Rückt vor

Die Strasse, an der sein für den Abend gewählter Aufenthaltsort grenzt, mündet auf den Platz. Der von ihm gewählte Aussichtspunkt befindet sich in einem Restaurant, dessen eine Ecke leicht auf das vor ihm liegende Bahnhofsgelände hinaus ragt, er jedoch dieses nicht vollständig überblickt. Verschiedene Gasthäuser teilen sich mit anderen Häuserfassaden und schlanken Vorbauten, aufgestellt wie eine Umzäunung, in einem Halbbogen den Zugang zum Platz. Sie gewähren unterschiedliche Möglichkeiten einzukehren, sich zu verpflegen oder in Betrachtung der Umgebung zu verweilen. Etliche kulinarische Angebote hat der Gast zur Wahl. Er hat die Qual der Wahl und den Gast zur Qual, sofern dieser ungebeten an ihn herantritt. Ihn lässt man in Ruhe. Eines haben die Lokale gemeinsam: Sie befinden sich nahe am Bahnhof. Sie dienen der äusseren und der inneren Einkehr – wie das Leben auch. Er schaut auf das Bier und sinniert über seine Überlegung für eine Flucht in ferne Länder nach, zu der ihn die Neugier treibt, wie auch über seinen Hang zum Gang zum Tor. Die Sehnsucht nach einem Wechsel, näher zum Tor hin, erwacht. Zu seiner Seite ragt ein Wirtshausschild aus einer Fassade auf den Platz hinaus. Es macht ihm eine lange Nase, meint er, als ob es seiner spotte, sich ihm in den Weg zum Tor stelle, verbunden mit der Aufforderung, es, das Schild, zu überwinden, wenn er hinüber zum Bahnhof will, um sich auf diese Weise davonzumachen aus der Region, den Strassen, der Gaststätte, die er kennt. Das Schild lädt ihn gleichzeitig ein, doch hinüber zu kommen, zu wechseln in das fremde Lokal, für welches die Anhängevorrichtung an der Fassade wirbt; zu gehen wie in ein anderes Land, das seine Neugier kitzelt, und die Lunge mit frischer Luft zu füllen.

Er beschliesst dem Drängen nachzugeben und entscheidet, am folgenden Abend die dem Bahnhof näher liegende Gaststätte aufzusuchen. Er bezahlt schnell entschlossen das Bier, bricht auf und wendet sich, den Rücken dem Bahnhofgebäude zugewandt, seiner angestammten Nachtbleibe zu.

Er rückt ein Lokal vor. Am folgenden Abend kehrt er zur gewohnten Zeit – näher zum Bahnhof hin – ein Haus weiter ein. Dieses grenzt an den Weg, der vom Wirtshaus zum Tor am Bahnhof führt. Auch der Ort, dem er am Vortag seine Aufwartung noch gemacht und nun schmäht, liegt an dieser Strecke. Das neue Lokal unterscheidet sich nicht in vielem vom gestrigen. Als ob sich das Leben nicht geändert hätte. Er blickt vor sich hin und stellt sich die Frage: Fühlt er sich, das Bier vor sich, verjüngt? Schicksalstrug, sagt er sich und glaubt nicht, dass er, indem er die Stätte seiner Abende wechselt, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen hat. Er wagte einen Entscheid. Dieser hat ihn vorwärts gebracht, aber nicht unvorsichtig und unbedacht zu weit nach vorn. Er kann zurückkehren. Der Blick auf das Tor zum Bahnhof ist der alte geblieben. Er erkennt keine Neuerung, keine Erweiterung seines geistigen Horizonts. Nach wie vor schaut er auf die bekannte, lichtdurchlässige Bahnhofswand.

Das neue Lokal ist traditionell gehalten und eingerichtet. Die frei gelegten, antik anmutenden Tragbalken aus festem Holz stützen Decke und Wände, wirken, als formten sie ein archaisches Gerippe, das das Haus zusammenhält. Er sieht sich angesichts der ihn umgebenden Strukturen einer Lunge ausgesetzt, die den Atem verschiedener Generationen und Gäste – kurz: der sich wandelnden Zeit transportiert. Im Inneren tickt der Takt der gewohnten Arbeitsabläufe. Durch die grossen Fassadenfenster strahlt die Innenwelt des Lokals nach aussen. Ebenso dringt durch die einladend gross bemessenen Glasflächen und die Ventilation neben Luft und Licht die Aussenwelt in nicht knappem Masse in die Gaststube hinein und bringt auf diese Weise die Moderne in die künstlich erhaltene Antiquität und Rustikalität des Raums. Dessen Ränder sind ohne Haut und Fleisch, wirken wie ein von Wirbelsäule, Rippen und Brustbein eingefasster Körper, der als strapazierfähige Masse die Gäste umschliesst und den Eindruck erweckt, er sei kompakt gefügt. Er fühlt sich an dem Ort sicher und geborgen, obwohl er durch die ausladenden Sichtöffnungen den Vorplatz des Bahnhofs im Überblick hat und sich wegen der grossen Fenster der Aufmerksamkeit der Vorbeigeheden ausgesetzt ahnt.

