lippen mit der Schönheit vermischt. Steh zu dir! Richte dich auf, wenn du in den Spiegel siehst und an deinem Gesicht erkennst, wie viele Jahre du hinter dir hast und wie wenige noch vor dir liegen. Welches Alter gibst du dir?»
Er schreckt aus seinem Taumel auf und gibt verdattert zurück, erschrocken wegen der Direktheit des Vorstosses: «Mein Zustand ist ohne Alter.»
Sie erwidert: «Ich verstehe. Einen Mann fragt man nicht nach seinem Alter. Die Frage könnte ihn, so auch dich, in Verlegenheit bringen. Mit dem Alter ist es so eine Sache. Die damit verbundene Zeit bildet für viele eine Hemmschwelle, die sie nur mit Widerwille überwinden, wenn sie darüber steigen müssen. Doch, merk dir: Die Zeit ist kein Grund, um mich zu schmähen und mein Geschenk zu verschmähen. Das Glas muss du bis zu seiner Neige leeren. Du musst anstossen, trinken und deiner Zukunft in die Augen blicken. Du musst neu lernen, in deiner Biographie zu lesen.»
Er würgt an der Vision, die ihm noch im Halse steckt, und verhindert, dass er einen weiteren Satz sagt, geschweige denn einen Schluck aus dem Glas zu sich nimmt. Die Flüssigkeit wäre ihm im Mund geblieben und dort herum geschwappt. Erneut verdunkelt sich die Sicht und projiziert nunmehr in seine Vorstellung einen Teich voller Algen, Wassergräser und blütenloser Seerosen, die ihm im Mund liegen. Allerlei Getier schwimmt in der Senke und stösst an seinem Gaumen an, guckt auch in die Halsröhren hinab. Insekten und Frösche schauen ihm aus dem Maul, hinab auf den Platz und lassen ihre Zungen nach Fliegen spicken, die vorbei sirren. Die Amphibien und Käfer bilden mit ihrem Gequake und Gezirp das Orchester, das jene begleitet, die gehen. Ihm ist die Begleitmusik, die ihm wie aus der Erde ins Ohr steigt, er aber aus seinem Rachen herauskommend wähnt und den Gehenden nachsendet, ungeheuer peinlich. Er fasst sich und sucht zu vergessen, was er den anderen Menschen antut, indem er sie mit tierisch gezeugten Lauten auf das Tor hin jagt. Sichtlich benommen von der Sicht auf die eben durchlebte Projektion seines Innern, arg mitgenommen von den eigenen Gedanken und zerzaust in den Gefühlen, stammelt er lediglich: «Einer muss durch. Der andere auch. Ich sah durch das Tor.»
«Das sehe ich auch. Du siehst aus, als seist du bei deinem Tor in eine unsichtbare Tür oder einen der beiden Pfosten getrampelt und als hättest du dir dort nicht eine blutige Nase oder eine Beule geholt, aber auch keine Ziste, die du ausdrücken kannst, so dass deine Ängste über diesen Weg abfliessen und deine Sorgen durch diese Körperöffnung entwässern werden. Da muss etwas Schlimmeres vorliegen. Doch merk dir Folgendes: Wir stehen hier nicht für das Tor an.» Sie schaut den Mann an, der leicht die Lippen bewegt und anschliessend leckt. «Zudem will ich gar nicht, dass du mich küsst. Du musst auf eine andere Art aufstehen. Die ersten Schritte zu deiner Besserung – und somit vorwärts – bestehen darin, dass du dich stärkst.»
