Keinen geeigneteren Ort gibt es aktuell, um Kafkas Schloss fertig zu lesen, als den Strauhof in Zürich. In jener Stadt hat der Autor nie gelebt. Gleichwohl widmet ihm das Museum eine Ausstellung. Sie ist übersichtlich und informativ. Um mit den Texten des Autors vertraut zu werden, ist ein schöner, weisser Raum – karg wie der Beamten-Gang in Kafkas Schloss – mit Stühlen und Liegemöglichkeiten ausgerüstet. Interessierte können sich hinlegen, einen Kopfhörer über die Ohren stülpen und sich Passagen aus Werken des Autors zu Gemüte führen.
Geboten wird, akustisch getragen, die Stelle aus dem Schloss, wo K. die Schwierigkeit der Aktenverteilung kennenlernt. «… kam langsam ein kleines, von einem Diener geführtes Wägelchen.» Ein Räuspern dringt aus dem Text und das Klingen von Geld. «…wenn es sich um die Rückgabe handelte, gerade Türen, die früher in der lebhaftesten Bewegung gewesen waren, jetzt unerbittlich geschlossen blieben, wie wenn sie von der Sache gar nichts mehr wissen wollten. Paff!» Eine Tür knallt zu. Nein, das war nicht der Kopfhörer! Ich folge über die Muscheln weiter aufmerksam dem, was ich höre.

«Derjenige, welcher Anspruch auf die Akten zu haben glaubte, war äusserst ungeduldig, machte in seinem Zimmer grossen Lärm, klatschte in die Hände, stampfte mit den Füssen, rief durch den Türspalt immer wieder eine bestimmte Aktennummer in den Gang hinaus. Genau diese von nebenan,» tönt es aus dem Hörer. Ich horche weiter: «…kämpfte vor der geschlossenen Tür um die Rückgabe. Mein Ehre hatten es schwer. Der Ungeduldige wurde durch dieser wird’ich’s noch geben noch ungeduldiger, er konnte die leeren nie mehr Diener gar nicht mehr anhören, er wollte nicht Trost, er wollte Akten. Hab’ ich nicht gegeben», schnattert es aus dem Kopfhörer. Ein fremder Ton mischt sich in den Gang, nicht gesprochen von der Stimme, die den Text vorträgt: «Ich hab’ ihr meine Meinung ganz klar gesagt. Das lasse ich mir nicht bieten. Die Schlange soll Dienerin ihrer selbst sein!»

Ich vernehme einen Text an, den Kafka so nicht wiedergegeben hat. Aus dem Kopfhörer tönt es nun – ich konzentriere mich: «Das Interesse an der Sache war ringsherum sehr gross, überall wisperte es, kaum eine Tür war ruhig, und oben an der Wandbrüstung verfolgten merkwürdigerweise mit Tüchern fast gänzlich vermummte Gesichter, die überdies kein Weilchen lang ruhig an ihrer Stelle blieben, alle Vorgänge -» Ich blieb mitten im Satz stecken und konnte nicht mehr weiterlauschen. Es zischte, raschelte, krakeelte und kalauerte im Kopfhörer. Das war kein Kafka. Ich erschrak, stemmte mich hoch, stand auf und eilte hinaus. Ein Tuch deckte den Durchgang zum Nebenzimmer ab. Den durchschritt ich eilends und landete im Vorraum des Museums, wo neben der Kasse zwei Figuren standen. Die Kassendame unterhielt sich frisch-fröhlich mit ihrer Base, die von Kafka so viel hält wie die Museumsdirektion, die den Hörraum nicht genug vor den Emissionen des Kassenraums schützt. Die Kassenfrau und ihre Freundin tauschten lautstark Neuigkeiten über Quartierklatsch aus. Das nützt der Bequemlichkeit, die es braucht, um auch in einer Liege einen Roman zu lesen oder anzuhören, nicht.

Gern hätte ich an dem Ort das Buch fertig gelesen. Ich wurde vertrieben. Ich irre jetzt, das Schloss in der Tasche, betrogen in der Hörlektüre, festgesetzt wie in einem Roman Kafkas, durch mein Leben und suche nach einem Ausweg, wie ich den Ort finde, wo ich, auf der Suche nach dem Ende, das Schloss fertig lesen kann, das der Autor nicht fertig geschrieben hat.
