
Alles dreht sich um die Bahnhöfe. Sie sind eine Drehscheibe mit grosser Autonomie und entsprechender Reichweite. Ihre Aufgabe bezieht vieles ein. Der Autoverkehr rollt in einer gewissen Entfernung vorbei. Die Details der Fahrzeuge sind nicht auszumachen. Die Lichter der Strassenlampen tauchen die Gefährte als einzelnes, einheitliches Gefüge, als längliche, untereinander zusammenhängende Strukturen in unterschiedliche Farben. Der Lack der Karosserien gibt den Ton vor. Ein Kastenwagen mit Blaulicht sucht seinen Weg durch den Verkehr. Ein schwarzer, für den Transport von Menschen ausgestatteter und somit gestreckter Wagen rollt davon, ohne dass irgendein Flatterlicht auf seine besondere Aufgabe hinweist, die darin besteht, die Dahingeschiedenen zu transportieren.
Die Fahrzeuge auf der sichtlich mehrspurigen Fahrbahn, die nahe am Bahnhof und seinem Platz vorbei führt, sind zum Teil ihres vollständigen Erscheinungsbildes beraubt. Sie schauen aus, als seien sie um ein Stück ihres Selbst amputiert. Meist sind die Bordfenster auszumachen. Zuweilen ist der Blechdeckel der Kotflügel erkennbar. Von ihrer ebenerdigen Warte aus beobachten die Beiden während einer Gesprächspause den nicht weit entfernt vorbeirollenden Verkehr. Die Vehikel in der vordersten Reihe blockieren die Sicht auf die Fahrzeuge, welche in der hinteren Kolonne stecken, und berauben die verdeckten Personenkraftwagen darum um ein Stück ihrer unversehrten, automobil-ästhetischen Aura. Die von anderen Autos auf diese Weise teilverdeckten Gefährte wirken, als seien wegen der fehlenden Komponenten Fahrruinen unterwegs. Sie ähneln so zu sagen zersetzten Computerprogrammen, denen Partikel abhandengekommen sind. Die sichtbar verbleibenden Elemente der halb versteckten Autoschalen in der zweiten Reihe fahrenden Wagen erscheinen, als schwebten sie transzendent über der sie vordergründig verbergenden Fahrzeugformationen der ersten Reihe. Bei hoch gebauten Fahrgeräten, die aufgrund der eingeschlagenen Fahrrichtung mit den hinteren Rängen vorlieb nehmen, sind zuweilen die Kühler zu sehen. Andere zeigen von sich lediglich das Dach. Kleinere geben von ihrer Präsenz nur über zitternde Antennen, welche aus dem Fahrzeugpulk herausragen, Zeichen von ihrem Sein. Wieder andere bieten Spoiler und Flügel zur Schau. Die Show der Fahrzeuge begeistert die beiden am Tischen nicht. Zu weit ab vom Platz und ihrer beider Interesse fahren die Limousinen und Lastwagen vorbei. Jene Zelebration der Mobilität prallt an ihnen ab als flüchtige Darbietung eines schal-schwachen Flachverstandes ohne steil-sinnliche Ausstrahlung. Den Grosskarossen mangelte es an Linie. Die auf der Strasse wahrgenommene Realität ist ohne Bedeutung für die ethische Aussage der Örtlichkeit und die sie nutzenden Leute.
Verglichen mit der Parade, drüben auf dem Rollweg, die motorisiert am Bahnhofsareal vorbei defiliert, wo eine Mehrheit der fahrenden Objekte wie ästhetisch angeknabberte Stücke präsentiert wird, wirkt die Kolonne der zum Bahnhof Eilenden und aus diesem Herauskommenden, als seien jene Menschen, die an dem Reigen teilnehmen, in einer vollkommenen, von Unversehrtheit gezeichneten Ästhetik eingebunden und durch diese in ihrem sicheren Auftreten unterstützt. Da ist nichts von Teilansichten. Kreuzen sich zwei Personen, wird die Verdeckte nur für den Bruchteil einer Sekunde durch die andere Figur in ihrer körperlich-feschen Integrität verdeckt und gestört. Sie taucht augenblicklich eine knappen Schritt weiter in ihrer Vollkommenheit ganz wieder auf. Da ist nichts von abgetrennten Bestandteilen eines malträtierten Körpers.
Der Bewegungen auf und um den Platz sind sehr viele. Tiere bevölkern nur wenige die Umgebung. Einige Hunde an Leine und ein paar Tauben, Vögel, die sich noch nicht in ihr Nachtrevier verabschiedet haben, sondern ihr Hin und Her-Hüpfspiel auf der Suche nach Nahrung zwischen den Passanten tiefer in den Abend hinein ziehen und auf diese Weise die freie Laufbahn über das Pflaster den Gehenden mit scheuer Kraft streitig machen, bilden die hauptsächliche Fauna, welche sich vor Ort befindet. Möglicherweise zieht noch eine Fledermaus ihre Runden. Ein solcher, flüchtiger Schatten flirrt vor den Fassaden herum. Ein Vogel verschwindet im Baum. Beruhigend breitet sich die hektische Aktion, die natürlich daherkommt und mit keiner Gefahr verbunden ist, über die beiden das Schauspiel betrachtenden Personen aus.
