Die Stärkung

Der Entschluss steht fest. Ihm schwebt eine Nahrung vor, die voll unverbrauchter Kraft serviert wird. Er bestellt die Karte und zeigt sich erfreut, dass er auf dieser das Gesuchte findet. Die Kellnerin wartet neben dem Tisch. Er schaut sie an. Anders als das Tor, dem gaukelnden, wahrt sie ihre Gestalt. Sie passt sich nicht chamäleonartig der Umgebung an, als wäre sie ein Tor. Eine Törin. Durchzuckt es ihn. Nur Toren lassen sich durch ein Tor erschrecken, das wechselweise aus Stahl und Stein besteht. Sie steht ihre Frau. Also hat auch er seinen Mann zu stehen. Er ist kein Tor. Ihre Haltung gibt ihm Festigkeit. Er bestellt einen Tatar.

Vegan ist keine Krankheit. Vegan ist eine degenerative Form des Weltkulturerbes, des kulturellen Ernährungsprozesses, der, uralten Ursprungs, kommend aus den Tagen der Geburt des Lebens, die Menschheit bis in die heutige Zeit geführt hat und begleitet, indem der Mensch von Anbeginn an alle Angebote für die Nahrungssicherheit nutzte, die Boden, Flora und Fauna bieten. Der aufstrebende, sich entwickelnde Mensch verlieh seinem Geschlecht mit immer neuen Impulsen – wie etwa die erste Nutzung des Feuers für das Braten und Kochen – stete Entwicklungsschübe. Er wies das Fleisch nicht überheblich von sich, schied es ebenso wenig aus seinem Menüplan aus. Das überlieferte Ernährungsangebot wird durch die Nein-Sager-Gemeinschaft – gewachsen aus einer im Überfluss lebenden, selbstherrlichen Wohlstands-Gesellschaft, die auf Gras, Kräuter, Wurzeln, Nuss und Frucht setzt und dem Lifestyle verpflichtet ist – mit Verboten eingedeckt und eingeschränkt. Das lässt er sich nicht bieten. Er ist kräftig genug, um all jenen, die an ihren Weltverbesserungsvorstellungen wahnen, verbal Paroli zu bieten und die vermeintlichen Ursachen der Symptome ihrer Erkrankung und der parallel dazu verkündeten restriktiven, aus ihrer Warte verbindlichen Richtlinien für ein als gesund deklariertes und als naturnah propagiertes Ernährungswesen auszumachen und Kontra zu geben. Wer meint, er müsse im Menü auf Tier verzichten, schickt er in den endzeitlichen Wurstwolf, der allem menschlichen Sein sein Ende bereitet.

Er schaut zur Eingangstür hinüber. Ein halbes Dutzend Stufen ist er hinauf gestiegen, um vom Platz in das Lokal zu gelangen. Er wendet seine Gedanken erneut der Szenerie zu, die sich direkt vor ihm abspielt. Auf seinem Hochsitz, knapp einen Meter über der Fläche vor dem Bahnhof, die er nicht zu betreten gedenkt, das Bier vor sich, erwächst ihm das – unbestimmte – Gefühl, er stehe, auch geistig erhöht, über dem Tor. Seines Dafürhaltens, denkt er fälschlicherweise, verhindert die supponierte Erhöhung, wenn diese auch nur einige Dutzend Zentimeter über dem Niveau des Bahnhofgeländes liegt, dass er durch dieses Tor hindurch muss. Einige Stufen müsste er hinab steigen, um seinen Gang anzutreten. Es befindet sich im Oben. Dieses erzeugt Distanz. Das Droben setzt sich ab vom Unten, unterbricht die Verbindung zu jener Niederung, die vor ihm und auch drüben, in der Tiefe, vor der Bahnhofwand, in das Tor zur anderen Welt mündet, denkt er. Der Selbsttäuschung ist er sich im Grunde bewusst. Die Erklärung, die er für sich, ausserhalb jeder Selbsttäuschung, beansprucht, ist für das Relief seines Lebens ohne Bedeutung und somit vernachlässigbar. Das Bild, das er von sich und jenem Eingang macht, ist total verschroben.

