
Der Lauf vor den Blicken der Öffentlichkeit will gut einstudiert sein. Er könnte sich hinstellen und jene, die vorbei gehen, fragen, wie sie es mit dem Gang auf das Tor hin halten und wie sie sich auf diesen vorbereiten. Würden die Anderen anhalten und antworten? Würden die Fragen sie in ihrem Lauf stoppen und sie wie vor eine sich selber reflektierende Fläche stellten, die ihnen sagt: Was bin ich? Plötzlich sind Menschen auf sich selber gestellt. Wo blicken sie vor dem morgendlichen Spiegel hin, wie sie aus dem Alter der Jugend steigen und in ihren persönlichen Erwägungen über das Bevorstehende, das, was vor ihnen liegt, hierhin und dorthin driften und sich möglicherweise fragen und entdecken, dass sie innerlich nicht Frau sind und nicht dem von den Traditionen getragenen binären Schema der Geschlechtsidentität entsprechen? Er muss aufpassen, aktiv darauf achten, dass er sich nicht absolut in seinen Gedanken verliert und sich entscheidet, den anderen Menschen vorzeitig einen Stempel aufzudrücken. Die Zeit verändert den Menschen. Hat sie auch diese Frau verändert? Ihm stellt sich eine Frage, die er nicht nur ihr vorlegen möchte, sondern auch sich selber, eine Reflexion, die möglicherweise sein Leben betrifft, dieses beeinflusst, so dass er sich untertänig dem Tor zuwendet. Er ist nicht einig mit sich selber. Er geht der spontanen Überlegung auf den Grund, lässt nicht ab von ihr: Ist er selber eindeutig ein selbstbewusster Mann, wenn er andere durch den Genderfilter zieht und anschliessend taxiert; wenn er derart sichtbar, wie es bisher der Fall gewesen, sich vor dem Tor fürchtet und dieses mutlos und scheu anstarrt? Welche Veränderungen sind ihm Anteil geworden? Was hat in ihm überhandgenommen? Ist ihm die Frau jenes reflektierende Glas, das ihn auf sein Selbst und den damit zusammenhängenden Frage zurückwirft? Geht er davon aus, dass er seinen Leib und dessen sexuelle Ausrichtung, indem er mit Ränkespielen sein Geschick geschickt an der Zeit vorbei zu lenken versucht, der Natur entwinden und nicht nur seine intime Identität, sondern auch sein ganzes Sein dem Sein vorenthalten kann? Oder verhält es sich umgekehrt? Hat sich Eros Thanatos hingegeben – das Tor zum Leben das Tor zum Tod abgelöst? Die Überlebensfrage die Geschlechterfrage verdrängt? Er schaut kurz zum Eingang des Bahnhofs hinüber. Jene, die gehen, weisen ihm den Rücken, als wollten sie ihm gegenüber klar stellen: Mit dir habe ich nichts zu tun! Das Tor offeriert ihnen den Ausweg. Das Tor formt jedoch eine Enge, die keinen gemeinsamen Durchlass gewährt, sondern klar die Menschen staffelt und so in eine vorgegebene Ordnung presst, damit alle in Reih und Glied und somit geordneter Bahn passieren. Die Jugend hingegen will in all ihren Erscheinungsformen wie Blüten aufgehen, weit und breit denken – und nicht Grübeleien über die Frau, den Mann nachhängen und auf trübe Weltansichten fixiert werden, sondern freudig und guter Dinge voran schreiten auf neue Möglichkeiten zu und kühne Unternehmungen wagen und, anders als er, sich in der Gesellschaft entfalten und sich in einem munteren Milieu, an