Er greift nicht zum Glas, sondern erkundigt sich vielmehr: «Warum kümmerst du dich um mich?» Sie entgegnet kokett: «Weil es für den Menschen kein Alter gibt, in welchem er nicht voraus schaut. Mein Lieber, wenn etwas vor dem Ende steht und du diesen Eindruck hast, dann kannst du diese Vorstellung an dich herankommen lassen. Ihr vorzugreifen, brauchst du nicht, auch wenn du noch jung bist. Solange du Pläne schmiedest, bahnst du dir einen Weg, den du zuversichtlich in Angriff nehmen und beschreiten kannst. Wenn du diesen Weg für dich vorzeitig ausschliesst, dann liegst du vor deiner Zeit flach und kriegst in deinem geistigen Sarg, der Liege, die den Lebensmüden als Lebensbahre dient, einen Deckel aufgesetzt und zwar so heftig, dass es knallt. Ich habe nicht behauptet, dass du einen Knall hast. Du bist aber auf dem besten Weg dahin.» Er schaut das grüne Getränk an, das ihm einen derartigen Schrecken versetzt hat. Die ungedeckte, bauchige Phiole leuchtet nach wie vor garstig verlockend. Er muss nur zugreifen und den Inhalt hinunter stürzen, um sich von dessen Qualität ein Bild zu machen und zu erkennen, ob die Flüssigkeit seine Verstandeskraft trübt, spitzbübisch verfremdet oder ob der Trank den Bauch nötigt, mit einem massiven Ausbruch an Magensäure durch die Speiseröhre zu antworten. Ihm ist nicht nach Experimenten zumute. Das Tor rückt ihm unverdrossen und ohne den Druck zu mindern auf den Leib. Er kommt sich vor, als sei er an diesem Abend wiederum um Jahre gealtert und somit deutlich über seine physisch gefühlte Befindlichkeit hinausgewachsen. Wenn er sich weiterhin Abende lang vor dem Durchgang durch das Tor drückt, in den Beizen herumduckst, addiert sich sein Alter um weitere Jahrzehnte, die er nicht durch jenes Loch geht. Spitzbübisch kommt ihm der Gedanke vor. Die Idee lässt ihn innerlich grinsen. Er kann endlos in den Gasthäusern sitzen und zusehen, wie die Zeit an ihm vorbei eilt. Für einen Moment ist er mit sich zufrieden. Er will sich nicht bewegen und der Zeit auch keine Blösse geben, wo sie ihn ergreift und mit sich zum vermaledeiten Eingang zieht. Er sitzt vor dem Glas und greift nicht nach diesem. Hätte er seine Hand nach der grün funkelnden Flüssigkeit ausgestreckt, wäre dies einer gefährlichen, eine der Zeit in die Hände spielenden Handlung gleich gekommen, der er tunlichst keinen Vorschub leisten will. Verhält er sich still, bleibt die Chance gewahrt, dass die Zeit ihn vergisst und die höllische Passage drüben beim Bahnhof ihm erspart wird. Sich nicht bewegen und nicht regen verheisst Zukunft und Ausblick. Dieser von ihm gesetzten Devise frönt er Abend für Abend, auch wenn diese Frau in seinen Abend getreten ist und das Gleichgewicht, in welchem er sich wähnt, stört. Die Frau bedeutet Bewegung in seinem Leben. «Du lächelst. Das nenne ich eine begrüssenswerte Entwicklung. Sie wird unserem Beieinandersein zu Gute kommen. Du wirst dich nun nicht dagegen wehren, indem du dich entwürdigst und mein Geschenk ausschlägst, stattdessen kräftig und kontrolliert zupackst und mir mit deinem freundlichen Gruss zutrinkst.» Er überlegt, wie er die Sache mit der Frau zu einem Ende bringen, sich ihrer entledigen kann. Ein Widerstreit erwacht in seinem Inneren und entfacht eine unwillkommene Unruhe. Eigentlich gestaltet sich die Angelegenheit einfach. Er muss nur aufstehen und gehen und zwar in die andere Richtung als jene, die das Tor weist. Er freut sich bereits auf den morgigen Tag, hat er doch heute der unbarmherzigen Zeit für die Länge einer ganzen Nacht und den auf sie folgenden Sonnen-Stunden wieder ein Bein gestellt, indem er nicht durch das Tor tritt. Er denkt an die neue Entwicklung und die Wirren, welche die ungewohnte Situation