Der Bestellte wird serviert. Über das blutige Fleisch hinweg blickt er auf das beständig ihn plagende Gebilde auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, als wäre es ein Tier, das ihm nun das Gebiss entgegenbleckt, drohend, mit entblössten Zähnen und heraushängender Zunge; als wolle es ihn anspringen; als wolle es sich auf ihn stürzen; als wolle es ihm das lebenspendende Fleisch entreissen, das, zum Genuss bereit, wundervoll zubereitet und mit Beilagen ausgeschmückt vor ihm liegt und Messer und Gabel harrt. Er nimmt die Schärfe der Mixtur auf dem Teller mit den Sinnen auf und hält sie gedanklich dem Wesen des Eingangstors entgegen, das fortwährend seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er hält den scharf wirkenden, ihn schier bannenden Rachen in Schach. Die feurige Potenz, die er sich in den Mund schiebt, hätte seinem Geist neuen Schwung vermitteln, ihm die Lust auf Leben auffrischen und so das Drängen des Tores mindern können. Das Tor steht allerdings für Tartarus, das Reich, das ebenso scharf auf den Menschen aus ist wie der Tatar, der in seinen Mund will. Beides will den Menschen abholen, das eine, um seinen Genuss zu fördern, das andere, um sich ihn im hungrigen Magen einzuverleiben, wo er endverdaut und als Stück für die Ewigkeit entsorgt wird. Er sticht unverdrossen ins Gericht auf dem Teller hinein und löst ein Stück gehackte Fleischmasse heraus, die er genussvoll in den Mund schiebt.

Er fasst die Fasern mit den Zähnen. Das Blut trieft über die Zunge und die Schärfe des Pfeffers füllt stimulierend seinen Gaumen, verteilt sich über den Rachen als eine Vielzahl fein kitzelnder Spitzen, die leicht die Hautoberfläche ritzen und angenehm die Mundhöhle reizend durchbluten und beleben. Er kaut hingebungsvoll die Masse, die sich mit seinem Speichel verbindet. Er lässt das Gemisch in den Körper gleiten und schielt nebenbei – über den Platz hinweg – auf das ihn ereilende Bauwerk, vorbei an einem Baumstamm, den er leicht im Abseits ausmacht. Durch das Tor gleiten weiter Leute. Die Risse des Fleisches übertragen sich auf das Bauwerk, der Schlag auch, den er dem Fleisch mit Gabel, Messer, Zähnen und Zunge versetzt. Riss und Verzehr hinterlassen drüben Spuren in Form von Wunden. Er fühlt einen Stich im Leib, als ob er krank wäre, weil das Tor von ihm, dem Fleischzersetzer, verwundet zurückschlägt – schon seit geraumer Zeit, jeden Abend, wenn er hinüber sieht.

Erneut schüttelt es ihn innerlich. Bringen die Beobachtungen, die er an seinem Körper macht, eine neue Erkenntnis? Seltsame Gefühle bemächtigen sich seiner. Der vom Altern, wie er denkt, gebeutelte Leib sowie die innere Botschaft, die mit Informationen über sein zerschundenes Selbst, das er sich abendelang wehleidig andichtet, angereichert mit dem einhergehenden und somit schwachen Gesundheitszustand, den er bei sich auszumachen meint, lassen ihn befürchten, dass das Tor bereits nach ihm hake. Eigentlich hält er sich für gesund, erachtet sich jedoch im Herzen wund. Den Grund macht er im Tor und der Botschaft aus, die er mit diesem verbindet. Ein Ahnen überkommt ihn, die Angst, dass etwas, das er in sich selber spürt, nicht in Ordnung wäre, ein Leck entstehe, etwas also aus dem Raster der vollkommenen Glückseligkeit herausgesprungen ist und sich in ihm breit macht, anders als ein Rausch, den zu viel genossener Alkohol temporär erzeugt und der sich über den Körper ausbreitet, anderntags sich aber wieder auflöst, so dass alle einschränkenden Übel wie schwere Glieder oder heimtückischer Kopfschmerz aufgehoben werden und vom Leib weichen.