ausgewählten Theken, in Kellern und Destillerien an Spässchen und Pläsierchen erquicken. Das Leben öffnet eine Menge Tore und macht den Weg frei für allerlei Lebensoptionen. Viele Tore öffnen sich ihm. Die Bahnhofswand wird überraschend transparent. Er entdeckt hinter ihr eine grosse Zahl an Menschen, die er nicht, gemäss seinen Vorstellungen, als Mann oder Frau klassiert. Frauen betreten selbstbewusst die Bahnsteige, als schritten sie über den Laufsteg einer Modeschau und überquerten die Fläche ohne gleichzeitig die Hüfte zu schwingen, sondern als hielten sie sich an den Tritt eines selbstherrlichen Mannes auf dem Weg zu einer harten Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten oder einer Geschäftsfrau; andere, Männer, als trügen sie Frauenkleider, teilen mit ihren Hüften links und rechts aus. Männer begleiten Frauen und auch Männer, Frauen Frauen und gehen ebenfalls zu dritt. Bei einem Mann erkennt er nicht, ob im Anzug ein Mann steckt oder eine Frau im Körper einer Frau, die gewiss eine Frau ist, ebenso aber als ein Mann fühlt, oder eine Person, die nicht als libidinöse Signalträgerin erkannt werden will und jedem genitalzentrierten Strukturalismus, wie er sprachlich normativ auch geartet ist – bipolar oder nonbinär, phänotypisch oder genotypisch – die kalte Schulter zeigt; andere wieder macht er aus, bei denen es danach aussieht, als wüssten sie mehr oder weniger nicht, was sie sind, auf welche sexuelle Orientierung und Bedürfnis sie antworten sollen. Er spürt die Ungewissheit, die latente Unsicherheit, wie er auf die Person ihm gegenüber näher hinschaut. Er nimmt deren Bild in sich auf und hinterfragt zudem ihre Wunschliste, die er selbstverständlich ignoriert, weil er sich nicht danach erkundigt. Das Geschlecht ist ihm auf einmal etwas Fremdes. Worauf lässt er sich bei der Frau ein? Auf ein geschlechtsneutralisiertes Wesen? Auf ein Es? Auf eine triebgelenkte Kreatur, die mit den Augen eines Reptils aus einem gründurchzogenen Wasser nach Beute ausschaut? Er stellt sich viele Fragen, zu viele, die ihn ins Abseits führen, weg vom Menschen und seinem Leben, in eine Enge, die ihn in eine Bewegungslosigkeit hinein lenkt, wo er nicht weiter kommt. Die Bahnhofswand schliesst sich wie eine sich spiralförmig einrollende Schlange zusehends auf ihr eigenes Zentrum, dem Tor, ein. Sein Zögern und Zaudern setzen ihn in einem Loch fest, das kaum Antworten zulässt. Hinter dem Tor jedoch, dessen Zutritt er sich lange Zeit wegen all seiner Ängste, Bedenken und intellektuellen, dogmenbasierten oder prinzipienbestimmten Voreinstellungen vermiest hat, herrscht, das beginnt er zu ahnen, eine vielfältige Buntheit menschlich ausgelebter Wünsche und Bedürfnisse, die sich jede Etikettierung verbietet. Nun darf es aber nicht geschehen, dass er sich erneut in Spekulationen und Überlegungen verliert, diesmal zum Thema Mann und Frau und ihr Zusammensein, basierend auf ihre sinnliche Ausrichtung. Er muss sich erst einmal zur Frau hin öffnen, alles verknorzte Getue von sich weisen, das Herumbaggern im Hirn unterlassen und alles, was ihn einengt, sprengen.