mit sich bringt. Er wird sich morgen, wie immer, erneut hinüber in das andere Restaurant unten am Platz begeben mit dem Unterschied, dass er schaut, ob sich die Frau wieder dort aufhalten und seiner warten wird. Der Frau ausweichen kann er nicht, will aber, selbstbewusst, seine Position halten. Er muss regelmässig am Platz ausharren, um der Zeit zu begegnen und zu beobachten, wie die Gegenwart der unvermeidlichen Zukunft trotzt und trotzdem an ihm vorbei geht hinüber zum Tor. Eines Abends wird die Gegenwart nach ihm greifen und ihn mitnehmen. Wo befindet sich der Frau Platz in dieser Entwicklung? Sie, die Platzdame, von der er nicht weiss, wie beständig ihre Präsenz am Ort ist, hat er sie doch, im Gegensatz zur ständig vorbeieilenden Zeit, an den Abenden zuvor nicht bemerkt oder nie beachtet, trübt das klare Bild, das er von sich und seiner Umgebung hat, vom Tor, vom Warten, von der Zeit und hemmt die Vorfreude auf die kommenden Tage in einem Ausmass, dass er verwundert zur Frau, als wäre sie die still stehende Zeit, hinüber blickt. Er ist von seiner Tat, seinem Entscheid überrascht, betrachtet sich überrumpelt, was seiner Handlung nicht Abbruch tut. Er blickt die Frau länger an. Er entdeckt, dass ihre Augen Farbe haben. Sie schauen ihn braungrün wie das Ästemeer eines Tannenwaldes an. In den Zwischenräumen der Zweige und vorbei an den Stämmen und Nadeln glitzert Licht, das sich in seiner Wahrnehmung zu einem Leuchten vereinigt und zu seinem Erstaunen, zu seiner Überraschung, zu einer neuen Erkenntnis führt. Die Eingebung ist nicht wie die Zeit in steter Bewegung. Sie hält vielmehr in ihrem Bewegen inne, präsentiert sich stationär wie ein Gemälde, das aus seinen Farben und Formen lebt und über diese Mittel neue Empfindungen erstehen lässt. Das Leuchten des Platzes spricht, springt ihr aus den Augen. Sie strahlen Leichtigkeit aus und keine Schwermut. Blau hätten ihn die Augen anschauen können wie das wolkenlose, tiefleuchtende Azur, das den Blick in die Ewigkeit vermittelt. Oder rot wie die ausgeweinten Augen des Elends. Welche Farbe haben seine Iris? Die Frage durchzuckt ihn wie auch das bedrängende Gefühl, einer brüsk eingetretenen Situation ausgeliefert zu sein. Er befindet sich in direktem Kontakt zur Frau. Seit langem sass er keinem Menschen so nah. Das Gemeinsame, das Ineinanderfliessen der Blicke packt ihn. Erstaunt stellt er fest, dass er sich nicht zurück zieht, nicht ausweicht, sondern den Druck aushält und die Brücke, die sich zwischen den beiden Pupillenpaaren, dem seinen und dem ihren, gebildet hat, nicht kappt. Das Interessante, das er in sich wahrnimmt, analysiert und spontan, aus seiner Sicht, in überaus schnellen Überlegungen folgert, besteht in der überraschenden Erkenntnis, dass ihrer beiden Augenkontakt ohne Dauer und Ablauf ist. Er erkennt in ihrem Blick kein Alter. Die Farbe grünbraun strahlt in vollkommener Klarheit aus. Das Licht, das aus dem Augenpaar dringt, erweist sich ohne Makel. Überwältigt von dem Anblick erzittert seine Hand, jene, die er auf den Tisch gelegt hat. Um ihr Halt zu geben, fasst er mit traumwandlerischer Unsicherheit das Glas, das die grüne Flüssigkeit enthält. Er wähnt, er sei einer fremden Macht ausgeliefert, die ihn mit starker Kraft führt. Seine Gedanken taumeln. Doch der Griff gibt ihm Halt, das Licht weist ihm eine Richtung. Er sieht sich in einem Gang, in welchem kein Weg nach links und keiner nach rechts abzweigt. Die Wände rücken näher an ihn heran, so dass er sich nicht mehr umzudrehen vermag und ausweichen kann, um über einen anderen Weg davon zu gehen. Auch das Gesicht der Frau kommt heran. Er spürt, wie seine Haut und deren Härchen am Gangrand vorbeistreichen und die Wand berühren.