Er schiebt ein weiteres Stück der Speise, die tiefrot vor ihm auf dem Teller innerlich vor sich her blutet, nach und erhofft sich, dass das Tor nicht ein weiteres Mal in ihm drin eine Chimäre wach ruft, die in erschreckt. Einen direkten Bezug zwischen sich und dem Tor, das ihn anstarrt, macht er nicht aus, obwohl er andauernd an der Möglichkeit einer derartigen Beziehung, die für ihn eine Wahrhaftigkeit darstellt, herumdoktert und die geheimen Verbindungen aufzudecken sucht. Er forscht, findet aber keine Gemeinsamkeit. Ihm ist’s, als befänden sich zwischen jenem architektonischen Gebilde drüben in der Wand und seinem Sitzplatz Welten und nichts verbinde diese.

Er blickt auf den Teller, um ein weiteres Stück Tatar mundgerecht zurecht zu schneiden und vorzubereiten für den Verzehr als probates Mittel gegen seinen leichten, aber befremdlichen Hunger, dem er unterstellt, Schuld zu tragen an den Steinfantasien, die ihm eine obskure Wirklichkeit vorgaukeln und Illusionen herbei zaubern, die ihn beschäftigen und die Zeit vergessen lassen. Der Happen ist aufgrund der Zubereitung nach Lioner Art homogen in Fasern gezeichnet und gerillt. Die Fugen ziehen sich als Linien durch das Fleisch wie auch – er schaut noch einmal genau hinüber – durch den Stein, der das gefaserte Portal umfasst. Kein Koch hat seine Kunst an jenem Granit, denn um solchen könnte es sich handeln, ausgeübt und, dem Tatar entsprechend, ein Kunstwerk aus dem Mauerwerk geschaffen, das nicht kulinarisch aber ästhetisch den Kunstverstand anspricht. Das Tor ist langweilig konzipiert. Es fördert nicht die Aufmerksamkeit, die einer Spannung ausgesetzt ist und den Kitzel eines interessant komponierten Bildes auslöst, den der goldene Schnitt hervor zaubert. Anderes hat der Stein gesprengt. Das Tor, das seine Aufmerksamkeit uneingeschränkt auf sich bannt, bildet einen Bruch im Konstrukt, das den Bahnhof zusammenhält – schlimmer noch: einen Bruch im Dasein der Menschen, die der unumgehbare Durchgang beharrlich anzieht. Übel steigt ihm nicht der frische Geschmack der Fleischspeise in der Psyche Bewusstsein, sondern die bedrückende Erkenntnis über den Weg, den die Leute durch das Tor nehmen. Darum starrt er wie gebannt auf jene Stelle, die, wie er immer deutlicher wahrnimmt, unweigerlich auch ihm seinen letzten Weg weist und letztlich das Leben überwindet.

Abschiede bilden einen Teil des Geschehens am Bahnhof, auch der letzte Abschied. Auf diesen hin bewegt er sich zu. Vorwärts geschoben durch eine fremde Kraft, über die er keine Macht hat, ist er ein Lokal vorgerückt. Näher an das Tor heran, das ihm die Risse in seiner Realität offenbart, die Risse, derer es immer mehr werden, je länger er lebt. An diesem Sachverhalt lässt sich nicht rütteln. Er sticht ins Tatar, schiebt sich ein weiteres Mal frisches Blut in den Leib und rettet so seinen sinkenden Lebensmut vor dem Untergang.

Der Mensch, nackt geboren, ist zuerst auf Rosen gebettet. Seine Haut ist zart wie die Blüte jener Blume, wenn er das Erdenlicht entdeckt. Die Blume welkt. Die Blätter werden, wie sie kontinuierlich dieser Erde und ihrer Regeln und Anfordernisse ausgesetzt sind, ruppiger. Das Reissen im Leben beginnt allzumal. Einige Neugeborene sind aufgrund der Umstände, in die sie hinein geboren werden, besser geschützt vor diesem verletzenden, den Menschen zeichnenden Zug, der die Haut vorzeitig ausdörrt und zum Teil tiefe, innere Wunden von der Aussenhaut in den Körper schlägt. Aufgrund der Anforderungen, denen der Leib das Leben lang ausgesetzt ist, bleiben nicht vernarbende Spuren unsichtbar im Leib zurück. Bei einigen beginnt das Reissen in der eigenen Biographie früh wegen der Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Die Betroffenen müssen schon in jungen Jahren unten durch, wie er von seinem hypothetischen Hochsitz knapp über dem Boden des Platzes aus betrachtet; müssen durch das Tor gehen und alles hinter sich lassen, was sie bisher begleitete. Ihm bliebt noch Zeit, um Betrachtungen über die immer knapper bemessene Zeitspanne anzustellen, die er als Zukunft für sich einrechnet. Darum soll ihm das Tatar munden, ohne dass es zu irgendwelchen Assoziationen, zu Kopfgeburten über menschlich-strapazierte Bauwerke Anlass gibt, die als Durchgang dienen und dabei ihr Aussehen verändern, wenn er in das Fleisch beisst. Sein Biss ist fest.