Er stellt sich vor, er schaue zwischen den Skelettteilen, die als Rahmen das Fenster tragen, hindurch auf das Tor und sitze gleichzeitig im Schutz einer sicheren Behausung. Das ihn umgebende Gebein mutet an, als wäre es aus Gitterstäben gefügt. Befindet er sich in einem Gefängnis, so dass er, wollte er es, nicht zurück in das Lokal von vormals, vom vorderen Tag zurückkehren kann? Er erkennt das untrügliche Zeichen: Zurück in das Lokal, aber nicht in der Zeit. Ein Zurück ist nie einfach ein Zurück, sondern fasst gleichzeitig ein Vorwärts mit ein, obwohl die Schritte nach rückwärts gehen. Er hat aber jetzt den Blick vorwärts gerichtet, denn dorthin weist und geleitet ihn die unbestechliche Zeit, auch wenn er die Rückkehr in das Lokal von gestern als einen rückwärts gerichteten Fortschritt betrachtet, dem er, so seine Stimmung nun, keinen Schritt folgen will. Auf das Tor hin will er nicht, ebenso wenig retour in seiner Lebenstour. Von der alles messenden Einheit Zeit ist er festgesetzt, die ihn erbarmungslos in ihrer Art und Weise in seinem Sein vorwärts treibt. Mauern und Fenster des Lokals formen eine Grotte, die ihn einfasst und nicht loslässt, festhält in einer stationären Gegenwart, in der ihn lediglich die Betrachtung des Tores voran gehen heisst. Die Passage ist nach wie vor da und heisst ihn voran zu schreiten auf den Durchgang, der in den Bahnhof mündet. Einquartiert ist er an diesem Ort wie in einer Zelle, die Existenz heisst, zeitlich bedingt eingegrenzt ist und den Ausgang nur durch das Bahnhofstor gewährt. Solange er auf dieses stiert, hat er es nicht durchschritten und die Zukunft nicht hinter sich gebracht.

Das Tor, das er erneut mit den Augen fasst, blickt ihn als neugieriges Loch an, als wolle es ihn bei den Händen fassen und in eine andere Welt geleiten; in keine neue, auch wenn kein menschlicher Geist ihren Inhalt kennt; aber doch alle wissen, dass sich hinter diesem Tor eine Welt verbirgt, aus welcher niemand zurückgekehrt, um zu erzählen, wie sie beschaffen ist und ob sie überhaupt besteht. Das Tor ist real. Er betrachtet es. Er erkennt den ihn sattsam heran winkenden Durchgang ganz klar.

Ein frisches Bier wird aufgetischt. Im Getränk strömen lebensfroh, munter und perlend die Sauerstoffkristalle an die Oberfläche. Der Schaum steigt strahlend als prächtige, weisse Krone über den Glasrand hoch und wölbt sich auf, ohne über den Rand zu kippen; wie ein Himmelsgewand; leicht wie eine liebliche Schleierwolke, die durch das Himmelsblau zieht und keinen Wolkenbruch heranführt; auch keinen Bruch beim Wetter, wenn sich im Wolkenmeer die Kräfte sammeln und sie anschliessend in einem riesigen Tohuwabohu als Blitz und Donner ineinander geraten und auseinanderfahren und dabei der Hitze das Genick brechen wie eine Stahlstange dem Hasen seinen Hals, der zur Schlachtbank geführt wird. Er blickt zum Tor hinüber, während er am Glas nippt und nickt: Wie eine Stahlstange, welche die Halswirbel seines Rückgrats bricht, so dass es mit dem getroffenen Menschen aus ist.

Er schaut weg, geniesst den Anblick des Getränks und überlegt sich, wie das Leben unter einer weiss schimmernden Daunendecke aussieht, ohne dass es ihm aber gelingt, die Stätte, wo diese Wärme spendende Decke liegt, zu eruieren. In den Gedanken schätzt er sich an das Lokal gebunden ein, wo er sich eben befindet. Er sucht sich abzulenken. Die Gespräche, die er mithört, sind wenig berauschend. Gespräche, die sich um sich selbst drehen, welche die eigene Unentschlossenheit, die eigene Unsicherheit der Sprechenden, die eigene Unwägbarkeit im Leben zum Gesprächsstoff erheben, den Gehalt aber wie zu Schaum aufgezogener Schnee über dem Bier in sich zusammenfallen lassen. Er nimmt erneut einen Schluck aus dem Glas. Ohne Kraft erscheint ihm das Gesagte, Gehörte; ohne Gärung, die das Leben verwandelt, Zucker in Verzückung umwandelt, um Rausch zu erzeugen und den Menschen in eine andere Welt zu tauchen als jene, die ihm zusetzt, und den klaren Geist zersetzt, so dass sich ihm neue Horizonte öffnen. Er observiert, wie sich der Schaum über dem Bier gleich dem Traum nach dem ewigen Leben auflöst. Die Flüssigkeit im Glas ist kontinuierlich der Wärme des Raums ausgesetzt. Dahin schmilzt die weiche, prickelnde Kappe des nun leicht temperierten Getränks, zerfällt Stück für Stück und wird wieder Bier, aus welchem es geboren wurde. Sein Blut bleibt im Keim der Betrübnis stecken.