Ihm wird eng um die Brust und auch bewusst, dass er nie die Weite der Stadt, ihrer Gassen und Strassen betritt. Dort bieten sich Suchenden Tausende von Verstecken als Unterschlupf an, auch ihm, wo er sich vor Tor und Frau verbergen kann, in der Geborgenheit von Mauern, die das zeitliche Geschehen und dessen Bürden an ihm vorbei schleusen. Städte bestehen aus verschiedenen Bereichen: Jenen, der die Behörden, offizielle Plätze und Paläste – bei kleinen Ortschaften im geringsten Fall das Gemeindehaus – einfasst, dann folgen die Wohntrakte der solventen und weniger betuchten Bevölkerungsschicht und schliesslich jene Quartiere, wo die Abgeschobenen untergebracht sind. In welchen dieser Bereiche soll er Zuflucht suchen? Wo stösst er auf Mauern, die ihn abweisen? Wo begibt er sich in Gassen, die ihn aufnehmen? Eine Stadt setzt sich aus verschiedenen gesellschaftsbestimmenden Faktoren zusammen. Irgendwie bereut er es, dass er nicht in dieses Gebilde hinaus gezogen ist, stattdessen beim Bahnhof wie ein Ermittler verharrt, der heimlich nach Indizien zur Untermauerung der eigenen Gedankenketten späht. Bei ihm kommt hinzu, dass er nach einer Zufluchtsstätte aus ist, die alles von ihm fern hält, was sich vom Bahnhofvorplatzgelände und seinem lebenden Inventar auf ihn setzen und durch die Tiefen der existenzbelastenden Abgründe reiten will. Darum observiert er ausgiebig das Tor, das ihm beklemmend in die Glieder fährt. Die Geheimnisse der Stadt, ihrer Strassen, Vorhöfe, ihrer Winkel und der mit diesen Orten verbundenen Menschen sind ihm unbekannt. Diesbezüglich sammelte er keine Kenntnisse, die er jetzt gegen die ihn bedrängende Piste – fleissiges Förderband der Menschen auf das Tor hin – einsetzen kann, um sich aus der Schlinge zu befreien, die ihm das Gelände vor seinen Augen um den Hals legt. Woher kann er sich Hilfe und Unterstützung erhoffen und holen? Nicht öffnete er sich der Stadt, so dass sie ihm jetzt zu Hilfe eilt. Nicht begab er sich unter die Menschen, mit denen er das Gespräch suchte und ihnen vertraute, so dass eine Art Zuneigung entstand wenigstens für die Dauer der Unterhaltung, damit dem ersten Kontakt an anderem Tage ein zweiter folgt. Auf diese Art wäre eine Beziehung entstanden, für die er zwar nicht das Wort Freundin oder Freund verwenden konnte, die Kontakte aber, sei es in der weiblichen oder männlichen Form, als Kollegen oder Bekannte hätte benennen können. Auch jetzt bemüht er sich nicht, in die inneren Strukturen der Ortschaft zu gelangen, um dort Leute zu treffen. Die Zeit ist an ihm vorübergegangen, als ob er tatsächlich im Geist, und nur in diesem, durch ein städtisches Labyrinth geirrt sei. Das pulsierende Geschehen im sprudelnden Wirtschaft- und Lebenszentrum der Region, das zu bewältigen es Zeit und Kraft erfordert, hat er, der Kontaktvermeider, ausgeklinkt und klein gemacht. Ihn selbst stört das nicht gross, denn er sieht sich als jemanden, den die Zeit nicht findet und somit vergisst. Auch möchte er sich endgültig versiegeln und so verschwinden lassen, um sich auf diese Weise aus der Zeit zu nehmen. Eine Agglomeration bietet viele Möglichkeiten, um unterzugehen und vor der Wahrnehmung der Gesellschaft abzutauchen und endgültig zu verabschieden, so dass kein Mensch sich mehr nach ihm sehnt. Geschähe dies, er würde zeitlos leben, für sich und niemand anderen existieren, vergessen, abgesondert und versorgt. Das Warten am Bahnhof entspricht dem Ansatz für einen Sprung in eine andere Welt. Die Frau hat ihn in die Zeit zurück geholt. Für ihn kommt diese überraschende Belebung einem Auftauchen aus einem seichten Nass gleich, aus einem Sicherheit gebenden, ergötzlichen Bad, dem eigenen Ich, das er verlassen muss, um unter Seinesgleichen zu sein. Das Ich war ihn ihm die letzte Zeit auf weiter Strecke nur Gedanke. Jetzt ist es erneut Sache, gegenständlich, greifbar, angreifbar und er ausgeliefert, berührbar für andere. Er stösst am Gangrand an.