Zu sagen hat er nichts. Niemandem. Der unfreiwillige Drang, der ihn vorwärts schiebt, erweist sich als stark, die Richtung bleibt vorgegeben. Am Tor, das ihm als Orientierungsmarke, als irreversibler, zielsetzender Wegpfahl, als Jalon dient, kreuzen sich viele Menschen, die aus verschiedenen Richtungen kommen und gemeinsam in die eine Richtung weiter eilen. Etliche bewegen sich aufrecht, andere gebückt, andere blicken verwundert und verwirrt auf das Ziel, als führe sie, eingedenk eines eigenen Fehlverhaltens, das sie bedrängt und auf ihnen lastet, ein schlechtes Gewissen hin auf die steinerne Wegmarke zu; als müssten sie gehen, weil ihnen das Gewissen drückt, weil sie bereuen, was sie getan haben, und sie sich nun still davon stehlen. Sie streben unsicheren Schrittes dem Ziel zu und passieren anschliessend eilends und ohne zu zögern den Eingang. Viele weisen die Anzeichen von Angst auf. Solche präsentieren sich, die stolz, erhobenen Hauptes durch das Tor schreiten, weil sie wissen, dass sie das Blatt, auf dem ihr Leben geschrieben steht, nicht wenden können und dass es keine Umkehr gibt.

Doch viele wollen gleich ihm nicht gehen, versehren sich in Sorge darüber, was sie jenseits des Tores erwartet. Das Leiden ist gross, das sich am Tor zeigt. Viele schleppen die Krankheit mit, die sie an diesen Ort geführt hat. Vor dem Tor versagt jede Medizin und lässt den Patienten los, damit er hindurch gehen und, für sich, alleine, davon ziehen kann, geführt von den Restkräften, die ihn aus dem Leben tragen. Nun wird ihm deutlich, warum der Stein, der die Menschen auf ihrem letzten Gang begleitet, gespalten ist. Sogar der naturgelieferten Materie schmerzt der Dienst, den sie den Menschen als Toreinfassung antut.

Dem Stein zugesetzt, ihn verletzt hat das Bewusstwerden des endlosen Ächzens, der Töne und Geräusche, des steten Lamentierens und Jammerns der Lebenden, die nicht hindurch wollen, aber müssen, sich dabei verzweifelt an einem Strohhalm halten, um weiter zu bestehen, und trotzdem stürzen, weil der Halm, die allerletzte Lebenshoffnung, reisst. Ihr Schmerz und ihre Angst gehen dem Stein an die Substanz und erhöhen die Spannung in der amorphen Masse. Die zahllosen Tritte der heranschreitenden und scheidenden Leute klingen auf dem Platz als scharfer, schlagender, dumpfer und gleichwohl deutlicher Ton, den kein Mensch hört oder fühlt, er aber sieht, und der das Tor erschüttert. Seit irdischer Ewigkeit, seit es Werden und Vergehen gibt, ist der Stein bei der Menschen Abgang den Tönen ausgesetzt. Sie setzen ihm zu. Der stete Gleichschlag der Gehenden schockt den Bau, geht ihm ans Mark, bricht sein Inneres auf und lässt das fest gefügte Gemäuer bersten. Jeder neue Riss entsteht begleitet von einem spitzen Schrei, die jene hören, welche für den Durchgang bestimmt sind. Des Klagens ist viel beim Tor. So mancher Mensch muss hindurch, dem nicht danach ist.

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