Er wendet sich einmal mehr dem Tor vor ihm zu und betrachtet es mit wachsendem Interesse. Das Tor spricht eine klare Sprache. Viele Leute gehen hindurch, nichts ahnend von den Überlegungen, die er am Biertisch anstellt und in welchen er endlos festklebt. Er fasst sein Getränk mit den Augen. Über dem Bier hat sich die weisse Krone endgültig verflüchtigt wie die Hoffnung, dass er dem Tor entkommt. Das Tor gewährt eine stabile Sicht in das Innere des Bahnhofs. Doch erkennt er nur einen sehr eingeschränkten Ausschnitt von dessen Inneren. Er entdeckt die Bahnhofsuhr, beäugt sie. Der Minutenzeiger rückt eine Einheit vor.

Er fühlt sich etwas schwach und will darum näher an das Tor heran. Doch der nun neu eingenommene Platz hält ihn fest. Seine Zeit ist noch nicht nach. Schritt für Schritt geht es voran, dem Tor zu. Nichts wird bei ihm übereilt. Von seinem Platz aus, vor sich das Glas, erkennt er Details der Torfassung. Es ist, wie wenn er als Besucher in ein unbekanntes Land eintritt. Je weiter er vorwärts rückt, neues Gelände betritt, desto stärker wird er gewahr, dass die Gegend, Leute, die Architektur, Gebäude und Denkweisen ihm einiges zu sagen haben.

Das Tor spricht über die Steine zu ihm, aus denen es geformt ist. Eigentlich erwartet er an dem Ort ein Gebilde aus Metall, das dem Werkstoff entspricht, aus welchem die tragenden Elemente der Halle gefügt sind. Grob bearbeitete, roh gehauene Quader stellen das Material, das zu einem Torbogen zusammengefügt ist. Dieser reicht von der Schwelle bis zur Decke. Das Gewölbe bildet den Überbau der Bahnhofshalle. Kein anderer Eingang führt in den immensen Stahlsaal hinein. Die Quader am Eingang nehmen, je länger er sie betrachtet, an Deutlichkeit zu, offenbaren Details, auch wenn er die Detailfrische der begutachteten Materie für die Betrachtung dessen, was auf ihn zukommt, als nicht notwendig erachtet. Der Bogen schaut schön aus, evoziert aber nicht Bilder einer lasziven Feminität. Diese Sphäre hat er sich längst entzogen. Er blickt nunmehr auf das Wesentliche. Das Tor als nackte Darstellung eines Eingangs zieht an.

Das Bild erhält Risse. Er schaut genauer hin, strengt seine Augen an, kneift die Lider zusammen, als ob er auf diese Weise seine Wahrnehmung schärfen könne. Abrupt kommt ihm ein Gedanke. Er stellt sich die Frage, ob sich das Geschehen in seinem Kopf abspielt. Er fragt sich weiter, was ihm der mögliche Selbstbetrug augenscheinlich vorgaukelt. Er blickt genauer hin. Das Tor ist aus starkem Stahl gefügt. Die Steine jedoch schieben sich wieder vor.

Er inspiziert aus der von ihm selber festgesetzten Ferne die Konstruktion genauer. Erkennbare Unregelmässigkeiten wecken sein Interesse zusätzlich und irritieren ihn gleichzeitig. Was er erkennt, verbindet sich mit einer Erinnerung, vielmehr mit einer Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, die er mit sich trägt. Sein Denken erhält Risse. Nein! Vielmehr sind die Risse Teil der Steine. Er seufzt erleichtert auf. Er stellt fest, dass sein Denken in Ordnung ist. Er hat sich in der Gewalt. Seiner Achtsamkeit darf er trauen. Der gesprungene Stein hingegen entspricht in seiner Resistenz nicht der Willenskraft, die er für sich beansprucht, und somit der angestammten Festigkeit und Stärke, die er mit diesem Urmaterial der Erde verbindet.

Einige Quader, die im Torrahmen eingelassen sind, weisen Spalten auf. Irgendetwas führt dazu, dass die Steine leicht splittern, genug jedenfalls, damit sie an verschiedenen Stellen einen Sprung aufweisen. Wie feine Striche ziehen sich die Wunden über die nunmehr nicht mehr unversehrte Oberfläche der Umrandung, welche ansonsten, nahtlos verschweisst und zusammenfügt, das Tor formt, durch das unablässig Menschen schreiten. Darf er einen Zusammenhang herstellen zwischen den Leuten, die das Tor queren, und dem Stein, der Spaltungen aufweist?

*

weiter

zurück

Zur Übersicht

Hinterlasse einen Kommentar