Wie er aus seiner Trance erwacht, berührt der Mund den Rand des Glases. Die Flüssigkeit, wenig bitter und nicht zu süss, träufelt, wie mit einer Pipette verabreicht, über die Lippe. Den Geschmack empfindet er nicht als unangenehm. Er nimmt einen stärkeren Schluck. Ein Geistesblitz durchfährt ihn. Eigentlich wäre jetzt der richtige, der letzte Zeitpunkt, um zu verschwinden. Doch das Getränk bemächtigt sich bereits unwiderruflich seiner. Der geschluckte Inhalt nimmt als überraschender Schweissausstoss, ausgelöst und hervorgerufen auf den Augenblick, nicht den nächsten Ausgang aus dem Leib, den er findet. Er feuchtet weder die Stirn noch die Handflächen, sondern sinkt in den Körper ein. Sein Blick steigt über den Glasrand empor. Die Frau lächelt ihn an. Er zieht die Mundwinkel wenig hoch und schlürft ein weiteres Mal am zierlichen Becher, der seine Lippen berührt. Er lässt seinen Sinnen freien Lauf, was ihm schliesslich für den knappen Ansatz eines schrägen Lächelns den schwachen Antrieb verpasst, ohne dass jedoch Worte folgen, die eine Erklärung für die angedeutete Freundlichkeit liefern. Der leicht geöffnete Mund gehorcht einmal mehr dem Gesetz der Sprachlosigkeit. Dem Schluck folgt kein Ruck. Das angedeutete Lächeln erlischt. Die Frau blickt zufrieden. Der Mann rückt nicht zurück. Er verbleibt in seiner aufrechten Pose und hält das Glas vor sich. Der Hand wirkt nicht verkrampft, umschliesst vielmehr locker die schmuck gearbeitete Schale, die er wie einen Kelch vor sich hält. Zwischen den Fingern leuchtet das leicht schlenkernde Grün im Glas. Die Flüssigkeit schwappt auf halber Höhe des durchsichtigen Gefässes. Der transparente, schillernde Saft lodert auf kleinem Feuer im Behälter. Der Flüssigkeit Kraft fliesst angenehm in den Rachen und bekommt offenbar auch ihm, entfaltet eine wärmende Wirkung, ohne dass daraus ein Alkoholrausch entsteht, der den Geist in eine bestimmte, andere Richtung weist, als der grüne Trank es tut.
Das Elixier, dessen Namen er nicht kennt, durchdringt seine Kehle und setzt sein Denken aus. Genuss nimmt den frei gemachten Platz ein. Wie eine lange Schlange, die Midgardschlange, keineswegs jener ähnlich, die über den Platz, einen Stock tiefer, auf das Tor zukriecht, windet sich der lindernde Fluss wärmend durch die Glieder und Venen, als gehörten diese zu einem verdorrten Körper, dem es seit geraumer Zeit an nachgeführtem, kräftendem Nektar mangelt. Das ungewohnte, auffrischende Empfinden lähmt vorerst die Muskulatur und lässt ihn in Bewegungslosigkeit still halten. Zu viel bricht an diesem Abend über ihn hinein: Der Tapetenwechsel vom Gehsteigniveau in den ersten Stock, die Reise zum neuen Restaurant ins Unbekannte, die aufdringliche Frau, die seine Einschätzung des Tors ins Lächerliche zieht, indem sie ihm das Feld, das er ebenerdig kennt, aus einer neuen Warte präsentiert und so eine neue Perspektive öffnet. Seine Werte geraten derart ins Wanken, dass ein frechgrünes Getränk ihn in einen momentanen Stillstand führt. Die Folge davon nimmt er an sich selber wahr: Sein Gemütsbefinden wird wie als rebellische Reaktion gehörig aufgewühlt. Dennoch bewegt er sich kaum. Wahrlich, fragt er sich, ist er ein Kind seiner Zeit, das seine Hände in den Schoss legt, wenn es unverhofft auf Schwierigkeiten trifft, aus der Komfortzone herausgeholt