Er hebt den Arm leicht hoch, wie zum Gruss, und schaut die Frau durch die Optik des Glases an. Das Alter hat die physische Komposition, ihr Aussehen, welches die Natur ihr gewährt, verändert. Die zarten Jugendarme und Schultern, die gleichmässige Farbgebung der Haut, die straffen Rundungen ihres Wuchses, das ungeschönte Weiss der Zähne, das alles macht er auf dem Antlitz der Frau nicht aus. Sie antwortet ihm genüsslich und unverfälscht mit dem Ebenmass ihres Lächelns. Er überlegt, ob sie vor der Zeit, da er sie kannte, wobei der Zeitpunkt temporell nicht weit zurück liegt, kennt er sie doch kaum, über ein blond, braun oder schwarz eingefasstes Gesicht verfügte oder ob sie jemals ihr Haar grün eingefärbt hatte. Die Stelle, dort, wo der Haarkamm über der Stirn ansetzt, wenn dieser die Frisur in Ordnung bringen soll, lässt, wie er wahrnimmt, keinen Rückschluss auf ihre kulturelle oder gesellschaftliche Zugehörigkeit und desgleichen auf ihre Vergangenheit zu. Der Haaransatz liefert keine Informationen. Dennoch überlegt er: Was lässt sich von der Stirn eines Menschen über diesen ablesen? Lässt sich – wie es bei den Lebenslinien auf der Handfläche der Fall ist, beim Zustand der Haut, die rau oder zart ziseliert ist – aufgrund der Falten, welche die Stirn zeichnen, etwas über das Leben und die Interessen und inneren Konflikte des betreffenden Wesens erschliessen? Augenbrauen, wachsende Wülste über diesen, Runzeln prägen mit der Zeit, die er fürchtet und der er aus dem Weg zu gehen sich bemüht, das Antlitz. Wie soll er sich um ihr Alter sorgen, wenn er sein eigenes, aufgrund der bedingungslosen Hinwendung, bis anhin, zum Tor, für sich weitgehend ausschaltet und der Interessenlosigkeit überlässt, als könne er sein Altern solcherart aus dem Vergehen aller Dinge heraus lösen und sich selber in eine Ecke stellen, die weder Zukunft noch Vergangenheit kennt. Er meidet soweit wie möglich Spiegel wie auch das Tor. Dieses ist ihm im Grunde nicht Feind, auch wenn es ihm, wie er meint, vorzeitig, also beizeiten mit Blick auf seine künftigen Aussichten, diktiert hat, er müsse durch dieses hindurch. Er vergisst in diesem Zusammenhang und löscht die Idee aus, dass er sich eigentlich in einer Welt befindet, die sich nicht von ihm verabschiedet, sondern ihn mit allerlei Umtriebigkeit umgibt, ihn also nicht durch das Tor gehen heisst, sondern ihn für sich behalten will. Auch wenn er sich, entscheidungslos wie er agiert, im Gegensatz zu der ihn umgebenden und umfassenden täglichen, vibrierenden Gesellschaftsdynamik sieht und empfindet, so ist es doch das Schicksal, das ihm in der Gestalt einer Frau resolut entgegentritt und ihn daran erinnert, dass er von dieser Welt ist und nicht in eine andere hinüber zu wechseln hat. Der Botin des Fatums liefert er sich über das grüne Getränk aus und gibt sich, selbstvergessend und unterwerfend, preis. Die Impulse und Spannungskräfte von aussen greifen ebenfalls in das Lokal hinein, das er sich, wenn auch im vorliegenden Fall nicht selbstbestimmt, so doch auf die Initiative einer Frau, für das Ausleben seiner Trägheit ausersehen hat. Sein intimer Wunsch steht im Grunde in krassem Kontrast zu seiner Absicht, der Zeit durch Bewegungslosigkeit zu entkommen, weil er doch, Abend für Abend unterwegs, sein Lokal aufsucht und rechtzeitig, spätestens vor der Geschäftsschliessung, wieder verlässt. Die geschmähte Zeit stellt sich ihm, wohlweislich ihrer Allmacht bewusst, aufdringlich in der Gestalt einer Wegbegleiterin in den Weg, ihn daran erinnernd, dass er nach wie vor Teil der Welt ist, die er zu verlassen gedenkt, gedachte; als sichtbares Zeichen seines Scheiterns auf dem Weg zum Tor hin sitzt sie ihm nicht im Nacken, aber gut sichtbar gegenüber am Tisch. Der grün gefüllte Becher enthält keinen Trank, der zum Tor führt.
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