Statisch baut sich als Kulisse um das Geschehen das Bahnhofgebäude sekundiert von weiteren Häusern auf. Zu diesen gehört unter anderem jenes, in dessen Erdgeschoss die beiden sitzen, und auch Bauten, die für den Verwaltungs- und Verkaufsbetrieb bestimmt sind und in den oberen Stockwerken garantiert Büroräume beherbergen. Eines der Gebäude im Fassadenspiel gehört seiner Bauweise nach zu den gehobeneren architektonischen Verwirklichungen und hebt sich von der Klasse der umstehenden, zweckmässig aufgezogenen Plattenbau-Mauern deutlich ab. Eine gut betuchte Geldbörse sorgte dafür, dass die aufstrebende Fassade reich verziert wurde und exquisit ausgeleuchtete Erker die Front auflockern. Ob sich auch Wohnungen hinter dem Mauerwerk verbergen, lässt sich nur erahnen. Auf der Höhe der Gehsteige sind etliche Geschäfte, Boutiquen und auch Verkaufsstellen eingerichtet, die Nahrung und Getränke feilbieten. Ihr Licht streut kometenhaft über den Platz.
Er schaut zum Baum hin, dem einzigen grossen Gewächs, das aus dem Pflaster wächst. Von dessen Krone macht er nur den unteren Saum aus. Der Rest steigt über sein Wahrnehmungsfeld hinaus. Im Laubwerk verfängt sich das Licht. Der Betrachter nimmt das naturgewachsene Gebilde als stattliche, undurchdringliche Masse wahr.
Die lange Kolonne der Menschen zieht noch immer durch das Tor. Der Gestalten matter Schein, nicht stärker reflektierend als der durch die Sonne angeschienene Mond und dessen damit erwirkten Widerhall von leichtem Licht, mischt sich mit jenem der Scheinwerfer der vorbeiziehenden Autos und den stationär gesetzten Strassenlampen, welche die Menschen anleuchten. Deren Betriebsamkeit zerfliesst, angeregt und genährt durch das anmutig stimulierende Schaulaufen zahlreicher eiliger und weniger pressanter Passanten, zu einem gross-grotesken Gemälde. Als grandioses Mosaik, das aus verschiedenartigem Leuchten und drückendem Dunkel gefertigt ist, begleitet die urbane Szene das Einnachten und das Einsinken der Mauern in die Abendstunden. Abfahrende, davonziehende Züge wirken wie Lichterketten von Glühwürmchen, die dem gesellschaftsgetragenen Gemälde eine prickelnde Essenz verpassen.
Wenn nicht lebende Menschen über diesen Platz gehen würden, sondern sich nur der Schattenwurf von Schemen über den Ort legte, hätten sich die beiden Schauenden vor einer irrealen Kulisse gewähnt, auf der die Silhouetten der verschiedenen sich verschiebenden, deckenden und kreuzenden Akteure wie flinke Tatzen nach unterschiedlichen Seiten tasten und tanzen und über Pflaster und Fassaden nach unsichtbarem Substantiellem greifen, das sie für sich in finsteren Lebensphasen stimulierend und aufbauend verwenden können. Die Nacht führt dazu, dass sich das vom physischen Auge nicht erfasste sinnliche Blick-, Sicht- und Eindrucksfeld erheblich weitet.
Die Frau lässt sich wieder vernehmen: «Komm schon, drück die Wurst aus, die zu deiner Besserung beitragen soll. Ungeniessbare Inhalte dagegen lasse beiseite.»
In den oberen Stockwerken der Häuser brennt kaum Licht. Die lichtlosen Fenster liefern wenig Erhellendes über die Räume, die sie vor Wind und Wetter schützen. Über den Dächern erstreckt sich jener Himmel, der keine Rückschlüsse liefert, alle Fragen schluckt und den rastlosen Menschen in seinen drängenden Antworten auf die ewigen Wahrheiten hilflos und ohne Rat lässt.
«Dein Tor führt nicht wohin du denkst. Bleib mit deinen Gedanken auf unserem Boden und schweige. Und verirre dich nur nicht mit deinen Augen suchend oben hinaus, über die Dächer hinweg in den leeren Himmel hinein, wo es nichts zu finden gibt.»
Er antwortet mit einem unkontrollierten, herumschwirrenden Blick über die Fläche, die vor dem Fenster liegt. Immerhin findet seine Aufmerksamkeit zurück auf jene Ebene, welche die beiden besetzen. Die Frau quittiert seine Anteilnahme an ihrer Präsenz mit der Bemerkung: «Ich glaube, du musst abheben, damit du auf den Boden siehst, der dich trägt, und trotzdem die Übersicht gewinnst, die deinem Geist förderlich ist.»
«Wie soll solches geschehen?»
«Folge mir.»
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