wird und sich mit einer neuen Situation konfrontiert sieht? Er muss sich aus der eigenen Umklammerung lösen, die wie eine unerwartete Entwicklung, ein nicht vorhergesehener Zwischenfall, wie ein von fremder Hand herbeigeführter Schicksalsschlag seine Lebensbahn aus dem gewohnten Geleise wirft. Von der Frau kann er sich nicht mehr befreien. Zu nahe tritt er ihr mit seinem Entscheid, von dem Getränk zu kosten, auch wenn er an diesem bisher erst genippt hat. Die Wirkung überzeugt ihn dennoch. Ihre Augen sind braun, der Saft grün und er sieht nicht rot. Die Erkenntnis löst in ihm eine befreiende Reaktion aus. Die Blockierung seines Körpers, seiner Muskeln, seiner Sehnen löst sich. Er atmet freier. Der Groschen fällt und löst wie in einem Tingeltangelkasten eine ganze Reihe von Mechanismen aus. Der golden leuchtende Platz funkelt auf einmal auch in anderen Farben als das auf weiss getrimmte Licht, das aus zahlreichen Lampen dringt. Ein Schauer bunt kolorierter Impulse durchdringt die Umgebung, unten, auf dem Pflaster, auf der Strasse, über die Hauswände. Die hereinbrechenden, frischen Impressionen übertragen sich ebenfalls auf ihn, fassen ihn ein. Eine ganz überraschende, seit seiner Kindheit, seit seiner Jugendzeit, seit seiner Mannheit nicht mehr gekannte Lust auf neue Unternehmungen überkommt ihn. Die wunderbare Botschaft vermittelt sich ihm in einer geheimen Weise, füllt seine Umwelt aus und auch ihn, ohne dass er weiss, was ihm geschieht; so geheim dennoch wieder nicht: Denn der Frau entgeht nicht, wie der Mann reagiert. Alles, was sich bisher standhaft geweigert hat, aufrecht zu gehen, verlässt nun die gebückte Haltung. Sein Lächeln quittiert sie mit den Worten: «Der nicht ganz zartrosene Tint unseres Zahnfleisches verrät, dass wir nicht mehr jung sind. Das ist kein Grund, dass wir uns nicht ansehen. Plappern ist zuweilen wertvoller als Schweigen und übertrifft das Schöngerede der Philosophen. Der Sud scheint dir zu bekommen. Ich bestelle schon mal ein weiteres Glas, damit kein schaler Nachgeschmack von Durst in deinem Rachen kleben bleibt und deine Freude trübt.»
Völlerei ist der erste Gedanke, der ihn als Reaktion durchzuckt. Der Gedanke geht, wie er gekommen ist. Über den Glasrand angepeilt, sieht der Platz für einmal, auf einmal wie ein geläuterter Bezirk aus. Andere Menschen meint er zu erkennen, neue. Nein, es sind die Gleichen, geartet, geformt und ins Leben gestellt wie er selbst, die sich auf dem Bahnhofplatz tummeln und zum Teil unterschiedlichen Betätigungen nachgehen. Er macht verschiedene Formen der Beschäftigung aus. Die Mehrheit der Leute eilt schnellen Schrittes in Richtung Bahnhof oder kommt nicht wesentlich langsamer von diesem her. Etliche stehen herum und tauschen sich mit anderen aus. Andere streichen den Schaufenstern und Geschäften entlang und betreten gar die Verkaufsstellen. Da ist nichts von auf das Tor hin geschalteten Wesen, die sich wie er in der Runde drehen, um ihrem Schicksal listig zu entgehen, indem sie nicht vorwärts auf das Tor zustreben. Das Bild des allverzehrenden Tores hat sich von ihm verabschiedet, hat den Platz frei gemacht und einer neuen Vision der Welt den Weg geebnet. Gebannt schaut er die Frau an. Er rückt gleichsam näher an sie ran. Sie gleicht nicht einer Schachtel, die er, klaubend aus dem Vorrat der Schablonen geschlechtlicher Zugehörigkeiten, mit einer Etikette menschlicher Selbstbestimmung versehen muss. Steht ihm zu, über die Frau als Sache zu reden, sie sogar aus einer utilitaristischen Überlegung heraus voreilig oder voreingenommen wertend zu beurteilen? Eine weitere Frage schiebt sich einmal mehr vor. Er zuckt. Er darf nicht noch einmal dem Grübeln verfallen. Die Präsenz seiner Nachbarin scheint ihn sichtlich mit früheren Überlegungen zu verbinden, denen er ausgiebig nachhing, als er sich auf dem Weg zur Festigung seiner Identität befand. In seinem aktuellen, einsiedlerischen Lebenszustand müssten ihn jene Tage nicht beschäftigen. Offenbar holen ihn die früheren Erörterungen über sein Selbst ein und führen ihn zurück in die Vergangenheit seiner Adoleszenz, in welcher er sich durchaus mit existentiellen Wesenheiten auseinandersetzte. Dennoch wagt er sich an die Fragestellung heran: Gibt die Natur dem Menschen vor, wes Geschlecht er ist? Mit seinem Gegenüber, der Frau, verbindet er eine weitere Assoziation. Ihre Zahnfleischbemerkung beschäftigt ihn. Die Dame ist wie er nicht sehr jung – aber berufstauglich. Hat das Alter ihre Neigungen und Vorlieben transformiert? Die alten Sorgen, die alten Unruhen, von denen er dachte, sie seien passé, drängen sich vor. Die Zeit holt ihn ein. Das Karussell, das ihn, kreisend um den Platz, bewegt, beginnt erneut zu drehen. Die ehemaligen Phantasmagorien tauchen auf. Die Zeit, die ihm bisher derart zugesetzt und an seinen Stuhl abendelang festnagelt, bis er die Frau trifft, wirft über ihn ein weiteres Mal ihr Netz. Ihm gegenüber sitzt die Frau, die ihm jedoch die Zeit weg nimmt als bestimmenden Faktor für sein Getriebensein, das ihn, gejagt und doch gelähmt, vor dem Tor zum Bahnhof festsetzt. Wer ist diese Frau? Ein liebendes Wesen? Seine Gedanken tragen ihn erneut weit weg, tauchen in eine Sphäre ab, die Mensch und Sache vermischt; einen Bereich, in welchem die Anschrift des Menschen, die Selbstdarstellung und dessen Qualifikation unter einem im Grunde unerheblichen Label nach dem geschlechtstechnischen Motto ‘Es ist schick, gender zu sein’ wichtiger sind als dessen natürliche Ausstrahlung. Namen sind Schall und Rauch, heisst das Sprichwort, das sich in der Jetztzeit wieder bewahrheitet. Ein ganzes Arsenal an Kampfnamen und Befindlichkeitsaxiomen stellt die ihn umgebende Sozietät auf, damit der Mensch sich aus diesem Rüstzeug bedient, um sich sicher und eigenständig durch die sozialen, kulturellen und libertären Kanäle des Lebens zu bewegen, welche die Gesellschaft auslegt, damit die Individuen sich ausleben, weiterentwickeln, formen, vermehren und vieles andere noch bewerkstelligen können. Aus dieser Perspektive heraus folgert sich für ihn die Frage: Was ist diese Frau? Ein Faktor in einem Raster, das dazu dient, Menschen beliebig nach gewissen Vorstellungen einzuteilen? Oder doch ein fühlendes Wesen, aber ganz anders veranlagt als die Masse, die zielsicher über den Platz eilt? Die Menge bevölkert diesen. Trotz seiner Allzeitbeobachtungen hält er eine grosse Distanz zum Geschehen, das ihn bannt, so gross, dass er jenen Menschen, die über das Pflaster schreiten, nicht in die Augen blickt und sie fragen kann, was die Zeit mit ihnen anstellt, wenn sie nicht ihrer Lohnarbeit nachrennen, die ihren Lebensplan bestimmt.